
Leben im Niemandsland
Die Wüste Negev ist die Heimat der Beduinen, doch viele ihrer
Siedlungen sind nicht anerkannt. Nun sollen sie in neu geschaffene
Planstädte umsiedeln.
von tanja dückers und anton landgraf
Südlich von
Beer Sheva, einer Stadt, deren helle Sandsteinarchitektur die Wüste
schon ästhetisch vorwegnimmt, beginnt der Negev. Schon nach wenigen
Kilometern führt ein holpriger Weg über kahle Hügel, auf denen in gemessenem
Abstand voneinander einzelne Hütten und Zelte stehen. Wer jedoch
romantisch-folkloristische Erwartungen an ein Beduinendorf gehegt hat, wird
enttäuscht: Die Hütten und Zelte sind notdürftig aus schwarzen Plastikplanen
und Zinkgerüsten zusammengebastelt. Andere Baumaterialien, die eine weniger
temporäre Behausung ermöglichen, erlaubt der Staat nicht, denn diese
Siedlungen sind »nicht anerkannt«.
Den Besucher erwarten keine weißen Zelte, vor denen Kamele
grasen. Hier liegt Müll herum, ausgezehrte Hunde schnüffeln an alten
Benzintonnen. Ein alter, erblindeter Mann humpelt in seine Hütte, braut sich
auf glühenden Kohlen einen Kaffee und trinkt schweigend. Dass man von ihm
ein Foto macht, möchte er nicht. Vom Zelt aus blickt man auf eine
Chemiefabrik, nicht auf einen weiten Wüstenhorizont mit malerischen Dünen.
Die zahllosen Strommäste zerschneiden den Himmel, und nachts erfüllt ein
scheußlicher Gestank die Luft. Ein paar Kilometer weiter befindet sich das
größte Gefängnis Israels, in dem unter anderem der Mörder von Yzhak Rabin
einsitzt.
Die staatlichen Institutionen kümmern sich wenig um die
Belange der etwa 76 000 Beduinen, die in diesem Niemandsland leben. Ihre
Infrastruktur ist katastrophal. Es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser
und keine Müllentsorgung. Im Sommer steigen die Temperaturen in den Hütten
auf über 50 Grad.
Da die Siedlungen vom Staat nicht anerkannt sind, darf
auch kein festes Baumaterial verwendet werden. Daher sieht man auch keine
Moscheen – anders als zum Beispiel in Rahat, der Hauptstadt der Beduinen im
Negev. Amer Abuhani, ein sportlich-nüchtern wirkender junger Mann, der für
das Regional Council for the Unrecognized Villages tätig ist und
überraschenderweise perfekt deutsch spricht, meint, dass die Religiosität in
den letzten Jahren stark zugenommen habe. »Bis in die achtziger Jahre waren
nicht einmal die Freitagsgebete gut besucht«, erzählt er. »Heute aber
bezeichnen sich viele als religiös.« Den Grund dafür sieht Amer in den
rapiden Veränderungen, denen die Beduinen ausgesetzt sind: Die erzwungene
Aufgabe ihrer nichtsesshaften Lebensweise sowie die Anforderungen an ein
modernes urbanes Leben haben zu einer großen Orientierungslosigkeit geführt.
»Die Menschen fühlen sich hier verloren. Die Religion ist meist keine
Überzeugung, sondern ein Lückenfüller.«
Die Regierung hat es bisher versäumt, die indigene
Bevölkerung stärker in die Pläne für die Nutzung des Negev einzubeziehen.
Stattdessen werden radikale Umsiedlungsprogramme vollzogen, ohne dass
Gespräche mit gewählten Interessenvertretern der Beduinen stattgefunden
haben. Ein Teil der Behausungen ist schon abgerissen worden. Jeden Monat
fallen weitere Hütten und Zelte den Bulldozern zum Opfer.
Die Regierung befürchtet die demographische Entwicklung,
die zu politischen und territorialen Ansprüchen führen könnte. Im
vergangenen Jahr verabschiedete sie einen neuen Entwicklungsplan. Demnach
werden 45 arabische Dörfer in sieben Planstädte zusammengefasst. Die
»maximale Zahl von Beduinen soll auf einem minimalen Gebiet leben«, wie Amer
meint. An Stelle der Dörfer will die Regierung 14 neue jüdische Siedlungen
gründen.
Auch die Situation der bereits umgesiedelten Beduinen ist
nicht wesentlich besser, der Lebensstandard liegt weit unter dem
Landesdurchschnitt. Die israelischen Medien bringen die Bewohner in erster
Linie mit Kriminalität und Drogenhandel in Verbindung. Entsprechend schlecht
ist das Image der Beduinen.
Den Palästinensern fühlt man sich hier wesentlich näher,
unter anderem weil man sich ebenso wie sie in unterlegener Position sieht.
»Die Beduinen besitzen zwar die israelische Staatsbürgerschaft, von vielen
werden sie aber als ein Teil des Feindes betrachtet«, sagt Amer. »Damit sie
sich mehr mit dem israelischen Staat identifizieren, müsste dieser viel mehr
für sie tun.«
Während des Unabhängigkeitskrieges 1948 flohen die meisten
Nomaden aus der Negev in die benachbarten Länder. Wer blieb, erhielt zwar
die Staatsbürgerschaft, doch nicht alle damit verbundenen Rechte. Wegen
ihrer arabischen Herkunft haftet ihnen der Makel an, eine potenzielle Gefahr
darzustellen. Dabei besitzt der arabische Nationalismus für die Beduinen
wegen ihrer eigentlich transnational-nomadischen Lebensweise wenig
Attraktivität. Sie konservieren eher die traditionelle Sozialstruktur – mit
allen Nachteilen, vor allem für die Frauen. Diese haben häufig keine
Ausbildung, sind für Kindererziehung und Haushalt zuständig und besitzen
kaum Möglichkeiten, ein Leben außerhalb des Dorfes zu führen. Die erste
beduinische Frauenrechtsorganisation ist jedoch schon gegründet: Sidreh
versucht, den Frauen ökonomische Sicherheit zu geben, und hilft bei dem
Verkauf selbst gefertigter Waren. Darüber hinaus bietet die Organisation
Weiterbildungsmaßnahmen und soziale Aktivitäten an.
Allen voran setzt sich die junge Ben Gurion University of
the Negev für einen Ausweg aus der katastrophalen Lage ein. Nur wenige
Kilometer von den Elendssiedlungen entfernt, befindet sich der moderne
Campus mit seiner ausgesprochen kühnen und mondänen Architektur. Gezielt
sucht die Universität, beduinische Studenten auszubilden, um dadurch den
Einfluss auf staatliche Institutionen und Entscheidungsprozesse zu fördern.
Den sozialen Auftrag nimmt die Universität sehr ernst: Wer
Sozialwissenschaften studiert, muss in der Region ein Praktikum bei den
Wüstenbewohnern absolvieren.
Professor Frank Stern von der Ben-Gurion-Universität
spricht schon von einem langsamen Wandel in der beduinischen Bevölkerung
Israels. »Die ersten Generationen nach der Staatsgründung mussten erst die
wirtschaftliche Grundlage schaffen, die jetzige Generation beginnt mit dem
Studium. Die Akkulturation ist vielleicht mit den Türken der dritten
Generation in Berlin zu vergleichen, die jetzt im öffentlichen Leben präsent
sind«, erklärt Stern. Die Universität legt großen Wert darauf, Kultur und
Sprache arabischer und jüdischer Israelis gleichberechtigt in das Studium zu
integrieren.
Junge Leute wie Amer sind ein Beispiel für diese gebildete
mehrsprachige und selbstbewusste Generation, die in der Lage ist, sich mit
der Staatsbürokratie auseinander zu setzen und sich für die eigenen Rechte
einzusetzen. Frank Stern berichtet stolz von der ersten Beduinen aus dem
Negev, die einen Abschluss in Medizin vorweisen kann, und einem Doktoranden,
der jeden Tag aus dem Zelt eines nicht anerkannten Dorfs an die Uni kommt.
Vor allem für gebildete Beduininnen ändert sich viel. Nach
dem Studium bekommen viele von ihnen mit ihren traditionell ausgerichteten
Familien neue Probleme; es kann schwierig für sie werden, einen Mann zu
finden. Dennoch wächst das Interesse an höherer Bildung: Während vor sieben
Jahren etwa hundert Beduinen an der Ben-Gurion-Universität studierten, waren
es im vergangenen Jahr bereits mehr als sechs Mal so viel. Und der Anteil
der Frauen hat stets zugenommen.
Tanja Dückers ist Schriftstellerin und hat die
Redaktion auf der Reise begleitet.
Reise nach Jerusalem:
Die Jungle
World in Israel
Die Idee der mobilen Redaktion ist es, mit der Verlegung des
Produktionsortes zugleich die Perspektive zu wechseln. "Inland" wird
"Ausland" und umgekehrt. Die Sondernummer will Theorie, Kultur, Ästhetik und
Politik aus Israel hierzulande bekannt machen...
hagalil.com
01-07-2004 |