Stachlige Früchte
Zum zehnten Mal findet das Jewish Film Festival Berlin statt. Aber was
ist überhaupt ein jüdischer Film?
Von Felice Wonnenberg
"Wir ziehen die ausländischen Filme vor", sagt Nicola
Galliner, die das Jewish Film Festival Berlin seit zehn Jahren leitet.
"Deutsche Filme haben ganz andere Möglichkeiten hier im Land, wir holen
Filme nach Deutschland, die man sonst hier nicht sieht."
Das Filmfestival, das am 6. Juni im Kino Arsenal am
Potsdamer Platz mit dem Untertitel »Wahlverwandschaften –
Qualverwandschaften« begann und noch bis zum 17. Juni läuft, soll es möglich
machen, dass man »die Vielfältigkeit des jüdischen Lebens überall ein
bisschen kennen lernt«, sagt Galliner. Auf eine cineastische
Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Gegenwart muss man hier also
verzichten, deutsche Beiträge gibt es nicht im Festivalprogramm. Dafür darf
aber, wie Galliner anmerkt, »über den Tellerrand geschaut« werden, denn die
23 Filme kommen aus neun verschiedenen Ländern.
Es gibt also jüdische Filme aus aller Welt zu sehen. Aber
was ist das überhaupt, ein jüdischer Film? »Wir stellen eine Festschrift
zusammen, in der ca. zehn verschiedene Leute diese Frage beantworten, und
nicht einmal zwei sind sich einig, was ein jüdischer Film ist«, erzählt
Galliner. »Hannes Stein von der Zeitung Die Welt hat das sehr schön gesagt:
›Es geht um eine Minorität, die auch über sich selber lachen kann.‹«
Außerdem sei das, »was nach den Filmen passsiert, bei den Fragen, sehr
spannend«, denn die Reaktionen des Publikums seien sehr unterschiedlich.
Obwohl das Festival auch ein sozialer Höhepunkt des
jüdischen Gemeindelebens ist, ist das Publikum sehr gemischt: Juden,
Nichtjuden, junge und alte Menschen kommen, um jüdische Filme zu sehen. Dem
versucht das Festival, das zum Angebot der Jüdischen Volkshochschule gehört,
gerecht zu werden. Aus Anlass des zehnjährigen Jubiläums werden auch die
besten Filme der vergangenen Festivals zu sehen sein. Und auch die
(jüdischen) Themen der Filme sind weit gefasst.
Im Film »Strange Fruit« von Joel Katz werden gleich
mehrere Themenkomplexe miteinander verknüpft. Abel Meeropol, ein jüdischer
Oberschullehrer und Gewerkschafter aus der New Yorker Bronx schrieb 1939
unter dem Eindruck der schockierenden Bilder von Lynchmorden an Schwarzen in
den Südstaaten ein Lied, das die Sängerin Billie Holiday berühmt machen
sollte: »Strange Fruit«. Später adoptierten Abel Meeropol und seine Frau
Anne die Kinder von Ethel und Julius Rosenberg, die wegen angeblichen
Geheimnisverrats an die Sowjetunion 1953 in den USA hingerichtet wurden.
»Strange Fruit« ist ein gut gebauter Dokumentarfilm, der den schweren Weg
der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und ihrer Sympathisanten nachzeichnet.
Den Lebensweg eines Unbekannten versucht David Ofek in
seinem Film »No 17« nachzuspüren. »No 17« ist der Name, den das Filmteam dem
nicht identifizierten 17. Opfer eines Bombenattentates auf einen Bus in
Israel gab. Wenn in einem so kleinen Land wie Israel niemand den Verlust
eines Menschen anzeigt, liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei dem Opfer
um einen »illegal« im Land Lebenden gehandelt hat. So nimmt Ofek die
Zuschauer mit auf eine filmische Reise durch die untersten Schichten der
israelischen Gesellschaft. In sechsmonatiger filmischer Recherche gelingt es
schließlich, dem anonym Bestatteten sein Gesicht und seine Identität
zurückzugeben.
Auf Identitätsuche begaben sich auch die Regisseure der 31
israelischen Kurzfilme, die auf Initiative des Jerusalemer Filmfestivals
entstanden. In drei- bis vierminütigen Beiträgen äußern sie sich zur
momentanen Situation im Lande. Im Programm »Moments / I have a dream« gibt
es Dokumentarfilme, Satiren, persönliche Bekenntnisse, eine Vielfalt der
Genres, Stile und Haltungen zu entdecken.
Wer noch mehr über Israel aus israelischer und
palästinensicher Sicht erfahren will, kann sich »Shiva for my mother« von
Yael Katzir und »Behind enemy lines« von Dov Gil-Har anschauen. Der erste
Film ist ein sehr persönlicher Blick in das Wohnzimmer einer Familie, die
den Tod von Yael Katzirs Mutter betrauert. In den sieben Tagen des Gedenkens
an die Tote (daher der Titel: »schivah« von »schewah«, hebräisch: sieben)
erinnert sich die Regisseurin nicht nur an ihre verstorbene Mutter, sondern
entdeckt ihre eigene Identität, die von der zionistischen Erziehung stärker
geprägt wurde, als ihr lieb ist.
Am Anfang des Filmes klagt die Regisseurin ihre
verstorbene Mutter an, sie sei ihr gegenüber zu hart gewesen. Im Verlauf des
Filmes werfen die Kinder der Regisseurin ihr vor, selber zu hart gewesen zu
sein, genau wie ihre Mutter. Schließlich entdeckt die Filmemacherin die
verborgene Zärtlichkeit ihrer »Sabres-Mutter«; so nennen Israelis liebevoll
die im Lande Geborenen. Wie die Kaktusfrucht Sabres verbarg auch die Mutter
ihre Süße unter stachliger Haut.
Durch stachlige Oberflächen wollen sich auch der
palästinensische Journalist Adnan Joulani und der israelische
Polizeioffizier Benny Hernes im Film »Behind enemy lines« hindurchbeißen.
Die beiden bringen sich gegenseitig zu den Schauplätzen des
israelisch-palästinensischen Konflikts. An diesen Orten offenbaren sie
einander ihre Gefühle. Ihre politischen Standpunkte werden hier, an Ort und
Stelle, schonungslos einander gegenübergestellt.
Adnan führt Benny zu Bennys eigenem Haus. Er ist sich
sicher, dass das Haus des israelischen Freundes auf palästinensischem Grund
und Boden steht. »Zieh hier aus«, sagt Adnan zu Benny. »Du wohnst hier
illegal. Du bist ein Siedler.« Benny verweist jedoch auf ein israelisches
Gerichtsurteil, das das Gebiet als israelisch definiert. »Sobald mir jemand
beweist, dass ich hier illegal bin, ziehe ich sofort aus.«
Die beiden kommen zu keiner Einigung, aber immerhin sitzen
sie am Ende des Films gemeinsam bei einem Drink am Strand von Tel Aviv. In
der Schlussszene jubeln sie sich im Sonnenuntergang gegenseitig politische
Witze unter.
Auf Diskussionen darf sich auch der Besucher des Filmfests
freuen. Acht Regisseure und Produzenten werden in Berlin sein. Das Festival
bietet einen interessanten Querschnitt durch das jüdische Filmschaffen im
Ausland. Warum allerdings gerade das sich langsam wieder aufbauende jüdische
Leben in Deutschland keines Blickes wert sein soll, bleibt unverständlich.
- Sonntag, 13. Juni, 11 Uhr: »Moments Israel / I have
a dream«
- Sonnntag, 13. Juni, 17 Uhr: »No
17«; 19 Uhr: »Shiva for my mother«
- Montag, 14. Juni, 19 Uhr: »Strange Fruit«
- Dienstag, 15. Juni, 19 Uhr: »Behind enemy lines«
Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Kartenvorbestellung unter:
030 - 26 95 51 00, Mo–Fr 9 bis 23 Uhr
10. Jewish Film Festival Berlin 2004 /
10. Jüdisches Filmfestival Berlin 2004
Wahlverwandtschaften - Qualverwandtschaften
hagalil.com
21-06-2004 |