Von Achim Scheve
Am Montag den 2. Februar 15 Uhr 20 ging vermutlich einer der letzten -
wenn nicht der gar der letzte - NS-Kriegsverbrecherprozess in der
Bundesrepublik ohne Urteil zu Ende. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass der
Angeklagte Herbertus Bikker nicht mehr geistig verstehe was ihm vorgeworfen
wird, er sich deswegen nicht mehr verteidigen könne, und deswegen der
Prozess wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit einzustellen ist.
Der Prozess begann an diesem Tag wie fast immer. Der Angeklagte war mit
seiner persönlichen Notärztin Dr. Scheller (Amtsärztin) im Gerichtssaal
erschienen. Der Angeklagte war heute eher gut drauf, seine Verteidigung
hatte ihn wohl informiert, dass heute sein Tag ist und der Prozess
eingestellt werden wird. Auf die im Gerichtssaal reichlich erschienene
Fotografenmeute reagierte er zunächst mit dem Verdecken seines Gesichtes mit
einer braunen Willy Wacker Schiebermütze, um dann doch mit den Fotoreportern
zu scherzen. Er wusste bereits genau, dies wird sein Tag und die Fotographen
werden ihn nicht mehr belästigen.
Das plötzliche Ende des Prozesses kam mit dem Vortrag des Neurologen und
freiberuflichen Gerichtsgutachters Roggenwallner. Die Staatsanwaltschaft
hatte erwartet, dass dieser Gutachter aufgrund seiner Erfahrungen die
Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten nachweisen würde. Am 27. und 29.
Januar hatte Roggenwallner den Angeklagten in seiner Wohnung untersucht und
ein schriftliches Gutachten erstellt und den drei Prozessbeteiligten
zugefaxt. Gericht und Staatsanwaltschaft schauten während des Vortrages
betreten drein.
Zur Erstellung des Gutachten über die Verhandlungsfähigkeit des
Angeklagten hatte er frühere Gutachten - er war ja der elfte Gutachter - und
Gerichtsakten erhalten. Zumindest letztere hatte er wohl nicht richtig
gelesen. Neben ein paar persönlichen und medizinischen Details berichtete er
über das Gespräch mit Bikker über seine persönliche Biographie. So habe
Bikker berichtet, dass er 10 Jahre gesessen habe, dies stimme aber nicht. In
Wirklichkeit stimmt dies aber - wie bereits während des Vortrages offiziell
richtig gestellt wurde - doch, da Bikker in Deutschland zusammen zwei Jahre
und sieben Monate in Auslieferungshaft und Untersuchungshaft gesessen hatte.
Bikker führe seinen Haushalt, besitze ein Auto und fahre selber. Seinen
Schrebergarten habe er aufgegeben. Seine alterbedingten Erkrankungen führten
zur Verhandlungsunfähigkeit, da er sich nicht selbst verteidigen könne.
Seine Konzentrationsfähigkeit und Merkfähigkeit sei wegen altersbedingtem
hirnorganischem Abbau zu gering um sich selber zu verteidigen. Er verstehe
nicht mehr worum es bei dem Prozess gehe.
Die Staatsanwaltschaft verweist nach dem Vortrag auf die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes vom 4. Februar 1995 über die notwendige
Verhandlungsfähigkeit von Angeklagten. Sie könne jetzt nichts mehr tun und
beantragt die Einstellung des Verfahrens wegen dauerhafter
Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten. Die Verteidigung hält ihren Antrag
auf Einstellung des Verfahrens wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit des
Angeklagten aufrecht.
Nach einer Verhandlungspause von etwa einer Stunde verkündet das Gericht
seine Entscheidung:
Das Verfahren wird eingestellt. Die Kosten des Verfahrens fallen der
Staatskasse zu Last. Dem Angeklagten werden die notwendigen Auslagen für
seine Verteidigung erstattet.
Das Gericht unter dem Vorsitz von Richter Werner Herkenberg begründete
die Entscheidung wie folgt:
Die geistige Teilnahme des Angeklagten ist erforderlich. Am Anfang sah es
so aus, als ob sie gegeben sei. Es sind zwar nur noch 40-50 Seiten Akten zu
verlesen und ein paar Zeugen zu hören. Dann hätten die Plädoyers folgen
müssen. Der Angeklagte könne dem aber nicht mehr folgen. Wenn sich ein
Freispruch abzeichnen würde, wäre es angebracht trotz eines
teilnahmeunfähigen Angeklagten bis zum Freispruch weiter zu verhandeln. Da
sich ein Freispruch aber nicht abzeichne, müsse das Verfahren nun
abgebrochen werden.
Bei einer allerdings völlig unwahrscheinlichen Genesung des Angeklagten
könnte es theoretisch wieder ein Verfahren geben. Der Prozess müßte
allerdings mit der Anhörung aller Zeugen und der Verlesung aller Akten
wieder völlig von vorne beginnen.
Da Gericht und Staatsanwaltschaft von Führerschein und Auto des
Angeklagten wissen, werden sie ihre Erkenntnisse über den Geisteszustand des
Ex-Angeklagten an die Führerscheinstelle weiterleiten. Danach wird ihm der
Führerschein entzogen werden...
Die an den letzten Tagen als Zuschauerin anwesende Tochter von Jan
Houtman kritisierte den Ausgang hinterher "als fast Freispruch". Drei Tage
nach dem Ende des Prozesses gab es noch eine kleine Demonstration Hagener
Antifaschisten vor der Wohnung von Bikker.
Eventuell gibt es in der nächsten Zeit eine Diskussion, ob das
niederländische Urteil gegen Bikker von 1949 aufgrund der geänderten
Rechtslage durch die europäische Zusammenarbeit der Justiz inzwischen auch
in Deutschland rechtsgültig ist. Dann müßte die Haftfähigkeit des
verurteilten Straftäters Herbertus Bikker geprüft werden.
In diesem Prozess hatte der Staatsanwalt Ulrich Maaß eigentlich alle
Trümpfe für eine Verurteilung in der Hand, er ist nur auf den letzten Metern
der Zielgraden gescheitert. War es nun die Bauernschläue oder die zunehmende
Verblödung des Angeklagten? Vermutlich werden wir es niemals erfahren.
Nur besonders günstige Umstände ermöglichten die Durchführung dieses
Prozesses. Es gab nur ein Opfer und einen Täter. Am unmittelbaren Tatort gab
es die vom Täter unbemerkten Zeugen. Bereits am Tag nach der Tat begann der
unbestechliche Teil der Justiz mit der Aufnahme von Beweisen für den Tag
nach der Befreiung, die Alliierten standen ja bereits längst tief in
Frankreich... Nach der Befreiung führte eine ordentlich arbeitende Justiz
die Ermittlungen und kam zu einem Strafurteil. Die Gerichtsakten wurden
niemals weggeworfen... Die von dem Terror der deutschen Besatzung betroffene
Bevölkerung sammelte über Jahrzehnte die Zeugenaussagen von Zeitzeugen um
sich ihrer eigenen Identität zu vergewissern. Sobald mit der Person Bikker
ein Kristallisationspunkt gefunden wurde, berichteten Presse, Funk und
Fernsehen ausführlichst über die Geschehnisse. Niederländische Medien und
Bürger organisierten die Betreuung der aus den Niederlanden anreisenden
Zeugen. Der Zuschauerraum des Schwurgerichtssaal 201 beim Hagener
Landgericht wurde geistig zu einem Stück niederländischer Heimat. Die
örtlichen Hagener Antifaschisten der VVN-BdA Hagen und der Antifa Hagen
begleiteten den Prozess mit ihren Aktionen im Gericht und außerhalb des
Gerichtes. Nur selten verirrten sich ein paar stille deutsche Altnazis in
den Gerichtssaal. Präsenter und damit unangenehmer waren der zur Beobachtung
der Antifaschisten anwesende deutscher "Staatsschützer" sowie Gerichtsdiener
mit unmöglichem Betragen gegenüber niederländischen Zeugen und deutschen
Zuschauern, sowie ein deutscher "Herrenmensch" als vermeintlicher
Entlastungszeuge. Die technische Abwicklung des Prozesses verlief
problemlos. So ist die Ladung von Zeugen aus dem Ausland über die offizielle
Rechtshilfe sehr kompliziert und langwierig. Aber dafür gab es einen kleinen
Dienstweg.
Wird in Deutschland noch jemals ein NS-Kriegsverbrecherprozess unter so
guten Bedingungen durchgeführt werden können? Deutsche Justizbehörden werden
sich sehr sehr beeilen müssen, damit es noch jemals auch nur ein
erstinstanzliches Urteil gegen einen NS-Kriegsverbrecher geben wird.
Hintergrundinformation:
Die Geschichte Bikker beginnt
bereits vor dem Krieg