Regionalparlamentswahlen in Frankreich:
Neue Wahlerfolge der extremen Rechten in Sicht?
Reportage von der Abschlussveranstaltung des Front
National im Pariser Wahlkampf
Von Bernhard Schmid, Paris Wird
die extreme Rechte zu den großen Gewinnern der frankreichweiten
Regionalparlamentswahlen gehören, deren erster Wahlgang am kommenden Sonntag
stattfindet? Fast alle Beobachter gehen davon aus, und einige halten es
sogar für möglich, dass der Front National (im landesweiten Durchschnitt) in
die Nähe der Zwanzig-Prozent-Marke rückt. In den Vorwahl-Umfragen, in denen
die rechtsextreme Partei meist zu niedrig angesetzt ist, fand der FN sich
Mitte März bei 16 Prozent mit steigender Tendenz seit mehreren Wochen.
Andere Zahlen, die am späten Nachmittag des 17. März durch
die Pariser Abendzeitung "Le Monde" veröffentlicht wurden, lauten: 11
Prozent erklären, sie seien "sicher", für die Lepenisten zu stimmen, und
weitere 7 Prozent halten dies "für sicher, aber wir könnten unsere Meinung
noch ändern". Das ergibt zusammen schon 18 Prozent. Und weitere 8 Prozent,
die voraussichtlich nicht für den FN stimmen werden, könnten "(ihre) Meinung
noch ändern".
Abschluss-Veranstaltung des Front National im Wahlkampf
(Dienstag, 16. März), vor Beginn |
Am Dienstag Abend dieser Woche schloss der
Front National seinen Wahlkampf in der Region Ile-de-France, welche die
Hauptstadt Paris und ihr weiteres Umland umfasst, mit einem Meeting in der
Salle Equinox an der südwestlichen Stadtgrenze ab. Daran nahmen rund 2.000
Parteigänger und Sympathisanten teil, auf deren Sitzen Fähnchen in den
blau-weiß-roten Nationalfarben bereit lagen, damit sie auch schön damit
wedeln konnten. Die Mobilisierung muss als Erfolg der rechtsextremen Partei
gelten, vor allem auch hinsichtlich ihrer Zusammensetzung. Denn offenkundig
waren alle Altersklassen der Bevölkerung im Saal vertreten, auch wenn die
Jahrgänge ab 50 leicht überwogen. Auch eine sichtbare Anzahl jüngerer Leute
war zugegen und, anders als bei vergleichbaren Anlässen der Partei, nicht
nur die gesellschaftlich marginale männlich-kurzgeschorene Jugend. Sondern
auch viele "normal" aussehende junge Männer, und dieses Mal auch Frauen.
Die Spitzenkandidatin im Vorprogramm, Jean-Marie Le Pen als Hauptredner
Spitzenkandidatin in der Ile-de-France, neben der Region von
Marseille (Provence-Alpes-Côte d'Azur, allgemein PACA genannt) eine der
Schlüsselregionen bei dieser Wahl, ist Marine Le Pen.
Spitzenkandidatin Marine Le Pen
Fotos zur Vergrößerung bitte anklicken! |
Die ehemalige Anwältin, Jahrgang 1968, die im
kommenden August 36 wird, war für die extreme Rechte die "Entdeckung" des
Präsidentschaftswahlkampfs im Frühjahr 2002. Damals konnte sie in den
Fernsehstudios durch ihre Redegabe und ihr telegenes Aussehen Marine Le
Pen ist eine blonde Frau mit der bulligen Statur ihres Vaters - einen
gewissen Eindruck schicken. Bis dahin hatte sie eher wenig im Rampenlicht
der Öffentlichkeit gestanden. Zunächst hatte sie versucht, sich aus dem
Schatten des übermächtigen Vaters zu entfernen und als Rechtsanwältin sie
wurde 1992 vereidigt - ihre eigene (glücklose) Karriere zu machen, doch
blieben der Name und der Ansehen des Papas und Parteigründers an ihr haften.
Später leitete sie die Rechtsabteilung von dessen Partei, und bei der
Parteispaltung 1998/99 betätigte sie sich führend an der "Säuberung" des
Parteisitzes von allen Sympathisanten des ehemaligen FN-Chefideologen Bruno
Mégret, der zum "Meuterer und Verräter" (Jean-Marie Le Pen) geworden war.
Seit dem Sommer 2002 wird sie von ihrem Vater, der im Juni
vergangenen Jahres nunmehr 75 geworden trotz ständig wiederholter,
gegenteiliger Beteuerungen nun allmählich doch ans Altenteil denken muss,
Schritt für Schritt zur Nachfolgerin aufgebaut. Und jetzt führt sie ihren
ersten "eigenen" Wahlkampf. Das heißt, sie sollte ihn führen. Denn seitdem
Jean-Marie Le Pen in Nizza, wo er als Direktkandidat zum Marseiller
Regionalparlament des PACA-Gebiets antreten wollte, nicht kandidieren durfte
da er keinen formalen Wohnsitz vor Ort nachweisen konnte -, ist der
Schatten des "Alten" wieder länger geworden. Tatsächlich bestreitet der
Parteigründer und Übervater des Front National an diesem Dienstag zwischen
75 und 80 Prozent der Redezeit allein. Die Spitzenkandidatin, Marine, gibt
es im Vorprogramm zu hören, während vielleicht 20 Prozent der
Abendveranstaltung. Marine Le Pen darf
auf den politischen Gegner einholzen. Zuerst geht es gegen die regierenden
Konservativen, und bevorzugt gegen deren aktivistischen Law &
Order-Innenminister Nicolas Sarkozy, der im bürgerlichen Lager als
"Geheimwaffe gegen Le Pen" gehandelt wird. Sarkozys Amtsübernahme habe
nichts geändert - so das düstere Bild, das Marine Le Pen ausmalt - , die
Verbrechen würden trotzdem immer mehr, und der (ebenso allgegenwärtige wie
medienfixierte) Minister sei nur "zur Beruhigung" da. Also um die
WählerInnen über den wahren Ernst der Lage hinwegzutäuschen. (Papa Le Pen
hatte Sarkozy, dem er in einer Fernsehdebatte gegenüber saß, im Herbst 2002
mit einem "Hamster im Laufrad" verglichen.) Denn Sarkozy sei nicht geneigt,
die wahren Ursachen anzutasten, und habe an "der Bevorzugung der Ausländer
(préférence étrangère) auf allen Ebenen" nichts geändert. Danach geht es
noch gegen die radikale Linke, denn diese tritt in diesen Wahlen als
konsequente soziale Protestkraft auf und versucht, die demagogischen
Sozialversprechen der extremen Rechten zu demontieren. Mitunter mit einigem
Erfolg, denn der marxistische Pariser Kandidat Olivier Besancenot
allgemein bekannt als "der Briefträger", tatsächlich ist der 30jährige
Postangestellter konnte in einer RTL-Fernsehdebatte Marine Le Pen auf
diesem Gebiet gehörig in's Schwitzen bringen. "Die radikale Linke verfolgt
eine blutrünstige Utopie", wettert Marine Le Pen, und: "Es gibt keinen
Trotzkismus mit menschlichem Antlitz."
Le Pen, Jean-Marie und Le Pen, Marine - symbolische
Wachablösung (vorläufig nur am Rednerpult)
Dann aber ist Le Pen Vater an der Reihe, und er holt, wie
regelmäßige Besucher von FN-Sympthisantenveranstaltungen es gewohnt sind,
zum anderthalbstündigen Rundumschlag quer durch die nationale und
internationale Politik aus. Kampfesrede für das
rechtsextreme Publik Auffällig war von
Anfang an, dass Jean-Marie Le Pen gar nicht großartig bemüht war, sich mit
sachpolitischen Vorschlägen zu konkreten Themen zu profilieren und um
Sympathie zu werben. Stattdessen gab es einmal mehr einen ideologischen
Parforceritt durch die Ursachen des "Niedergangs der französischen Nation".
Dabei handelte es sich offenkundig um eine Kampfrede an das abgehärtete
Publikum von Sympathisanten und Parteigängern, nicht um den Versuch, sich
als konstruktiv-bürgerlicher Politiker um Salonfähigkeit zu bewerben. Vor
wenigen Monaten war das noch anders gewesen:
Einzug des "Volkstribunen" |
Nachdem Jean-Marie Le Pen im September 2003
erklärt hatte, als Spitzenkandidat in der Region PACA ins Rennen zu gehen,
besichtigte er zunächst mehrere Wochen lang Müllverbrennungsanlagen und
landwirtschaftliche Betriebe. Dabei bemühte er sich, auch mit halbwegs
konkreten Vorschlägen zur Zukunft der Region aufzutreten. (Diese malte er
sinngemäß als Paradies für reiche Rentner aus; für diese sollte das
Hinterland mit dort zu errichtenden Hochsicherheits-Siedlungen und Villen
erschlossen werden.) Vielleicht auch deswegen, und weil die Umfragen ihm
keinen sicheren Wahlsieg voraussagen konnten, hat Le Pen dann doch noch die
Nase voll vom Wahlkampf im Südosten bekommen. Jetzt gefällt er sich wieder
besser in der Rolle des "Volkstribunen", der von Region zu Region reist und
sich überall gleichermaßen in den theoretisch lokalen Wahlkampf der
extremen Rechten einschaltet.
Jean-Marie Le Pen beginnt seine Rede mit einem Ritual für den Kämpfertypus
unter den Parteigängern, das normalerweise nicht in Wahlkämpfen, sondern
beim alljährlichen Fest für Sympathisanten, dem "BBR" (für
"Bleu-Blanc-Rouge", also die Nationalfarben Blau-Weiß-Rot) durchgeführt
wird. Doch das BBR-Fest, dass normalerweise alljährlich im September
stattfand, konnte seit zwei Jahren nicht mehr abgehalten werden: Nachdem die
Sozialisten die notorisch korrupte Chirac- und später Tiberi-Mannschaft im
Pariser Rathaus abgelöst hatte, entdeckte man in der Kommunalregierung
plötzlich, dass das Gelände im Stadtwald Bois de Vincennes wo die
"BBR"-Sause sonst immer stieg im Herbst dringend für den Pariser Zirkus
benötigt wird. Und Aus war's mit dem Rummelplatz für Rechtsextreme.
Und so verlieh Jean-Marie Le Pen die "Ehrenflamme", die an besonders
verdiente Parteimitglieder verliehen wird (die Flamme in den Nationalfarben
ist das Parteisymbol des FN, der das Wahrzeichen 1972 vom italienischen MSI
übernahm), dieses Mal mitten im Wahlkampf. Die Ehrenflamme, betonte Le Pen
auch an diesem Dienstag, gibt es für langjährige Parteimitglieder und für
solche, "die im Dienst an der Sache verletzt worden sind". Von der Sorte
gibt es anscheinend viele. Und so erhielt es am Dienstag ein jugendlicher
Parteigänger, der als "Guy" vorgestellt wurde. Er war angeblich verletzt
worden, als ein feindliches Auto ihn zu überfahren versuchte. Man würde
gerne wissen, wie es sich wirklich zugetragen hat.
Jean-Marie Le Pen beginnt seine Rede damit, dass er einen
jungen Parteiaktivisten mit der "Ehrenflamme" (die Flamme ist das
Parteisymbol des FN) auszeichnet, der "im Dienst an der Sache verletzt"
worden ist . (Links mit vielen Medaillen: Alt-Militarist Roger Holeindre,
genannt "Popeye") Rassismus, aber wenig echte
soziale Versprechen Selbstverständlich ist
auch ein Jean-Marie Le Pen darum bemüht, die sich ausbreitende soziale
Unzufriedenheit in der Gesellschaft anzusprechen und auf seine Mühlen zu
lenken. Das tut er, jedenfalls in der diese Woche gehaltenen Rede, aber fast
nur vermittelt über den Rassismus gegen Einwanderer, die den armen Franzosen
die Sozialleistungen wegnehmen. So
behauptete Jean-Marie Le Pen am Dienstag, es gebe "acht bis zehn Millionen
Einwanderer" (ohne französische Staatsbürgerschaft) in Frankreich, darunter
fünf Millionen unerkannte oder sich illegal dort aufhaltende. Dabei beruft
er sich auf eine nicht näher genannte "offizielle Institution", die das
angeblich man erfährt nicht wann und wo festgestellt habe. Bereits am 8.
November 2003, beim Auftakt des Wahlkampfs in der Ile-de-France, hatte
Marine Le Pen die Behauptung lanciert, in Wirklichkeit habe Frankreich nicht
61 Millionen EinwohnerInnen, wie die offiziellen Statistiken behaupten,
sondern 65 Millionen. Denn der Rest seien Untergetauchte, "Illegale". (Zwei
Wochen später, bei seiner Fernsehdebatte mit Nicolas Sarkozy am 20. November
03, hatte Le Pen Vater dann wiederum dem Innenminister als Herausforderung
lanciert, er wette mit ihm, dass der Minister "gar nicht mal auf mehrere
Millionen genau sagen (könne), wieviele Einwohner Frankreich" habe. Da Le
Pen dabei aber nicht klar machte, worauf er anspielte, muss dieser
Wortwechsel den meisten FernsehzuschauerInnen unverständlich geblieben
sein.) Angesichts dieses vermeintlich
unerkannten Millionenheeres aber, fuhr Le Pen in seiner Argumentation fort,
sei es auch kein Wunder, dass der Staat unter den zu finanzierenden
Sozialleistungen zusammenbreche. Dabei "vergaß" er freilich zu erwähnen,
dass so genannte illegale Einwanderer auch keinerlei Anrecht auf
Sozialleistungen haben... Er habe
nichts gegen den einzelnen Einwanderer, dessen Wunsch, vom französischen
Lebensstandard zu profitieren, ja individuell verständlich sein mögen,
erklärte Le Pen nach einer bei ihm äußerst klassischen Argumentation. Die
Schuldigen seien die Politiker und die "Lobbies", die (auf den Untergang der
Nation hinarbeitend) die Überflutung Frankreichs organisierten. Dennoch
befindet sich, folgt man seiner Logik, der einzelne Franzose natürlich mit
Immigranten in Ausgrenzungs-Konkurrenz, die einem von beiden zum Verhängnis
werden muss: "Der Landsmann, der arm ist, aber den gesetzlichen Mindestlohn
SMIC (Anm.: rund 1.000 Euro im Monat) verdient und deswegen ’zu vielŒ hat,
und der wegen seines Mangels an Wohnraum zögert, ein zweites Kind zu machen,
er wird die Sozialwohnung (HLM) nie bekommen. Denn da ist vor ihm schon der
Immigrant, der fünf Kinder hat und der immer Vorrang haben wird, weil er in
einem Hotelzimmer wohnen muss (Anm.: was vielen Immigranten tatsächlich
zugemutet wird) und 500 Francs (Anm.: 75 Euro) pro Nacht von ihm verlangt
werden." Ferner seien die Immigranten
natürlich ein Sicherheitsrisiko, fährt Le Pen fort, da sich "durch die
verrückte Einwanderungspolitik auf unserem Boden kompakte Gemeinschaften von
Millionen Immigranten gebildet haben. Diese sprechen Dutzende von
verschiedenen Sprachen und hunderte von Mundarten, die unsere Polizeikräfte
nicht verstehen, und die deswegen nicht überwacht werden können." Die
blutigen Terroranschläge von Madrid nimmt Le Pen zum Anlass, um seinem
Publikum gehörig Angst einzujagen: "Ich war kürzlich am Grab meiner Mutter
in der Bretagne zu Besuch, und ich sah dort das Denkmal für die Bretonen,
die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Damals fielen 250.000 Bretonen.
250.000 waren sie, und nicht 250. Das ist der Unterschied zwischen den
Scharmützeln, die jetzt dem Dritten Weltkrieg vorausgehen und dem, was in
einigen Monaten sein wird." Das arme kleine Frankreich aber sei dem
Drohenden schutzlos ausgeliefert, denn "unsere Armee wird vernachlässigt und
besitzt nur nutzloses, weil veraltetes oder nicht mit den erforderlichen
Transportkapazitäten ausgerüstetes Gerät". (In Wirklichkeit stiegen die
Rüstungsausgaben unter der, seit Mai 2002 amtierenden konservativen
Regierung in schwindelerregendem Tempo. Allein von Juli 2002 bis Juli 2003
erfuhren sie einen Zuwachs von über 9 Prozent.) Solcherart in Angst und
Schrecken versetzt, sollen die Parteigänger nach dem starken Mann rufen.
An
sozialen Versprechungen hingegen hat Jean-Marie Le Pen vor allem Blut,
Schweiß und Tränen zu bieten. Zwar führt der Front National, unter anderem,
Kampagne gegen die "soziale Unsicherheit". Das ist ein geschickter
Schachzug, um einen Begriff, der ursprünglich von Linken und Antirassisten
gegen den Diskurs der extremen Rechten vorgebracht worden war, umzudrehen
und in ihren eigenen Diskurs einzubauen. Im Präsidentschaftswahlkampf
2001/02 hatten Gegner des FN dessen "Innere Sicherheits"-Tiraden (aber auch
denen vieler Kandidaten aus den etablierten Parteien) entgegen gehalten, die
wahre Verunsicherung der Gesellschaft sei sozialer und wirtschaftlicher
Natur; das wachsende subjektive "Sicherheitsbedürfnis" sei nur eine
Verkleidung der objektiv gesellschaftlich begründeten Zukunftsangst. Der FN
stellt diese Argumentation einfach auf den Kopf: Die "soziale Unsicherheit"
sei einfach ein Aspekt des wachsenden "Niedergangs" und der Dekadenz des
Vaterlands, und sei nur die Kehrseite der Medaille der "kriminellen
Unsicherheit". Beide werden so in ein äußerst diffuses, aber wirksames
Bedrohungsgefühl zusammengeführt. In
wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht, dort, wo er konkret wird,
verspricht Jean-Marie Le Pen aber keinerlei fortschrittlichen Veränderungen.
Beispielsweise erklärt er offen, "man hätte schon vor Jahren das Rentenalter
auf 75 erhöhen müssen", was man tröstet er immerhin hätte "schrittweise
tun können: erst 67 Jahre, dann 69, dann..." Stattdessen hätten "die
etablierten Politiker" fatalerweise die Rente mit 60 eingeführt. (Nach dem
Amtsantritt François Mitterrands wurde das gesetzliche Rentenalter, das eine
rein theoretische Größe ist denn damit ist noch nichts darüber ausgesagt,
ob die Betreffenden den vollen Rentensatz erreichen, der von den
Beitragsjahren in die Kasse abhängt - 1982 auf 60 Jahre festgelegt. Die
amtierende neokonservative Raffarin-Regierung hat es im Sommer 2003 von 60
auf 65 Jahre erhöht, und zugleich die Bedingungen für das Ausschöpfen des
vollen Rentensatzes drastisch verschärft.) Deshalb bleibe jetzt "nur noch
wenig Zeit für die dringend erforderlichen Reformen". Jeder im Saal dürfte
bemerken, dass mit Reformen dabei bei Le Pen aber nicht allein bei ihm...
keine sozialen Verbesserungen gemeint sind...
Und als Leitidee im sozial- und wirtschaftspolitischen
Bereich zitiert Jean-Marie Le Pen einen Ausspruch von Ronald Reagan, aus
dessen Wahlkampf 1980: "Der Staat soll von meinem Rücken heruntersteigen,
und seine Hände aus meinen Taschen nehmen." Das bedeutet, dass das
Schwergewicht auf eine Anti-Steuer-Demagogie gelegt wird, wie es neben den
Rechtsextremen auch die Neokonservativen aller Schattierung tun. Als
Jean-Marie Le Pen diesen Satz ausspricht, dreht er sich zum auf der Tribüne
sitzenden Parteifunktionär Michel de Rostolan (er war in den 80er Jahren
Jean-Marie Le Pens Verbindungsmann zum rechten Flügel der US-Republikaner,
und Präsident des "Französischen Komitees für die Wiederwahl von Ronald
Reagan") um. De Rostolan, der jetzt als FN-Spitzenkandidat im Département
Essonne, im südlichen Pariser Umland, antritt, lächelt milde zurück.
Unter dem sozial-demagogischen Anstrich, den der FN seit den
frühen Neunziger Jahren verstärkt angenommen hat, kommt also der alte
ultra-konservative Urgrund in sozialer Hinsicht hervor. Als Bündnispartner
für die Bürgerlichen dürfte Jean-Marie Le Pen heutzutage dennoch kaum in
Frage kommen. Zu hetzerisch sind etwa seine Tiraden gegen die
"francs-maqueraux" (Frei-Zuhälter), in Anspielung auf die franc-maçons
(Freimaurer), bei denen ein nicht unbedeutender Teil der französischen,
republikanisch-linksliberalen Eliten organisiert ist. Damit meinte
Jean-Marie Le Pen erklärtermaßen die antirassistischen Organisationen und
die traditionsreiche "Liga für Menschenrechte" (LDH, Ligue des droits de
l'homme), die 1898 im Kampf gegen das antisemitisch motivierte
Dreyfus-Urteil gegründet wurde. Die LDH und antirassistische Gruppen hatten
gegen Jean-Marie Le Pen wegen eines Interviews vom April 2003 geklagt, in
dem dieser prophezeit hatte, wenn diese erst einmal "25 Millionen in
Frankreich sein werden, dann werden die (gebürtigen) Franzosen ihnen von den
Bürgersteigen herunter ausweichen und dabei den Blick senken" müssen. Diese
Aussage wiederholte Jean-Marie Le Pen an diesem Dienstag, aber hinzusetzend:
"Aber vielleicht stimmt diese Vorhersage deswegen nicht, weil das schon
heute längst der Fall ist." Aufgrund
dieser Aussage, wegen derer besagte Organisationen den FN-Parteichef
verklagten, hat der Pariser Staatsanwalt zwei Monate Haft auf Bewährung und
einen zeitweisen Entzug des passiven Wahlrechts gegen ihn gefordert. Das
Urteil wird am 2. April bekannt werden nach den Regionalparlamentswahlen.
Die rechtsextremen Spitzenkandidat(inn)en in der
Hauptstadtregion Ile-de-France.
V.r.n.l.:
Michel de Rostolan (2.v.r.), 57, Verbindungsmann von Le Pen zum
rechten Flügel der US-Republikaner, in den späten 80er Jahren Kopf des
französischen Unterstützungskomitees "für die Wiederwahl von Ronald
Reagan" (Comité français pour la réélection de Reagan) |
- Myriam Baeckeroot,
55; seit den späten 60er / frühen 70er Jahren in
"nationalrevolutionären" Kreisen aktiv
- Le chef
- Martial Bild, 41, Vorsitzender der Pariser
Parteisektion und Cheforganisator der zentralen FN-Veranstaltungen
- Martine Lehidieux, Mitte 70, Witwe eines hohen Funktionärs des
Vichy-Regimes, seit der Parteigründung des FN mit dabei, Vizechefin der
Partei, Chefin des "Nationalen Zirkels der europäischen Frauen"
- Jean-Richard Sulzer, ultra-wirtschaftsliberaler Professor an
der Universität Paris-9
- Dominique Joly, 32, junger Streber und Finanzexperte
- Roger Holeindre, genannt "Popeye", Ende 70, alter Militarist
und Haudegen, Mitkämpfer in mehreren französischen Kolonialkriegen; seit
der Parteigründung des FN mit dabei, Leiter des CNC (Cercle national des
combattants/ Nationaler Zirkel der Kämpfer), also des FN-eigenen
Veteranen- und Militaristenverbands |
"Protestwahl" für den FN?
Zu befürchten ist aber vor allem, dass die WählerInnen, die
auf diffus-unbewusste Weise ihr soziales Unbehagen ausdrücken wollen, weder
die Parteiprogramme lesen noch die Reden von Jean-Marie Le Pen im Detail
analysieren werden. 70 Prozent der
Franzosen wollen, laut einer Umfrage, die sich in "Le Monde" vom 18. März
findet, bei der kommenden Regionalwahl "Protest wählen" und die Regierung
wegen ihrer Politik (etwa deren antisozialen Aspekten) abstrafen. Vor
anderthalb Monaten waren es noch 65 Prozent gewesen. Da zugleich 56 Prozent
erklären, dass die Regionalparlamentswahlen als solche sie nicht
interessierten, ist anzunehmen, dass die Ergebnisse dadurch stark geprägt
werden.
Darstellungen, wie sie sich beispielsweise in einem Artikel
des konservativen Wochenmagazins "Le Point" (vom 18. März 2004) finden,
derzufolge die Stimmabgabe für den FN de facto das wirksamste Mittel des
Protests ist, drohen den Effekt zugunsten der extremen Rechten noch zu
verstärken. In seiner jüngsten Ausgabe lässt "Le Point" eine größere Anzahl
von FN-Wählern oder Gelegenheitswählern zu Worte kommen. Diese werden so
wiedergegeben, als stimmten sie lediglich für den Kandidaten oder die
Partei, der oder die "den Etablierten den größten Schrecken einjagt". Das
sei aber in der Sache gar nicht so gemeint, da ja die Präsidentschaftswahl
von 2002 gezeigt habe, dass Le Pen ohnehin nicht wirklich gewinnen könne. Es
gehe lediglich darum, dem sozialen Unmut einen Kanal zu verschaffen.
Deswegen werde man jetzt umso stärker für den FN stimmen, da "die
etablierten Politiker" ja offenkundig "die Botschaft vom 21. April 2002
nicht verstanden" hätten. Würde man
wünschen, dass die extreme Rechte immer weiter ansteigt man würde es kaum
anders anstellen als das bürgerlich-konservative Wochenmagazin...
hagalil.com
19-03-2004 |