Wolfgang Benz:
"Es gibt eine neue Judenfeindschaft"
Antisemitismus tritt in vielen Formen auf -
darunter die verdeckte Feindschaft gegen Juden im Alltagsgespräch
Interview: Detlef Rudel, AP
taz: Antisemitismus wird in der Öffentlichkeit
meist mit Rechtsextremismus in Verbindung gebracht. Trifft dies so
zu?
Wolfgang Benz: Das trifft zu, aber es ist nur die
halbe Wahrheit. Antisemitische Manifestationen wie
Friedhofsschändungen oder Attacken auf Personen gehen in der Regel
auf rechtsextreme Antisemiten zurück. Aber ein viel größeres Feld
ist der Alltags-Antisemitismus, also verdeckte Judenfeindschaft, die
sich im Alltagsgespräch äußert. Dazu muss man überhaupt nicht
rechtsextrem sein.
Von welchen Gruppen geht das aus?
Es geht quer durch alle Gruppen. Der Oberstudienrat
kann genauso Judenfeind sein wie der Maurermeister oder der
arbeitslose Hilfsarbeiter.
Dann ist das auch sicher nicht eine auf
Deutschland beschränkte Erscheinung?
Keineswegs. Antisemitismus ist wohl das älteste
soziale, politische, kulturelle Vorurteil, das wir kennen. Es ist so
ziemlich weltweit verbreitet. In Deutschland ist das Problem
übrigens gar nicht so alarmierend wie in manchen anderen Ländern.
Beispiel?
Osteuropa. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion,
aber auch in Polen gibt es einen virulenten Antisemitismus, der dort
salonfähiger ist als in Deutschland. In Frankreich, Belgien und den
Niederlanden gibt es einen anderen Antisemitismus. Er geht von
jungen islamischen Einwanderern aus Arabien und Nordafrika aus, die
sich vehement als Judenfeinde artikulieren.
Könnte man das nicht einfach auch als religiösen
Antagonismus bezeichnen?
Antisemitismus ist der Oberbegriff für jede Form von
Judenfeindschaft. Die älteste Form ist der religiös motivierte
Antijudaismus, der in unserer säkularisierten Gesellschaft keine
große Rolle spielt. Dann gibt es den so genannten modernen
Antisemitismus, das ist die pseudowissenschaftlich mit der
Rassenlehre argumentierende Judenfeindschaft, die von Hitler
praktiziert wurde. Die dritte Form ist der Antizionismus als
Kampfbegriff nicht nur gegen den Staat Israel, sondern fast immer
gegen die Juden als Kollektiv. Und es gibt viertens einen sekundären
Antisemitismus: Das ist eine neue Judenfeindschaft in Deutschland,
die nicht trotz, sondern wegen Auschwitz funktioniert, also eine
Abneigung gegen Juden, weil sie uns an deutsche Verbrechen erinnern,
weil Wiedergutmachungszahlungen geleistet wurden, weil sie uns daran
hindern, den Schlussstrich zu ziehen.
Wo ist die Grenze zwischen legitimer Israelkritik
und Antisemitismus?
Die legitime Israelkritik richtet sich gegen einzelne
politische Maßnahmen der derzeitigen israelischen Regierung und
kritisiert sie mit Argumenten, weil sie beispielsweise erkennbar
nicht zum Frieden führen können, weil sie die Gewaltspirale immer
wieder neu beschleunigen. Wenn aber die Israelkritik umschlägt in
eine Verallgemeinerung, die sagt, die Juden sind eben so - "Auge um
Auge, Zahn um Zahn" - und weil das Juden sind, benehmen sie sich so,
dann ist das keine Israelkritik mehr, sondern Antisemitismus.
Deutschland ist heute und morgen Gastgeber der
OSZE-Konferenz über Antisemitismus. Was kann eine solche Konferenz
leisten?
Diese Konferenz, auf der 55 Staaten vertreten sein
werden, kann nicht viel mehr leisten als eine feierliche
Verurteilung des Antisemitismus. An konkreten Schritten wird eine
solche Konferenz ziemlich wenig bewirken. Sie kann aber darauf
dringen, dass in den einzelnen Mitgliedsländern Aufklärung
verbessert werden soll, dass etwa weißrussische oder ukrainische
oder aserbaidschanische Schülerinnen und Schüler besser über
Antisemitismus und seine Folgen, die Völkermord sein können,
informiert werden.
Das ist nicht gerade eine überragende Funktion …
… aber eine wichtige. Sie sendet an gegenüber dem
Antisemitismus weniger aufgeklärte Länder wie Weißrussland,
Russland, die baltischen Länder und Polen ein Signal: Es gibt eine
Verabredung in Europa, die primitive Instrumentalisierungen von
Vorurteilen wie Antisemitismus ächtet - weil sie den Spielregeln
unserer zivilisierten europäischen Gesellschaft widersprechen.
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28-04-2004 |