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György Konrád:
Eröffnungsrede zur Fotoausstellung Boris Carmi

Diese Rede wurde bei der Eröffnung der Ausstellung "Boris Carmi - Fotografien aus Israel am 14.Mai 2004 gehalten.
Die  Ausstellung von Alexandra Nocke (Kuratorin) ist bis zum 27. Juni 2004 in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin-Tiergarten zu sehen.

Augen, vieles wissende, sprechende Augen, sehen hinter dem, was sie sehen, auch noch etwas anderes. Sie blicken in die Vergangenheit, dort verharren sie und sehnen sich danach zurück, was nicht mehr vorhanden ist, nach einem Ort, der anderswo ist. Aber wohin sollten sie von hier aus gehen?

Es kommt ein Lehrer oder ein Wissenschaftler mit seiner Familie daher: dunkelgrauer Anzug, Krawatte, heller Hut, um ihn herum Wüste, staubige Wege, er sieht nach vorn. Ein Einwanderer mit markanten Gesichtszügen in seinem neuen Zuhause schaut vor sich hin; im Hintergrund schwirrt es geschäftig umher. Die aus Afrika kommende junge Frau, die den Säugling an sich drückt, hat vielleicht niemanden und nichts auf der Welt als dieses Baby. Der Fremdling mit Krawatte und Stoppelbart blickt in die öde Welt. Realistische Blicke – nun ja, so ist das eben – sie geben sich Rechenschaft über die neue Wirklichkeit. Nur dieses neue Zusammengehörigkeitsgefühl gibt es, darin müssen diese Menschen ihr Zuhause finden. Doch das kleine Land ist auch ein buntes Abenteuer; so viele verschiedenartige Menschen, komisch, daß das Judentum so vielfarbig ist wie die Menschheit selbst. Die Frau aus dem Jemen hockt vor dem verputzten Backofen, versinkt, während sie in alten und schäbigen Töpfen kocht, in ihrer eigenen Welt. Viel Resignation oder einfacher ausgedrückt Traurigkeit in den Augen.

Denn auch in den von Schönheit leuchtenden Augen lauert die Kenntnis der Dunkelheit. Eine rauhe Gegend, primitive Gegenstände, die Menschen sind nicht verwöhnt, vom Lastwagen laden sie ihre ärmlichen Habseligkeiten ab, auf der Seite gaffen die Kinder. Dann stellt sich die Idylle ein; eine orientalische Familie sitzt zusammen auf der Steinterrasse. Das entspricht ihrer Eleganz in jedem anderen nahöstlichen Land, und auch in die Kamera würden sie so und nicht anders schauen, während sie auf das leise Klicken warten.

Auf dem Tisch Brot, ein Krug, Gläser. Der aus russisch-deutschen Landen stammende Boris Winograd, der in Israel den Namen Carmi angenommen hat (die Anspielung auf den Wein des Berges Carmel liegt auf der Hand), beäugt die aus Nordafrika Gekommenen: den auf der Erde kauernden jemenitischen Juwelier, den Gewürzkrämer vom See Genezareth, die sich vor dem Tor mit ihren Kinderwagen versammelnden Mütter, das kleine Mädchen und den kleinen Jungen, die in Zeiten des Mangels und des Bezugscheinsystems zugeteilte rundliche Brote an die Brust pressen.

Schwarz gekleidete Beduinenfrauen und schwarze Schafe am Fuße weißer Blockhäuser. Wenig Schatten, wenige Bäume, kurze Hosen, verwitterte, braune Gesichter.

Reife Männer beugen sich in der Kneipe über ein Würfelspiel. Drohend, jedoch scherzhaft hebt der eine den Zeigefinger in die Höhe. Neben den Bitumenfässern erheben sich die teerverschmierten Straßenbauarbeiter, deren Oberkörper entblößt sind, artig, um sich vor der Kamera aufzustellen. Schöne Mädchen liegen an einem flachen Hügel im Gras, hüten die Rinderherde des Kibbuz. Ärmliche Lebensbilder aus den fünfziger, sechziger Jahren; der Krämerladen fungiert zugleich als Kneipe. Von daheim aus Ungarn und aus Osteuropa oder vom Balkan bekannte Gesichter, Schauplätze, Lebensbilder. Diese Menschen sind wie alle anderen. Aber daß sie Juden wären? Natürlich sind sie es nicht alle; vor dem Laden der Beduine im langen, weißen Burnus, der gerade sein Pferd losbindet, ist wahrscheinlich kein Jude, doch der zur Militärparade auf einem Kamel sitzende Soldat ist vermutlich einer. Es ist zweifelhaft, ob ich einen israelischen Araber mit bloßem Auge von einem Juden unterscheiden könnte, der aus einem arabischen Land stammt. Und das aus einer aschkenasisch-sephardischen Mischehe hervorgegangene Kind? In welcher Weise sollen wir dieses klassifizieren? Vielleicht sollten wir es gar nicht klassifizieren. Es sollte besser eines Tages selbst darüber nachdenken. Es ist gekommen, und nun ist es hier. Von Reichtum und Luxus ist noch keine Spur, nur das notwendigste und was sich ergibt, die Freuden kleiner Leute, keinerlei Prahlerei.

Ein Bauer mit knochigem Gesicht schneidet Brot, durch das Fenster sieht man zwei Hütten und eine Kuh. Der Platz ist begrenzt. Sechshunderttausend Menschen nehmen neunhunderttausend in einem Zeltlager auf. Sie müssen kommen, weil sie aus Nordafrika, aus arabischen und islamischen Ländern des Nahen Ostens als Vergeltung für die Gründung des Staates Israel vertrieben wurden. Von hier und von dort vertreibt die Angst diese Menschen. Ein kleines Fertighaus ist schon das Paradies in diesem aus der Armut geborenen Land, in dem Menschen Zuflucht suchen, deren Augen schon so vieles gesehen haben. Auch die Soldaten haben etwas zu erzählen, auch die schönen Frauen vom Atlasgebirge, aus Marokko, aus mehr als hundert Ländern. Europa, Asien und Afrika haben diese Menschen verlassen müssen. Sie sehen den Mitmenschen mit anderen Augen an, sie wissen etwas von ihm – etwas, das der Ankömmling aus Übersee nicht weiß.

Der von weit Hergekommene ist nun hier und muß diesen Ort als seine Heimat begreifen, muß sich mit den vielen und eigenartige Sprachen sprechenden Menschen verständigen, zusammen mit ihnen eine Waffe in die Hand nehmen, weil ein neugegründetes Land plötzlich von Armeen aus fünf Staaten angegriffen wird. Daß es dennoch den Sieg davonträgt, ist beachtlich.

Viele Einwanderer sind arm. Sie geben sich mit Essen zufrieden, das in einem primitiven Schnellkochverfahren zubereitet worden ist, sie essen, was sie auf Lebensmittelkarten erhalten, sie können verzichten, und wenn es der Kampf mit sich bringt, können sie auch sterben. Aber sie wollen nicht in einem Land leben, in dem man ihnen einzig deshalb etwas antun und sie beschämen kann, weil sie Juden sind. Fischer, Bauern, Straßenbauarbeiter, Araber, Drusen und so viele verschiedenartige Juden – von Ost und West sind sie gekommen. Den ganzen Erdkreis haben sie zusammengebracht. Sie diskutieren und kämpfen miteinander. Aber sie haben auch voneinander gelernt, und sie haben die Verfassung und Disziplin einer Demokratie auf sich genommen. Die aus den arabischen Ländern Kommenden sind wie Araber, die aus Europa Kommenden sind wie Europäer. Nun entsteht eine Nation von Menschen, die mit ihrer Anpassung an andere Nationen – gelegentlich tödliche – Schwierigkeiten gehabt haben. Und dann wird alles so sein wie in der normalen westlichen Welt von heute. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß man im Bus, in dem auch junge Männer und Frauen, Soldaten und Soldatinnen, mit umgehängten Maschinenpistolen fahren, in die Luft gesprengt werden kann. Ein gewohnter Anblick: Ein bewaffneter Riese begleitet eine winzige Großmama. Ein junger Mann, vielleicht ein Soldat, sitzt auf der Erde, bewacht offensichtlich etwas, neben ihm im Gras seine Maschinenpistole, hinter ihm verschiedene Wegweiser, deren Emaille abgeplatzt ist, vielleicht einen Treffer abbekommen hat. Die eine Richtung: Grenze, Gefahr! Doch die Augen des Jünglings haben absolut nichts Bedrohliches an sich. Eher schon wirken sie lustig. Eine Stadt wird geboren, auf der Promenade am Meeresstrand drängt sich abends das Volk, wie auch anderswo am Mittelmeer. Nach Sonnenuntergang kann man auf den Promenadenbänken am Meer einen Sitzplatz finden und das Brechen der Wellen beobachten.

Es gibt Wunderkarossen und elegante Damen, es gibt Husaren auf Pferden und Kamelen, es gibt an der Wäscheleine im Wind flatternde Kleider, es gibt beachtenswerte Gebäude, Straßenhändler, im Winter durch das Wasser stapfende? Fußgänger, arabische Frauen mit Lasten auf dem Kopf, einen nachdenklichen schmächtigen, alten Juden auf einem Eselskarren, es gibt den Straßenfotografen und den Unterrockhändler, der seine durchsichtige Ware über den Köpfen der Passanten schwenken läßt, und es gibt Fischer, die sich an den Blechtischen in der Kneipe eine Zigarette anstecken, außerdem gibt es auch noch Denker mit schütteren Bärten – eine wirklich merkwürdige Komposition diese verschiedenen Menschen, die alle zusammen schon eine Nation bilden. Sie haben sich entsprechend der Überlegung eines Wiener ungarischen Journalisten im Land der Bibel versammelt, in einem Land, das – wenn auch nicht dicht, so aber doch – besiedelt gewesen ist. Weder Martin Buber, der alte Philosoph, noch Golda Meir, die Ministerpräsidentin, wirken fröhlich auf dem Bild. Sie sind gezwungen, sich mit dem Dilemma des Seins oder Nicht-Seins auseinanderzusetzen. Als sich ein israelischer Räuber fand, soll Martin Buber angeblich erleichtert geseufzt haben, endlich seien auch wir ein normales Volk. Gern betrachte ich diese Welt mit Boris Carmis Augen. Er mochte ein einfacher Mensch gewesen sein, er nahm die einfachen Menschen wahr. Er mochte ein guter Mensch gewesen sein, er nahm die guten Menschen wahr. Ein Land von Zivilisten. Eine zivile Atmosphäre verbreitet auch jenes Bild, auf dem der alte Regierungschef Ben Gurion von seinen Lieblingsgenerälen umringt ist, aus denen später Ministerpräsident und Staatspräsident geworden sind. Von Anfang an kennen sie sich, keinerlei Krampf zwischen ihnen, sie lächeln den Alten an, dessen weißes Haar vom Wind des Hubschraubers zerzaust wird. Autorität geht von der Persönlichkeit aus. Der Rang kommt erst an zweiter Stelle. Carmi war dort, mochte dort gewesen sein, das war seine Sache. Die Großen sehen sich an, und aus der Fülle von Augenblicken vermochte er denjenigen auszuwählen, in dem die Gesichter belebt und vielsagend werden. Er war zur Stelle und paßte jene Sekunden ab, die eine ganze Lebensgeschichte in sich fassen. Er spürte, wann der rechte Moment gekommen war. Der Künstler lebte das bescheidene, jedoch bewegte Leben eines Fotoreporters, eines Pressefotografen an der Seite der Soldaten, der geduldig auf die entsprechenden erfüllten Momente wartete.

Carmi sah nicht nur die von überallher nach Israel Flüchtenden, sondern auch die Flüchtlinge vor den israelischen Waffenträgern. Er beobachtete die aufblickenden oder vor sich hinstarrenden Gesichter. Würden wir sie befragen, wüßten sie, wovon sie zu erzählen hätten. Auch wenn sie spielen, trauern sie.
Ich lese im Carmi-Porträt des Schriftstellers Yoram Kaniuk, der alte Künstler habe am Zustandekommen der Berliner Ausstellung gezweifelt, obschon er große Hoffnungen darauf gesetzt habe. Und gewiß wäre er stolz gewesen, hätte er die Eröffnung erleben können. Mit dem Vergehen der Zeit schien er recht zu behalten – und auch nicht. Die Ausstellung, siehe da, ist zustandegekommen, Boris Carmi allerdings ist im vergangenen Winter gestorben, wie die verliebten alten Männer, die das Witwerdasein oft nur kurze Zeit ertragen und der Ehefrau alsbald in den Tod folgen.

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke

Entwurzelung, Flucht, Vertreibung, Neuanfang:
Fotografien von Boris Carmi in der "Akademie der Künste"

 

Begleitend zur Ausstellung erscheint das Katalogbuch:

Alexandra Nocke (Hrsg.):
Boris Carmi – Photographs from Israel,
Prestel Verlag 2004
Euro 29,95

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Veranstaltungen der "Akademie der Künste" in Berlin im Rahmen der Ausstellung:

  • "POST INS GELOBTE LAND"
    Lesung
    2.6.2004
    Hanseatenweg 10

    Anna Seghers erzählt die Geschichte einer polnisch-jüdischen Familie, die nach einem Pogrom über Wien und Kattowitz nach Paris emigriert und dort zu bürgerlichem Wohlstand kommt. Nach vielen Jahren wandert der alte Vater noch einmal aus - nach Palästina, seinem Traumziel - und der inzwischen sterbenskranke Sohn versorgt über seinen Tod hinaus den Vater bis zu dessen Lebensende mit "Post ins Gelobte Land".
    Die Erzählung wird gelesen von Ulrich Matthes und Lena Stolze.

  • ZEITZEUGEN
    Gespräch
    3.6.2004
    Hanseatenweg 10

    In seinem autobiografischen Buch "Der Sohn des Rabbiners" erzählt der Komponist Josef Tal in der für ihn charakteristisch launig-luziden Weise aus seinen Erinnerungen: an die Kindheit und Jugend in Berlin, die Phase der Emigration nach Palästina, sein Engagement beim Aufbau des Musiklebens im jungen israelischen Staat. Wie Boris Carmi mit der Kamera, so hielt Josef Tal seine Erlebnisse im Wort fest. Beide dokumentieren die schwierigen Anfangsjahre Israels, das zur neuen Heimat wurde. Für Boris Carmi sprechen die Fotos der Ausstellung; Josef Tal wird im Gespräch mit Alexandra Nocke, der Ausstellungskuratorin, von den Lebensumständen, seinen Eindrücken und Erfahrungen berichten.

hagalil.com 17-05-2004

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