Europas neuer Antisemitismus:
Eigenes Leiden rechtfertigt nichts
Lettlands Vertreterin bei der
Leipziger Buchmesse hat lettisches Leiden zur Beugung historischer
Wahrheiten missbraucht. Das ist skandalös
Von Micha Brumlik
Der Skandal, den Salomon Korn, der
stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in
Deutschland, mit dem vorzeitigen Verlassen der
Eröffnungsveranstaltung der Leipziger Buchmesse auslöste, hat sich
als Sturm im Wasserglas erwiesen. Das ist bedauerlich, denn der
Vorgang liefert Stoff für eine Neujustierung des deutschen
Geschichtsbildes im Zeichen der europäischen Einigung.
Es waren die folgenden Sätze der ehemaligen
Außenministerin Sandra Kalniete, einer 1952 geborenen
Kunsthistorikerin, die Korn aus dem Saal trieben:
"Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhielten
die Forscher einen Zugang zu den archivierten Dokumenten und
Lebensgeschichten dieser Opfer. Diese belegen, dass beide totalitäre
Regime - Nazismus und Kommunismus - gleich kriminell waren. Es darf
niemals eine Unterscheidung zwischen ihnen geben, nur weil eine
Seite auf der Seite der Sieger gestanden hat."
War es der Inhalt dieser Sätze, der zum Protest
provozierte? Steht also 2004 noch einmal, wie bereits während des
"Historikerstreits" der Achtzigerjahre - vor dem Fall der Berliner
Mauer -, die weltgeschichtliche Singularität der NS-Verbrechen und
damit eine Apologie des nationalsozialistischen Deutschland auf der
Tagesordnung? Über die Schwierigkeiten, historischen Ereignissen
oder Prozessen Einzigartigkeit zuzuschreiben, ist in den vergangenen
Jahren viel geschrieben worden. Unabweisbar ist das Argument, dass
jede Einzigartigkeitsbehauptung Vergleiche und deren Maßstäbe
voraussetzt.
Im Falle genozidaler Massenverbrechen wird man dann
Kriterien wie Quantität, Absicht, besondere Grausamkeit und
ähnliches anlegen, aber auch die Befindlichkeit jener
Gesellschaften, aus denen heraus solche Verbrechen begangen wurden.
Dann leuchtet ein, dass man an eine entfaltete bürgerliche,
kultivierte Gesellschaft wie die - zugegebenermaßen
krisengeschüttelte - Gesellschaft der Weimarer Republik strengere
Maßstäbe anlegen wird als etwa an die des durch den Vietnamkrieg
zerstörten Kambodscha.
Die besondere Grausamkeit genozidaler Handlungen aus
der Perspektive der Opfer zu beleuchten ist durchaus möglich, aber
besonders heikel. Hierzu bedürfte es einer noch nicht
ausgearbeiteten ethisch begründeten Kasuistik gewaltsamen Tötens und
Sterbens. So dürfte der Tod im Feuersturm eines Flächenbombardements
denn doch weniger entwürdigend sein als eine der Vergasung
vorhergehende monatelange Lagerhaft, in der Menschen zu Nummern
stigmatisiert wurden. Aber war der Tod in der Gaskammer noch
entwürdigender als jener Tod, den die Roten Khmer einem Teil ihrer
Opfer zudachten: sie nach wochenlanger Zwangsarbeit auf den "Killing
Fields" mit Plastiktüten zu ersticken? Diese Fragen zu beantworten
ist zwar zu einer vernünftigen, das heißt an der Würde und den
Rechten des Menschen orientierten Geschichtsbetrachtung
unerlässlich, trifft aber gar nicht den Kern dessen, worum es in
Leipzig ging. Hier ging es um etwas sehr viel Schlichteres, nämlich
um politische Wahrhaftigkeit.
Der Sinn von Korns Protest wird erst bei einem
näheren Blick auf die Geschichte des 1918 unabhängig gewordenen
Lettland verständlich. In den Zwanzigerjahren zählte Lettland, seit
1934 von einem rechtsautoritären Diktator regiert, etwa zwei
Millionen ethnisch unterschiedliche Einwohner, darunter 12 Prozent
Russen, 3 Prozent Deutsche und 4,5 Prozent Juden. Nach dem
Hitler-Stalin-Pakt annektierte die Sowjetunion Lettland und
deportierte - mit Unterstützung lettischer Kommunisten - bis zum
Einmarsch der nationalsozialistischen Wehrmacht etwa 20.000
Menschen, darunter einen großen Teil der lettischen Intelligenz -
ein Drittel davon übrigens Juden.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion, unter
deutscher Herrschaft, wurden dann so gut wie alle verbliebenen Juden
Lettlands, etwa achtzigtausend Menschen, ermordet. Weniger als
fünfhundert überlebten die Massenvernichtung. Zudem deportierte die
SS, weil Lettland ein ebenso günstiger Tötungsort zu sein schien wie
Teile Polens, zwanzigtausend Juden aus Deutschland, Österreich und
der Tschechoslowakei erst nach Salaspils, Dünamünde und später
Kaiserwald; von den dorthin deportierten Juden überlebten etwa
achthundert Menschen.
Das mörderische Werk etwa der Einsatzgruppe 2C unter
Obersturmbannführer Dr. Lange oder dessen Vertreter Gerhard Maywald
wurde durch enthusiastische Angehörige der lettischen Polizei -
insgesamt 30.000 Männer - nicht nur in Lettland unterstützt. 1943
wurde dann die "Lettische Legion" genannte "15.
Waffen-Grenadier-Division der SS (Die Lettische Nr. 1)" gegründet.
Berüchtigt wurde die nach ihrem Anführer so benannte Arajsbrigade.
Victor Arajs setzte später eine Synagoge vor Moskauer in Brand,
wobei hunderte von Menschen qualvoll umkamen. Arajs lebte
unbehelligt bis 1975 in Deutschland und starb 1988 im Gefängnis.
Die aktuelle geschichtspolitische Debatte in Lettland
zielt darauf ab, die Tätigkeit der lettischen Hilfspolizei und der
annähernd 100.000 Mitglieder der "Lettischen Legion" - die sich nur
zum kleineren Teil freiwillig gemeldet hatten - als verständliche
und entschuldbare Aktivität im Kampf um die nationale Unabhängigkeit
gegen die Sowjetunion zu betrachten. 1998 - Kalniete war seit fünf
Jahren stellvertretende Außenministerin - erklärte das dortige
Parlament den 16. März zum "Tag des Soldaten". An ebendiesem Datum
war 1943 die "Legion" gegründet worden. Ein großes, offizielles
Denkmal für die lettischen Hilfstruppen der Nationalsozialisten
erregt seither weltweit die Öffentlichkeit. Bei alledem steckt die
Erforschung der lettischen Kollaboration beim Holocaust trotz erster
Monografien noch in den Anfängen.
Kalnietes Rede war deshalb skandalös, weil sie - als
lettische Repräsentantin - unter Ausblendung historischer Tatsachen
und offener Fragen allein das Leiden artikulierte, das den Letten
durch die sowjetische und nationalsozialistische Okkupation
widerfuhr - aber den Umstand verschwieg, dass viele Letten an der
Deportation ihrer Intelligenz im Stalinismus ebenso beteiligt waren
wie am Holocaust. Zudem erwähnte sie die Tatsache, dass viele Letten
ihre nationale Freiheit offenbar nur im Rahmen eines
nationalsozialistisch beherrschten Europa für möglich hielten, mit
keinem Ton.
Es geht bei alledem also weder um die Angemessenheit
der Totalitarismustheorie, die in ihren moralischen Intentionen
meist ebenso Recht hat, wie sie als sozialwissenschaftliche Theorie
versagt, noch darum, die genozidalen Verbrechen des Stalinismus, ja
die der kommunistischen Bewegungen von 1917 bis 1989 und später zu
verschweigen - im Gegenteil. Worum es aber sehr wohl gehen muss, ist
das Prinzip, die Artikulation "eigenen" Leidens nicht zur
Rechtfertigung von Untaten zu missbrauchen, die Angehörige der
eigenen Ethnie oder politischen Gruppe begangen haben.
Was ist Ihnen die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen uns, wenn
Sie diesen Betrag überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank Berlin
(BLZ 100 100 10), Konto-Nr. 39316-106
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
haGalil onLine
11-04-2004 |