Interview mit Théo Klein:
"Scharons Räsonnement ist das Ghetto"
Der Begriff des
Antisemitismus taugt nicht, um die Gewalt gegen Juden in Frankreich
zu beschreiben
Interview: Dorothea
Hahn
taz: Mehr als 141
gemeldete Gewaltakte in einem Jahr - Brandanschläge gegen Synagogen,
Schläge auf der Straße. Ist Frankreich gefährlich für Juden
geworden?
Théo Klein:
Das würde ich nicht sagen. Viele sprechen jetzt von Antisemitismus.
Manche auch von "Kristallnacht". Aber man muss vorsichtig mit
solchen Wörtern sein. Sie haben eine Geschichte und eine Bedeutung.
Hier passen sie nicht.
Wie beschreiben Sie das,
was in Frankreich passiert?
Als neue Situation: weil es einen
jüdischen Staat gibt. Weil es einen Konflikt um diesen jüdischen
Staat gibt. Und weil heute in Europa relativ große muslimische
Bevölkerungen leben, die nicht völlig integriert sind.
Warum werden Juden in
Frankreich Opfer dieser Gewalt?
Es gibt eine Verwechslung zwischen Jude
und Israeli. Der junge Beur (Nachfahre der Einwanderer
aus Nordafrika, d. Red.) hat das Gefühl, wenn er etwas
unternehmen will, muss er das mit Gewalt tun. Er kann nicht nach
Israel gehen. Aber er hat einen Nachbarn, von dem er ständig hört:
"Israel, Israel, Israel". Der Beur, der auf einen Juden schlägt,
glaubt, dass er auf Israel schlägt.
Frankreich hat viele
antirassistische Gesetze. Fehlt der politische Wille, sie
anzuwenden?
Ich bin nicht sicher, dass die Behörden
alle Gewalttätigkeiten gleichermaßen erfassen. Ein Kardinal hat mir
gesagt, dass es täglich Zerstörungen in den Kirchen seiner Diözese
gibt und dass dort sogar Leute ihre Notdurft verrichten. Er
betrachtet das als etwas, das man aushalten muss.
Auf einer Demonstration in
Paris hieß es kürzlich: "Die Juden haben alles, die Muslime nichts".
Der Slogan bezieht sich auf die
Protokolle der Weisen von Zion. Er ist bösartig und dumm und hat mit
der gegenwärtigen Situation nichts zu tun. Die Realität ist heute
erstens der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Und
zweitens der Islamismus. Letzterer ist eine Bewegung gegen die
Moderne, gegen die Demokratie und gegen den Okzident. Die
Antisemiten sagen: "Die Juden beherrschen die Welt." Aber ihr reales
Ziel reicht weit darüber hinaus.
Antisemitische Slogans, um
Schlimmeres zu kaschieren?
Als die Islamisten in New York die
beiden Türme attackiert haben, meinten sie nicht den jüdischen
Hauptaktionär, sondern die USA und die westliche Welt. Ich habe die
Sorge, dass die Juden voreilig feststellen: "Das ist gegen uns
gerichtet." Damit verhindern sie die Erkenntnis, dass die Gewalt
weiter gefasst ist.
Was kann Europa tun?
Europa muss die Bevölkerungen
integrieren, die es geholt hat. Denn das Problem wird zunehmen. Es
gibt Leute, die sich in Europa niederlassen, aber keinen Willen zur
Integration haben. Das entspricht nicht unserer Tradition.
Frankreich hat sich in der Revolution gegen den Katholizismus
definiert. Als laizistisches Land. Als einige und unteilbare
Republik, die jeden Provinzlergeist zurückweist.
Die Juden, denen die
Revolution die Gleichberechtigung brachte, haben für diesen
Laizismus gekämpft.
Im Talmud gibt es eine Formel: "Das
Gesetz des Königreichs ist das Gesetz." Das ist ein Grundprinzip der
Juden: in die Gesellschaften hineingehen und so leben wie alle.
Außer im Privaten. Ich möchte nicht, dass immer mehr Beurs und immer
mehr orthodoxe Juden getrennt in eigenen Quartieren leben.
Die jüdische Gemeinde war
früher liberal, heute unterstützt sie mehrheitlich Scharon.
Ein Teil der nordafrikanischen Juden
ging nach Israel, ein anderer nach Kanada, ein dritter nach
Frankreich. Ein Jude, der Angehörige in Israel hat, reagiert
sensibler darauf, was dort passiert.
Wenn Sie die
Scharon-Regierung angreifen, werden Sie dafür in Ihrer Gemeinde in
Frankreich kritisiert.
Man sagt mir: Verteidigen Sie Ihre
Ideen bei uns, aber veröffentlichen Sie sie nicht in Le
Monde. Das ist die Mentalität des Ghettos, die jahrhundertelang
unsere war. Das Ghetto ist ein Ort, wo die Juden zusammen sind und
wissen, dass jenseits der Mauern Gegner sind, mit denen der Dialog
unmöglich ist.
Wir sind aber nicht mehr im
19. Jahrhundert.
So ist das in der israelischen Politik.
Keine israelische Regierung hat je eine Grenze definiert.
Es gab Oslo …
Niemand spricht heute von der "grünen
Linie" als Grenze. Lange Zeit gab es keine Beziehungen zu den
arabischen Ländern auf der anderen Seite. Für die Beziehungen nach
außen braucht das Ghetto einen Beschützer. Das ist heute Amerika.
Scharons Räsonnement ist das Ghetto. Er sagt: Um die israelische
Armee zu mobilisieren, brauche ich 48 Stunden. Also brauche ich
Positionen, die weit vom Zentrum entfernt sind.
Wir sind in Ihrem Büro im
Zentrum von Paris, und ich frage Sie über Frankreich. Aber wir
landen immer wieder in Israel.
Die Krise der jüdischen Gemeinde ist
total mit Israel verbunden. Das kritisiere ich nicht. Ich bin für
Israel. Deswegen habe ich vor 40 Jahren die israelische
Staatsangehörigkeit angenommen.
Überlegen Sie manchmal,
nach Israel zu gehen?
Ich habe dort eine Wohnung und bin als
Anwalt eingeschrieben. Aber ich bin ein Israeli, der länger in Paris
lebt als in Jerusalem.
Auch angesichts der
jüngsten Gewaltwelle wollen Sie Frankreich nicht verlassen?
Nein.
THÉO KLEIN, 83, ist der ehemalige
Präsident des "Rates der jüdischen Institutionen Frankreichs" (CRIF)
und des "Europäischen jüdischen Rates". 2002 veröffentlichte er in
Paris sein Buch: "Le Manifeste dun Juif libre".
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haGalil onLine 11-02-2004 |