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Bericht vom internationalen Symposium mit Ausstellung:
Youtai – Presence and Perception of Jews and Judaism in
China
Im Rahmen des gleichnamigen
Forschungsprojekts am Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft
(FASK) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim 19. bis 23.
September 2003
Von Silvia Fricker und Peter Kupfer
Schwerpunkt des in den Jahren 2002-2003 laufenden und
von Prof. Dr. Peter Kupfer (FASK, Universität Mainz) sowie Prof. Dr. Roman
Malek (Institut Monumenta Serica, Philosophisch-Theologische Hochschule
Sankt Augustin) geleiteten Forschungsprojekts ist die jüdische Gemeinde, die
historisch nachweisbar zwischen dem 12. Jahrhundert (Nördliche
Song-Dynastie) und dem 19. Jahrhundert in der alten chinesischen Kaiserstadt
Kaifeng, Provinz Henan, mit Synagoge, eigener Tradition und religiöser
Praxis existierte, sich aber auch durch einen über die Jahrhunderte
dauernden Akkulturations- und Assimilationsprozess allmählich auflöste.
Sowohl aus dem Blickwinkel der chinesischen und jüdischen
Geschichte als auch unter allgemein interkulturellen Aspekten ist das lange
Fortbestehen dieser religiösen und ursprünglich auch ethnischen Gemeinschaft
in einer völlig fremden soziokulturellen, konfuzianisch geprägten Umgebung
ein wohl einmaliges Phänomen. Eine weitere Besonderheit der Juden von
Kaifeng ist, dass sie isoliert und ohne Kontakte zur jüdischen Diaspora in
der übrigen Welt ihre Traditionen über Jahrhunderte aufrechtzuerhalten
vermochten und auch keinerlei anhaltenden Diskriminierungen oder
Verfolgungen ausgesetzt waren.
Während seit der historischen Begegnung zwischen Matteo
Ricci und dem Kaifenger Juden Ai Tian 1605 in Peking immer wieder Missionare
und Reisende aus Europa über die jüdische Gemeinde in Kaifeng berichteten
und damit sogar bei großen Denkern wie Kant, Leibniz und Voltaire
Aufmerksamkeit hervorriefen, erregte dieser Teil der chinesischen Geschichte
bei den chinesischen Intellektuellen selbst erst seit Anfang des 20.
Jahrhunderts Forschungsinteresse. Nach der Gründung der Volksrepublik China
1949 und einer kurzen Phase reduzierten Interesses im Zusammenhang mit der
sich neu formierenden Minderheitenpolitik in den frühen 1950er Jahren kam
die Judenforschung aufgrund der ungünstigen politischen Atmosphäre in China
zu einem Stillstand und lebte erst im Kontext der Reform und Öffnung Chinas
in den 1980er Jahren wieder auf. Durch die Aufnahme und Verbesserung der
diplomatischen Beziehungen zwischen China und Israel in den 1990er Jahren
sowie durch die Aufarbeitung des Schicksals der aus Nazi-Deutschland nach
Shanghai geflohenen und dort bis in die 1940er Jahre ansässigen rund 25.000
Juden wurde die Judenforschung in China zusätzlich gefördert. Sie befasst
sich heute auch mit anderen Kapiteln jüdischer Einwanderer in der neueren
Geschichte Chinas, etwa mit der Ansiedlung sephardischer Kaufleute in
Shanghai nach dem Opiumkrieg und der Flucht aschkenasischer Juden aus
Russland nach Nordostchina am Ende des 19. Jahrhunderts und zum Beginn des
20. Jahrhunderts.
In den letzten Jahren ist sowohl in China als auch im
Ausland vermehrt über die Geschichte und Kultur der Juden in China
gearbeitet worden, und auch in Zukunft ist ein zunehmendes
wissenschaftliches Interesse an allen damit zusammenhängenden Fragen zu
erwarten. Das Projekt trägt im Rahmen der klar umgrenzten Frage- und
Zielstellung, wie sie im Titel zum Ausdruck kommt, zur Diskussion bei. Es
konzentriert sich auf die Fragen zum sozialen Status sowie zur Assimilation
der Kaifenger Juden in der chinesischen Gesellschaft. Auf der Grundlage
neuer Quellen und Forschungsergebnisse werden Fragestellungen zur
Wahrnehmung des Judentums sowohl in der chinesischen Gesellschaft als auch
unter chinesischen Wissenschaftlern, zur Selbstreflexion der älteren und
jüngeren Nachkommen in Kaifeng selbst, zu deren aktuellem Status und zum
Umgang Chinas mit dem Fremden als Teil seiner eigenen Geschichte und
Identität systematisch herausgearbeitet und aus unterschiedlicher
historischer, soziologischer, religiöser, ethnischer, ethnopolitischer und
interkultureller Perspektive diskutiert.
Höhepunkt
des Forschungsprojekts war das Symposium, das nach mehrmonatiger intensiver
Vorbereitung vom 19. bis 23. September am FASK in Germersheim stattfand. In
der Nachfolge der letzten Tagungen zu dieser Thematik 1997 in Sankt Augustin
("From Kaifeng… to Shanghai. Jews in China" mit Ausstellung; im Jahr 2000
Veröffentlichung des gleichnamigen Konferenzbandes, hg. von R. Malek in
Monumenta Serica Monograph Series XLVI, Sankt Augustin) und 2002 in Nanjing
("History of Jewish Diaspora in China") wurde auf die Kontinuität der
Forschungsresultate und ein breites Spektrum neuer unterschiedlicher Ansätze
mit aktuellen Bezügen Wert gelegt. Dies spiegelte sich auch wider in der aus
finanziellen Zwängen zwar beschränkten, jedoch repräsentativen Auswahl der
vierzehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Australien, China, Hongkong,
Israel, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die sich trotz oder
gerade wegen ihrer wissenschaftlich-biografischen Heterogenität – ein
Altersunterschied von immerhin 50 Jahren zwischen dem ältesten und jüngsten
Teilnehmer – gleich vom Beginn an in einer inspirierenden Atmosphäre
lebhaften Gedankenaustausches und Dialogs wiederfanden. Neben den anwesenden
international prominenten Sinojudaisten hatten einzelne jüngere
Nachwuchskräfte die Gelegenheit, in durchwegs hervorragenden und
aufschlussreichen Vorträgen mit anschließenden anregenden Diskussionen ihre
neueren Arbeitsergebnisse zu präsentieren.
Gespräche zwischen drei Generationen
Das Auditorium Maximum des FASK bot für das Symposium
sowie für die im Hintergrund aufgebaute und danach noch bis zum 10. Oktober
zu besichtigende Ausstellung zum Judentum in China ein ideales Ambiente.
Beide Veranstaltungen waren für Interessenten der Universität, sinologischer
wie judaistischer Institutionen, jüdischer Gemeinden und der allgemeinen
Öffentlichkeit zugänglich.
Vor der Eröffnung des Symposiums gingen bei den
Organisatoren unter anderen die Grußworte von Bundespräsident Johannes Rau,
der wenige Tage zuvor selbst das ehemalige jüdische Ghetto in Shanghai
besucht hatte, vom Vorsitzenden des Zentralrates der Juden Paul Spiegel und
vom Center of Jewish Studies der Akademie der Sozialwissenschaften Shanghai
ein. Am Abend des 19. September begann die Veranstaltung mit einer Begrüßung
durch den Dekan des FASK, Prof. Dr. Wolfgang Pöckl, und einer Einführung mit
Vorstellung der Teilnehmer durch Prof. Kupfer. Er wies insbesondere darauf
hin, dass sich China in den letzten Jahren auf dem Weg zur Globalisierung
und Integration in die Weltpolitik und wirtschaft nicht nur wirtschaftlich
rapide öffne, sondern sich auch im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Umbrüchen der Austausch von Meinungen und Themen
schrittweise verbessere, die noch vor wenigen Jahren eher tabuisiert wurden.
Für ihn sei die Begegnung der beiden ältesten kontinuierlichen Kulturen
eines der faszinierendsten Themen der Menschheitsgeschichte. Er
rekapitulierte kurz die Beweggründe und Vorbereitungen für das
Forschungsprojekt und dieses Symposium und betonte die historische
Verantwortung sowie auch die Vorzüge, die für die Durchführung in
Deutschland sprächen. Weder in China noch in Israel sei gegenwärtig eine
wertfreie und unvoreingenommene Diskussion zum Thema möglich. Überdies liege
der diesmalige Tagungsort in der Region mit der traditionsreichsten
Geschichte jüdischer Kultur in Mitteleuropa. Die jüdischen Gemeinden in
Speyer, Worms und Mainz begannen etwa zur selben Zeit wie die Kaifenger
Gemeinde aufzublühen.
Prof. Kupfer richtete abschließend seinen ausdrücklichen
Dank an die Förderer des Symposiums und der Ausstellung: das Zentrum für
Interkulturelle Studien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (ZIS), die
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das rheinland-pfälzische Ministerium
für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur sowie zahlreiche
Sponsoren und Helfer. Ohne deren finanziellen und organisatorischen Einsatz
wäre dieses Projekt nicht durchführbar gewesen.
Professor Dr. Roman MALEK (Monumenta Serica, Sankt
Augustin) hielt nach der Eröffnung den einführenden Vortrag zum Thema
"'Marginal Religions´ in Chinese History of Religion: The Case Study of
Judaism". Er setzte sich mit der aktuellen Definition des Judaismus als
"marginale Religion" in China auseinander und beleuchtete diese vor
historischem Hintergrund im Vergleich zu anderen Religionen (Buddhismus,
Islam, Nestorianismus, Manichäismus, Zoroastrismus und Christentum) und
ihrer Adaption an die konfuzianische Orthodoxie. Die Fragen, auf die er
abzielte, waren vor allem: "Wie ist Judaismus in China tatsächlich definiert
– durch die Religion (jiao) oder nach der ethnischen Zugehörigkeit (minzu)?
Wie ist die Sinisierung (bzw. Chineseness) einer "Fremdreligion" zu
begründen?
Prof. Dr. Donald D. LESLIE (Canberra), Verfasser des
bisher umfangreichsten Sammelwerkes Jews and Judaism in Traditional China. A
Comprehensive Bibliography (Monumenta Monograph Series XLIV, Sankt
Augustin/Nettetal 1998), wies in seinem Vortrag "Chinese Jews: Prospects for
Research" zunächst auf Forschungslücken und weiterführende Fragestellungen
hin, die sich auf Grund neuerdings insbesondere aus China vorliegender
wissenschaftlicher Arbeiten ergäben. Zu den Kernfragen gehörten die
Einstellungen und Erkenntnisse chinesischer Wissenschaftler gegenüber Juden
und dem Judaismus. In einem punktuellen Überblick über die Geschichte und
Gegenwart der Forschung über die Juden in Kaifeng, besonders aber auch über
die jüdischen Immigranten in Harbin, Shanghai und anderen Orten in China
vermochte der durch seine Vitalität beeindruckende 81jährige
Wissenschaftler, fehlende Fakten, Quellen und persistente Fehlschlüsse in
vorliegenden Standardwerken aufzuzeigen und diese zum Teil zu korrigieren.
Begleitet von einer informativen Bilddokumentation
beschrieb Prof. Dr. PAN Guang (Akademie der Sozialwissenschaften Shanghai)
in seinem Vortrag "Jews in China: Legends, History and New Perspectives" die
verschiedenen jüdischen Migrationen nach und ihre Ansiedlungen in China, von
den Kaifenger Juden im alten China über die sephardischen Juden nach dem
Opiumkrieg, die russischen aschkenasischen Juden seit 1880 und die vom
Nazi-Regime verfolgten europäischen Juden zwischen 1933 und 1945 bis zu den
nach 1949 in der Volksrepublik, in Hongkong und Taiwan verbleibenden Juden,
von denen die heute noch mit hohen Ehrenämtern betrauten chinesischen
Staatsbürger jüdischer Herkunft Epstein und Shapiro die prominentesten
Beispiele sind. Er betonte, dass das "hot topic" Juden in China nicht nur
von akademischer Bedeutung für die Judaistik, Sinologie, Geschichte,
Religionswissenschaften, Ethnologie, Anthropologie und Philosophie, sondern
auch von praktischer Signifikanz im Kampf gegen Rassismus und Faschismus,
für die Förderung der freundschaftlichen und harmonischen Kulturbeziehungen
zwischen den Völkern sowie für die Erhaltung des Weltfriedens sei.
Prof. Dr. ZHANG Qianhong (Universität Henan, Kaifeng)
verwies in ihrem Vortrag "From Judaism to Confucianism: Studies on the
Internal Causes for Assimilation of the Kaifeng Jewish Community" darauf,
dass sich die akademischen Recherchen weitestgehend darauf beschränkten,
dass man die Gründe für die Assimilation der Kaifenger Juden in externen
Gründen, wie Teilnahme an den kaiserlichen Examen und Mischehen, suche,
jedoch die wirklichen internen Gründe, die im Wesentlichen auf komplexen
ideologischen Wandlungsprozessen basierten, vernachlässigt habe. In ihrer
Studie analysierte sie die verschiedenen Stufen der Sinisierung der
Kaifenger Juden im Kontext der Konfuzianisierung.
Der Nachwuchswissenschaftler ZHANG Ligang (Universität
Henan, Kaifeng) beschäftigte sich in seinem Vortrag "The Understanding and
Attitude of Chinese Society towards the Kaifeng Jews" mit der Wahrnehmung
und dem Verhältnis der chinesischen Obrigkeit und Gesellschaft gegenüber den
Kaifenger Juden während der verschiedenen Zeitepochen von der Song-Dynastie
bis zur Gegenwart. Wie war ihr gesellschaftlicher Status? Inwieweit konnten
sie ihre religiösen und kulturellen Gebräuche ausüben? Wie war die
Perzeption innerhalb der chinesischen Bevölkerung? Sein Standpunkt, dass mit
der totalen Assimilation der Kaifenger Juden ein Schlusspunkt gesetzt sei,
provozierte ein kontroverse Diskussion.
Frau WEI Naxin, Dipl.-Übs., (Universität Mainz,
Germersheim) berichtete in ihrem Vortrag "Contemporary Perception of Jews
and Judaism among the Jewish Descendants in Kaifeng" über die Ergebnisse
einer im Frühjahr 2003 durchgeführten Umfrage an Hand eines umfangreichen
Fragebogens und von in den Jahren 2000 und 2003 aufgezeichneten Interviews
unter den Nachkommen der Kaifenger Juden. Ihr Ziel bestand weniger in einer
Analyse der Ergebnisse, die, auch wenn die Befragung keinen Anspruch erhebt,
erschöpfend und repräsentativ zu sein, aufschlussreiche Fakten und Tendenzen
aufwiesen. Deren Interpretation in Verbindung mit weiterführender
Feldforschungsarbeit gehörten zu den künftigen Aufgaben der Wissenschaftler.
Die Daten bezogen sich vor allem auf die aktuelle Selbstwahrnehmung und
Situation der Nachkommen der Kaifenger Juden, ihre familiären und
wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, ihre Beziehungen untereinander, ihre
Kenntnisse bzw. Vorstellungen über Juden, die jüdische Religion und Kultur,
ihre Ansichten zur Assimilierung ihrer Vorfahren und ihre Erwartungen an die
Zukunft.
Prof. YIN Gang (Chinesische Akademie der
Sozialwissenschaften, Beijing) präsentierte in seinem Vortrag "Between
Disintegration and Expansion – A Comparative Retrospection of the Kaifeng
Jewish and Muslim Community" einen historisch vergleichenden Überblick und
bislang kaum bekannte Fakten über die moslemische und jüdische Gemeinde in
Kaifeng während der Dynastien Song, Jin, Yuan und Ming. Er untersuchte
kontrastiv den sozialen Status der Juden und Moslems und analysierte die
gesellschaftlichen und juristischen (zeitweiliges Heiratsverbot innerhalb
der eigenen Gemeinschaft) Hintergründe einerseits der allmählichen
Schwächung der jüdischen Gemeinde und andererseits der Expansion und
Stärkung der islamischen Gemeinde innerhalb der Kaifenger Bevölkerung.
Der aus Israel angereiste junge Chinawissenschaftler Noam
URBACH (Hebrew University, Jerusalem) umriss in seinem Vortrag "What’s
holding back the Reconstruction of the Kaifeng Synagogue? Between Revival
and Obliteration of Kaifeng Jewry" Erlebnisse und Ergebnisse seiner
Feldforschung in Kaifeng. In seinen Recherchen beleuchtete er erstmals die
politischen Hintergründe, die nach dem Beginn von Chinas Öffnungspolitik
zunächst 1993 zu einem Höhepunkt an Engagement seitens der Stadtregierung
und verschiedener Persönlichkeiten Kaifengs zur Wiederbelebung der jüdischen
Kultur, jedoch im Jahr 1996 zum plötzlichen Ende aller diesbezüglichen
Initiativen führten. Hierzu gehörten konkrete Pläne, die Mitte des 19.
Jahrhunderts zerfallene Synagoge im alten Stil einschließlich einem
Gemeindezentrum und einer Schule neu zu errichten. Auch die für einige Jahre
praktizierte Registrierung der Nachkommen als "Juden" (youtai) in den
offiziellen Einwohnerakten wurde rückgängig gemacht und verboten. Die
Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und China brachte
nicht die erhoffte Verbesserung der Lage der jüdischen Nachkommen. Im
Gegenteil, ihre Anerkennung und Unterstützung wird auf bilaterales
Einvernehmen hin vermieden.
Tagungsszene: (Erste Reihe von links nach rechts)
Dr. Donald D. Leslie (Australien), Dr. Maisie Meyer (U.K.),
Prof. PAN Guang (China), Dr. Salomon Wald (Frankreich),
Prof. XU Xin (China), Prof. YIN Gang (China) und
Mr. Zhang Ligang (China)
Frau Dr. Maisie MEYER (London) gab uns in ihrem Vortrag
"Baghdadis, 'Chinese Jews' and Chinese" Einblicke in das Leben und die
Umstände der aus Bombay stammenden jüdischen Geschäftsleute, die sich nach
dem Abschluss des Vertrages von Nanjing 1842 als britische Staatsbürger in
dem nun geöffneten Handelshafen Shanghai ansiedelten. Die Bezeichnung
'Bagdader Juden' bezieht sich ursprünglich auf großenteils Arabisch
sprechende Juden aus Ländern des Nahen Osten, Aden, Jemen, Irak, Persien und
Afghanistan. Das Vorhaben und die Bemühungen der Shanghaier "Bagdadis"
zwischen 1898 und 1904 sowie zwischen 1924 und 1932, in Kaifeng die jüdische
Kultur wieder zu beleben, waren zwar vergebens, zeugten jedoch von deren
starker Identität mit der jüdischen Kultur, die bis 1949 in Shanghai präsent
war.
Prof. Robert E. ALLINSON (The Chinese University of Hong
Kong) stellte in seinem Referat zum Thema "A Comparison Between Hillel and
Confucius: The Proscriptive Versus the Prescriptive Formulation of the
Central Ethical Principle in the Jewish and Chinese Ethical Traditions"
fest, dass sowohl in der jüdischen als auch in der chinesischen ethischen
Tradition präskriptive wie auch proskriptive Formulierungen von Bedeutung
sind, wie dies in der 'Goldenen Regel' zum Ausdruck kommt. Er gelangte zu
der These, dass in beiden Traditionen ein vergleichbarer semantischer Rahmen
gesetzt und gemeinsame ethische Werte definiert seien.
Dr. Salomon WALD (The Jewish People Policy Planning
Institute, Jerusalem/Paris) analysierte in seinem Vortrag "Chinese Jews in
European Thought" die Reaktionen und Erwartungen europäischer Denker, wie
Menasseh Ben Israel, Leibniz, Voltaire, Basnage, Marquis d'Argens, Kant und
Abbé Grégoire, auf die Entdeckung der jüdischen Gemeinde in Kaifeng hin. Er
untersuchte die Zusammenhänge der beschriebenen Reflexionen über Juden in
China mit der europäischen Debatte dieser Zeit über Judentum und Christentum
im Allgemeinen, den Kontext der philosophischen und religiösen Überzeugungen
der Autoren und die Auswirkungen dieser Entdeckung auf die europäische
Geistesgeschichte – wobei jedoch keinerlei direkte Einflüsse der
chinesischen Juden selbst zu verzeichnen waren. Dies prägte auch die frühe
Entwicklung der europäischen Sinologie, etwa unter Abel Rémusat und
Stanislas Julien.
Dr. ZHOU Xun (SOAS, University of London) referierte in
ihrem Beitrag "The 'Jews' in the May Fourth Period" über das neuzeitliche
chinesische "Judenbild" während der Bewegung des Vierten Mai bzw. der Neuen
Kulturbewegung zwischen 1915 und den 1930er Jahren. Welche Bedeutung hatten
diese Vorstellungen für die geistige Elite in dem Bestreben, China zu
modernisieren, und inwieweit beeinflusste die jiddische Literatur und das
jüdische Theater die Literaturreform während dieser Periode? Sie kam zu dem
Schluss, dass in der gleichen Weise, wie westliche 'Wissenschaft' und
'Demokratie' als 'modern' gepriesen wurden, vielen Literaturreformern der
Bewegung des Vierten Mai dieses konstruierte Bild der Juden sowohl als
Inspiration wie auch als Hoffnung auf der Suche einer neuen Identität
diente.
Prof. Dr. XU Xins (Universität Nanjing) Vortrag wurde im
Plenum gespannt erwartet, da sich die Nachricht der zu kommunizierenden
"wichtigen Neuigkeiten" bereits herumgesprochen hatte. Unter dem Titel "On
Chinese Policy towards Judaism" umriss er kurz die tausendjährige Geschichte
des "Chinesischen Judaismus", wobei die chinesische Politik seit 1950 strikt
zwischen den Juden der alten Zeit, die integraler Bestandteil der
chinesischen Gesellschaft wurden (Kaifeng), und den nach 1840 immigrierten
Juden unterscheide. Insbesondere ging er auf die Situation und die
politischen Entscheidungen in den über fünfzig Jahren der Volksrepublik ein.
Aufschluss über die jüngere chinesische Politik bezüglich der Behandlung der
Nachfahren der Kaifenger Juden und der Wiedererrichtung der historischen
Stätten brachte vor allem ein Dokument, das 1953 von der "Vereinten Front
des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas" abgefasst worden war.
Es sagt aus, dass die Nachfahren der Kaifenger Juden nicht als ethnische
Gruppe angesehen werden könnten, da diese weder eine eigene gemeinsame
Sprache und Tradition noch einen gemeinsamen Wohnort hätten und seit
geraumer Zeit eine völlige Vermischung mit der Han-Bevölkerung stattgefunden
habe.
Prof. Dr. Peter KUPFER (Universität Mainz, Germersheim)
untersuchte in seinem abschließenden Vortrag "The Situation of Jewish
Culture in China in the Past, Present and Future" die Situation der
Kaifenger Juden und ihrer Nachkommen im Hinblick auf die Erhaltung des
jüdischen Kulturerbes. Er hinterfragte zunächst die gängige Interpretation
der konfuzianischen 'Toleranz', die die Kaifenger Juden über Jahrhunderte
weitgehend unbehelligt ließ, und formulierte die These von der 'Ignoranz',
die ihnen von Seiten der chinesischen Staatsorthodoxie und Gesellschaft
vielmehr wiederfuhr. Unter diesem Aspekt sei auch eine Reihe von angeblichen
historischen Fakten zur Ankunft und Legitimation der ersten jüdischen
Siedler in Kaifeng möglicherweise lediglich das Ergebnis von
Legendenbildung. Vor diesem Hintergrund mag auch ihr sozialer Status im
Verlauf der Geschichte neu bewertet werden. Eingehende Recherchen zur von
der Forschung bislang weitgehend ausgeklammerten modernen Geschichte seit
1949, insbesondere zu den katastrophalen Folgen ("final blow") der
Kulturrevolution für die verbleibenden Traditionsgüter und
Identifikationsdokumente der Nachfahren der Juden, würden noch manche
interessanten Fakten ans Tageslicht bringen. Allerdings seien
diesbezüglichen unbefangenen Forschungaktivitäten immer noch zu viele Türen
verschlossen. So bleibe die grundsätzliche Frage, wie man mit den bis heute
zweifellos vorhandenen "complicated feelings" (Zhang Qianhong) der
Nachfahren und mit ihrem neuerdings wieder erwachten Wunsch nach
Identifizierung mit der Kultur der Vorfahren umzugehen habe. Ungeklärt
bleibt bis heute die Haltung der offiziellen Stellen in China, aber auch
eine deutliche Position Israels. Die Hoffnung auf eine eines Tages offene
Diskussion und auf ein Bekenntnis der Stadt Kaifeng und der chinesischen
Politik zu diesem integralen Teil von Chinas Geschichte, was für alle
Beteiligten nur von Vorteil wäre, wird nicht aufgegeben.
Die Schlusssitzung am späten Nachmittag des 22. September
wurde von Prof. Malek und Prof. Kupfer geleitet. Auf eine kurze
Rekapitulation der Beiträge und neuen Erkenntnisse der vergangenen drei Tage
folgte eine lebhafte Diskussion um die verschiedenen Standpunkte, Ideen und
Perspektiven. Ausnahmslos wurde das diesmalige Symposium von den Teilnehmern
als neuer Meilenstein in der sino-judaistischen Forschung gewürdigt. Die
Erwartung wurde geäußert, in regelmäßiger und institutionalisierter Form
nachfolgende Tagungen durchzuführen. Da jedoch die künftigen politischen
Voraussetzungen momentan noch schwer einzuschätzen sind, erfolgte vorläufig
noch keine diesbezügliche Festlegung. Man einigte sich lediglich auf die
Minimalinitiative der Etablierung eines internationalen Netzwerkes, zunächst
konkretisiert durch eine Newsgroup im Internet, für deren Organisation sich
N. Urbach bereit erklärte. In jedem Fall angestrebt wird die baldige
Publikation der durchwegs positiv bewerteten Beiträge dieses Symposiums. Der
offizielle Teil der Veranstaltung endete mit einem festlichen Menü im
Restaurant "Stadtgarten" in Germersheim, was zur weiteren Vertiefung der
alten und neuen Freundschaften beitrug.
Besondere Erwähnung verdient nicht zuletzt das
interessante und aufwendig vorbereitete Rahmenprogramm. Vor dem Symposium,
am Vormittag des 19. September, wurde für die bereits eingetroffenen Gäste
aus Übersee eine Stadtführung durch die Festungsstadt Germersheim sowie eine
anschließende Besichtigung des FASK organisiert, dessen
Dolmetschlehranlagen, wohl die größten und modernsten weltweit, besonders
beeindruckten. Beim Abendessen nach dem Symposiumsbeginn, einem Freitag,
veranstalteten die jüdischen Teilnehmer für alle eine gemeinsame
Shabbatfeier. Ein besonderes Erlebnis war ein anschließendes nächtliches
Konzert im Speyerer Dom mit mittelalterlicher Musik, das unter dem Motto
"Auf den Spuren Abrahams" stand. Vor allem der letzte Teil des Konzerts, der
in der Krypta stattfand und bis nach Mitternacht dauerte, dürfte für die
Gäste unvergesslich bleiben: christliche, arabische und jüdische Gesänge aus
dem mittelalterlichen Spanien und Marokko, welche die vielfältigen
Verbindungen zwischen den drei Bibelreligionen und den
orientalisch-okzidentalischen Sprach- und Musiktraditionen offenbarten.
Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zum Judentum in
China fand am Sonntagabend (21. September) ein Empfang mit rund sechzig
geladenen Gästen statt. Nach einer Begrüßung durch Prof. Kupfer hielten der
Vizepräsidenten der Universität Mainz, Prof. Dr. Johannes Preuß, und der
Landrat des Kreises Germersheim, Dr. Fritz Brechtel, Ansprachen. Prof.
Malek, der die hochwertige Ausstellung mit seinen Kollegen maßgeblich
gestaltet hatte, gab eine Einführung in die Thematik und die wichtigsten
Exponate. Es wies auf die Ziele der Ausstellung hin, die jüdische Präsenz in
Kaifeng sowie auch in Shanghai und an anderen Orten in China zu
dokumentieren, im historischen Zusammenhang darzustellen und unter
interkulturellen und interreligiösen Aspekten zu beleuchten. Viele Relikte
und Dokumente seien leider über die ganze Welt verstreut und zum Teil nicht
oder nur schwer zugänglich. In hervorragend replizierten und faszinierenden
Text- und Bilddokumenten wurde auf dieser Ausstellung das Judentum im
traditionellen wie im modernen China präsentiert. Vier Originalgemälde des
Kaifenger Malers Zhou Xiang, der selbst zu den jüdischen Nachkommen gehört,
demonstrierten die Imagination über die Vergangenheit, wie sie heute noch
unter diesen anzutreffen sei. Besondere Aktualität vermittelten die im
Frühjahr 2003 in Kaifeng aufgenommenen Fotografien von Prof. Kupfer mit
Motiven der Stadt und der Familien jüdischer Nachkommen. Ein weiterer
zentraler Teil der Ausstellung war eine Buchvitrine mit einschlägiger
Fachliteratur zur Erforschung der Juden in China. Die ebenfalls
ausgestellten Grußworte von Bundespräsident Rau, von Paul Spiegel und des
Forschungszentrums für Judaistik in Shanghai unterstrichen die
wissenschaftliche und informative Bedeutung der Ausstellung.
Der weitere Verlauf des Abends – einige Vertreter der
Öffentlichkeit konnten begrüßt und den teilweise anwesenden Sponsoren
nochmals gedankt werden – wurde umrahmt von einem deutsch-hebräischen
Erzählkonzert der israelischen Akkordeon-Künstlerin Revital Herzog und von
einem multikulturellen Büfett, das Dr. Bopst, FASK, mit seiner Projektgruppe
"Weltkochbuch" gestaltete.
Zwei Exkursionen, die erste am Nachmittag des 21. September nach Speyer und
die zweite ganztägig am 23. September nach Worms, Osthofen und zur
Weinstraße, widmeten sich schwerpunktmäßig den bedeutenden Orten der
jüdisch-europäischen Geschichte. Der 95. Speyerer Bischof, Dr. Schlembach,
persönlich stellte den Teilnehmer den größten romanischen Kirchenbau der
Welt vor. Eine von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Speyer organisierte
Führung zur Ruine der Synagoge und zum ältesten Judenbad Europas schloss
sich an. In Worms erwartete die Gäste ein überaus interessanter Streifzug
durch die alte jüdische Kultur: Besuch der restaurierten Synagoge mit
Raschi-Schule und Museum sowie ein Abstecher zum ältesten jüdischen Friedhof
Europas. Die anschließende Besichtigung der mit bewundernswertem
Privatengagement in den letzten Jahren eingerichteten KZ-Gedenkstätte
Osthofen in der Nähe von Worms informierte die Teilnehmer in anschaulicher
Weise über eines der erschütterndsten Kapitel der jüngeren Geschichte.
Den Ausklang dieses letzten Tages bildete eine Fahrt zur
Deutschen Weinstraße, eine Weinprobe in einem idyllisch gelegenen Winzerhof
und ein kulinarischer Abend in einem der ältesten Pfälzer Traditionslokale
im Ort Birkweiler.
Ohne die – oft spontane – vielseitige organisatorische und
finanzielle Unterstützung wäre die Durchführung des Programms in diesem
Umfang nicht möglich gewesen. Ausdrücklich gedankt sei deshalb den
zahlreichen Helfern aus Sankt Augustin und Germersheim sowie den folgenden
Sponsoren: Germersheimer Bürgermeister Hänlein, Landrat Dr. Brechtel,
Speyerer Bischof Dr. Schlembach, Speyerer Bürgermeister Brohm,
Deutsch-Israelische Gesellschaft Speyer, Wormser Oberbürgermeister Kissel,
Förderverein Projekt Osthofen e.V., Freundeskreis des FASK e.V., Bund der
Germersheimer e.V., Lions-Clubs Germerheim und Landau, Autohaus
Rittersbacher, Nolte Holding GmbH, Sparkasse Germersheim-Kandel, VR Bank
Südpfalz, Hotel Kurfürst (Germersheim) und Herrn Heinrich Scherer
(Germersheim).
Gruppenfoto von Teilnehmern und Helfern des Symposiums
Text in English
hagalil.com
02-12-2003 |