"Überhaupt dieses Haus: jüdisches Altersheim,
Gestapo-Hauptquartier, amerikanische Militärregierung, russische
Kommandantur - das ist die Geschichte dieses Hauses, die Geschichte dieses
Landes, dieser Stadt."
(Rolf Kralovitz, Der gelbe Stern in Leipzig)
Das Ariowitsch-Haus:
Leipzigs Jüdisches Gemeindezentrum am 11. Mai vor
Gericht
Am 11. Mai 2004 soll vor Gericht über den weiteren Ausbau
des Ariowitsch-Hauses zum neuen Jüdischen Gemeindezentrum Leipzigs
verhandelt werden. Gegen das Bauvorhaben geklagt haben einige Nachbarn. Der
Bau des Gemeindezentrums soll verhindert werden. Seit der Einreichung der
Klagen liegen die Pläne für den Ausbau auf Eis, die schon für Oktober 2002
geplante Grundsteinlegung mußte entfallen.
Offener Brief
Sehr geehrte Damen und Herren,
Wir sind beunruhigt und verärgert über die Klagen gegen den Ausbau des
jüdischen Gemeindezentrums im
Ariowitsch-Haus. Mindestens genauso empörend finden wir aber auch
den öffentlichen Umgang damit. Besser sollten wir vielleicht sagen: den
Nicht-Umgang seitens der politisch Verantwortlichen und Repräsentanten des
öffentlichen Lebens der Stadt Leipzig.
Ende Januar löste die Berichterstattung der LVZ über die mittlerweile zwei
Jahre andauernden Verzögerungen beim Ausbau des Ariowitsch-Hauses
Diskussionen bei den Anwohner/innen des Waldstraßenviertels aus. Der
Bürgerverein Waldstraßenviertel entschloss sich zur wiederholten(!)
Vermittlung. Er kündigte für den 09.03.2004 eine Diskussionsveranstaltung
an, um unter dem unmöglichen Titel "Das neue Jüdische Gemeindezentrum -
Anlass zur Sorge oder neue Chance?" eine kontroverse Debatte zu führen.
Der Verein schießt mit dem Titel seiner Veranstaltung nicht nur am Ziel
völlig vorbei, sondern verweigert sich beharrlich, das Problem beim Namen zu
nennen. Er brüskiert die Israelitische Religionsgemeinde so in
ungeheuerlicher Weise. Anstatt dieser den Rücken zu stärken und öffentlich
die Rücknahme der Klagen einzufordern, wird so getan, als handele es sich
bei der Rückkehr jüdischen Lebens ins Waldstraßenviertel um einen
Diskussionsgegenstand, über den - je nach Wohlwollen der Anwohner/innen -
beschieden werden könnte.
Die Kläger/innen nehmen wissentlich den Baustopp für das Gemeindezentrum in
Kauf. Die Nutzer/innen des Gemeindezentrums als potenziell von Angriffen
Bedrohte werden als Sicherheitsrisiko bezeichnet. Damit stehen diese
tatsächlich, wie es bisher einzig der Pfarrer der Thomaskirche, Christian
Wolff in der an dieser Stelle wichtigen und notwendigen Schärfe kritisierte,
in der "trüben Tradition des Antisemitismus". Wenn wir heute wieder eine
Bedrohung für jüdische Einrichtungen konstatieren müssen, dann kann es nur
um die Motivation der Angreifer/innen - den Antisemitismus - und um dessen
Bekämpfung gehen!
Wir wissen um die aufgeschlossene Haltung des Bürgervereines gegenüber dem
jüdischen Zentrum und schätzen die Bemühungen des Fördervereins, die
Finanzierung sicherzustellen. Dennoch kritisieren wir die unentschlossen
wirkende Haltung in der öffentlichen Auseinandersetzung. Diese lässt, sowohl
gegenüber der Israelitischen Religionsgemeinde als auch gegenüber der Schuld
und historischen Verantwortung, die Leipzigs Bürger/innen seit der
Vernichtung jüdischen Lebens während des Nationalsozialismus tragen, sehr zu
wünschen übrig.
Ihre Aufgabe ist es, gegenüber den Bürger/innen in dieser Situation
eindeutig und öffentlich Stellung zu beziehen sowie der Israelitischen
Gemeinde beizustehen. Betonen Sie die Selbstverständlichkeit, die der Ausbau
des jüdischen Zentrums darzustellen hat. Fordern Sie öffentlich die
Kläger/innen zur Rücknahme der Klagen auf, damit die geplanten Baumaßnahmen
endlich beginnen können.
Im Baurecht ist keine Regelung für die Rückkehr jüdisches Lebens vorgesehen.
Deshalb ist es eine politische Entscheidung, ob der Ausbau des
Gemeindezentrums in absehbarer Zeit beginnen wird. Ebenso darf die
Finanzierung nicht davon abhängen, ob es dem Förderverein möglich ist,
Gelder zu akquirieren. Es ist einzig und allein eine Frage der
Prioritätensetzung, ob von Bund, Land und Stadt die noch fehlenden Gelder
zur Verfügung gestellt werden und damit die Rückkehr jüdischen Lebens
befördert oder behindert wird.
Wir fordern Sie hiermit auf, sich für die umgehende Bereitstellung der
fehlenden Gelder einzusetzen!
Letztendlich - hoffen wir - ist es auch in ihrem Interesse, sich dem Problem
des Antisemitismus zuzuwenden. Die Diskussionen um Studien und die
Ergebnisse von Tagungen, die allesamt eine Zunahme des Antisemitismus
feststellen, müssen ernst genommen werden. Es ist nachlässig und
verantwortungslos, wenn - wie derzeit in Leipzig bei Diskussionen um das
jüdische Zentrum - nicht von Antisemitismus geredet werden soll und die
Benennung antisemitischer Einstellungen als provokativ und unsensibel
abgetan wird.
Mit freundlichen Grüßen
Kerstin Becher
für das Bündnis gegen Antisemitismus
(Leipzig)
Dieser Offene Brief ging am 01.03.2004 zu Händen des
OBM Herrn Tiefensee, Herrn Regierungspräsidenten Steinbach, Herrn Pfarrer
Führer, Herrn Erich Loest, an die Leipziger Stadtratsfraktionen und
Parteistadtverbände, an den Förderverein Synagoge und Begegnungszentrum
e.V., den Bürgerverein Waldstraßenviertel e.V. und diverse
Medienvertreter/innen
hagalil.com
11-04-2004 |