Yom Kippour zwischen Kongreß- und Filmpalast:
Erlebnis einer "Deutschen" bei den "Spaniern"
In meiner neuen südfranzösischen Heimat lese ich, in der
kleinen Synagoge, am Sabbat vor den Festtagen, folgende Ankündigung:
Sonntag, den 5. Oktober, ab 18 Uhr 30, Kol Nidrei im
Palais du Congrès, dem Kongreßpalast, Salle Vincent Scotto ("Adieu, Venise
provençale" etc). Montag, den 6. Oktober 2003, ab 8 Uhr 30, Yom Kippour
ebendort. Deutsch, schließlich weist frau nichts auf als eine aschkenasische
Großmutter namens Beatrice Mannheimer, bin ich pünktlich dort. Frau kann ja
nicht wissen, ob frau noch einen Platz kriegt, nicht?
Um 19 Uhr tauchen die ersten Männer mit Yarmulka auf. Ich
bin also hier richtig. So eine Viertelstunde später kommt der Rabbi und
öffnet die Flügeltüren. Hinein strömen mindesten 22 Leute, Alter zwischen 40
und 80.
Zügig erkennt mich eine Frau als nicht der sephardischen
Region zugehörig. Sie stellt sich als Giselle Schwarz vor und erklärt mir,
das sei zu deutsch noir. Ich danke.
Dann beschäftigt sich der Rabbi, eigens eingeflogen aus
Paris, damit, die Frauen, die es wagen, nicht hinter der weißen Gardine,
sondern schräg davon, bis wo die Gardine nicht reicht, Platz zu nehmen, in
die Schranken, sprich hinter den Tüll zu verweisen. Das ist lustig. In der
Synagoge in Berlin, Joachimstaler Straße, sitzt frau hinter Kaninchendraht,
so daß der weiße Tüll schon eine Art Upgrading ist.
Es beginnt der Gottesdienst. Sagt man so? Hier heißt das
"office", und zwar "office sépharade".
Inzwischen kommen noch mehr Leute, auch Familien mit
Kindern. Die Frauen unterhalten sich, manchmal betet auch eine, die Mädels
sind superschick angezogen, so klein und jung sie sein mögen: Schuhe passen
zum Pulli, Augenwimpern sind so lang, daß frau Wäsche dran aufhängen könnte,
kurz, es ist eine Wonne, die Mädels anzuschau'n.
Ernste Jungens, gerade bar mitzwah und bar jeder Hemmung,
springen hin und her und vertreiben sich so die Zeit, während Vater vorn
beim Rabbi steht.
Der Gottesdienst dauert, weitere Leute kommen an. Der
Kongreßsaal ist schon zu einem Achtel gefüllt. Ich frage eine Frau neben
mir, die vierzig Jahre Kol Nidrei in Paris hinter sich hat, warum so wenig
Menschen hier seien. Sie erklärt mir, es gebe noch eine andere Feier, die
sei im Cinéma Marcel Carné, im Kinosaal, ungefähr fünf Minuten vom
Kongreßpalast. Warum, frage ich.
Mann war sich nicht einig über den Rabbi. Da er mich
ärgert, weil er die Frauen scheucht, beschließe ich, am nächsten Tag ins
Kino zu gehen. Dort war ich noch nie, kein "Terminator III", nichts. Es wird
also Zeit. Die Frau sagt mir, der Yom Kippour, das werde den ganzen Tag
andauern. Entretemps, also inzwischen, werden die Gebete für den nächsten
Tag verkauft und es kommen an die 300 Euro zusammen.
Nach der Zeremonie gehe ich, nach beendetem Gottesdienst,
so gegen 22 Uhr 30 nach Hause bzw. Rahamim, Alter: ca. Anfang dreißig, fährt
mich hin. Ich erkläre ihm, ich sei schon Mitte fünfzig, was meinen Ausstieg
aus dem Auto beschleunigt. Immerhin bin ich ganz stolz, daß er's nicht
gleich gesehen hat.
Endlich zu Hause, werfe ich mir meinen Lieblingskantor
Gershon Sirota mit seinem berühmten Kol Nidrei ein. Aaaah, endlich
angekommen! Für diejenigen, die's nicht wissen: er war bis 1928 Kantor der
großen Warschauer Synagoge. Wenn er singt, sinke ich weg.
Le lendemain matin, am nächsten Morgen, so gegen 8 Uhr 30,
gehe ich ins Kino. Dort werde ich strahlend begrüßt. Bei der
Taschenkontrolle wird auch mein Gebetbuch gebührend gewürdigt. Es ist das
falsche Buch, weiß ich, aber die dreizehn Grundregeln des Rambam gelten
immer. Auch das Kaddisch für die Attentatsopfer kann ich damit sagen.
Es beginnt eine wirklich langatmige Zeremonie. Sehr
beeindruckt mich, daß zur Aushebung der Torah alle Männer sich ganz dicht
vorn drängeln. Sie beten manchmal auch, in dem sie sich zusammenschließen
unter ihren Gebetsmänteln. Dann sieht frau mal acht, mal drei mal vier
Männer, wie unter einem Zelt stehen. Ansonsten sehen sie in ihren Mänteln
aus wie Wüstensöhne.
Die Männer unterhalten sich dann stundenlang, über die
Torah-Rolle gebeugt. Mit einem kleinen vergoldeten Lesefingerchen tippen sie
auf Stellen und unterhalten sich anschließend tête-à-tête. Mit den Frauen
hat das alles rien à faire. Eine junge Frau, in der Reihe hinter mir, schaut
angestrengt in einem hebräisch verfaßten Buch immer auf die selbe Stelle.
Aha, sie kann auch die Sprache nicht. Oben, auf dem Balkon, sitzen zwei
Damen, ganz weiß gekleidet, auch ihre üppigen schwarzen Haare sind ein ein
weißes Netz gehüllt. Sie schauen freundlich und weisen mir den Weg zum
Lavabo. Ich begebe mich wieder auf meinen Platz. So gegen 12 Uhr 30 hört
mein inneres Ohr das Chanson von Django Reinhardt "I saw stars", das in der
berühmten Einspielung vom 12. Dezember 1934, mit Patrick et son orchestre de
danse. Ich zähle drei Sterne, und beschließe, daß der Abend eingebrochen
ist.
In einem kleinen Resto esse ich zu Mittag, dann eile ich
nach Hause und schreibe weiter an einem Artikel. Viel Kraft hat mir der Yom
Kippur gegeben. Warum, weiß ich auch nicht. Es ist aber so.
Seid nun herzlich gegrüßt von Euerer Freundin aus dem
Süden!
P.S. Vielleicht ist ja die nächste Feier im Zirkus?
hagalil.com
24-09-2003 |