Das neue Wahlrecht:
Welche Siegeschancen hat Le Pen?
Von Bernard Schmid
Le Pen baut erklärtermaßen darauf, dass das neue Wahlrecht
nicht so sehr - wie durch die Regierung erwartet - den großen Parteien,
sondern vor allem auch dem Front National zugute komme. Wie sieht es damit
wirklich aus?
Es ist prinzipiell möglich, dass das Wahlrecht den Front
National tatsächlich begünstigt, falls er ein hohes Ergebnis erhält. Erst im
März und April dieses Jahres hatte die konservative Parlamentsmehrheit in
Paris am Wahlrecht für die Regional- wie auch die Europaparlamentswahlen,
die beide im nächsten Jahr stattfinden, herum gedoktort. Um dem eigenen
politischen Lager vermeintlich einige wackelnde Mehrheiten zu sichern,
wurden etwa für die Regionalwahlen Bestimmungen angekündigt, welche vor
allem die stärkste Liste begünstigen.
Erstens wird für die Regionalparlamentswahlen (die alle sechs
Jahre stattfanden, in allen 22 französischen Regionen am gleichen Datum)
eine zweite Runde eingeführt. Diese fanden bisher in einem Wahlgang statt,
anders als die Präsidentschafts- und nationalen Parlamentswahlen. Dabei
wurden die Sitze nach dem Mehrheitswahlrecht verteilt, d.h. anteilsmäßig auf
alle Listen, die mindestens 5 Prozent der Stimmen bekommen haben. Dies war
für zahlreiche kleinere und mittlere Parteien günstiger als das (bei
nationalen Parlamentswahlen geltende) Mehrheitswahlrecht und ermöglichte
ihnen, mit Abgeordneten in den Regionalparlamenten vertreten zu sein. So
sitzen bspw. seit der letzten Regionalparlamentswahl vom 15. März 1998 auch
rund 20 Vertreter(innen) der radikalen Linken, besonders der beiden
trotzkistischen Parteien, in mehreren Regionalräten.
Ab der nächsten Regionalparlamentswahl, die am 21. März 2004
stattfinden wird, gilt ein anderes Verfahren. Demnach werden zwei Wahlgänge
abgehalten, wobei nur ein Teil jener Listen, die im ersten Durchgang
antreten, auch in der Stichwahl präsent sein können. Die Bedingungen, die
definieren, welche Listen den ersten Wahlgang "überleben" können, dürften
den Front National tendenziell besonders begünstigen (siehe unten).
Dabei werden - zweite größere Neuerung - künftig diejenigen
Listen, die als stärkste Kraft aus dem zweiten Wahlgang hervorgehen,
deutlich begünstigt. So werden künftig derjenigen Liste (von zweien oder
auch mehreren), die das höchste Einzelergebnis erhält, vorab 25 Prozent der
Sitze zugeteilt - bevor die übrigen Mandate dem prozentualen Anteil der
Parteien entsprechend verteilt werden. Das könnte unter Umständen in manchen
Regionen wirklich den FN begünstigen, wie dessen Chef öffentlich kalkuliert.
Die Neuregelungen im Detail - und warum sie den FN
begünstigen
Ursprünglich hatte die neokonservative Raffarin-Regierung das
Wahlrecht so ändern wollen, dass nur die beiden Listen, die in der ersten
Runde am besten abschnitten, überhaupt in die Stichwahlen gehen sollten. Das
sollte vor allem den bürgerlichen Block sowie die Sozialdemokratie
begünstigen, hätte jedoch auch vielerorts zu einer Wiederholung der
Konstellation des 21. April 2002 sorgen können, als der erste Durchgang der
Präsidentschaftswahl Le Pen als einzigen Herausforderer neben dem
Amtsinhaber Jacques Chirac übrig ließ. Denn bei der Präsidentschaftswahl
gelten genau diese Bestimmungen, d.h. es bleiben nur die beiden
bestplatzierten Kandidaten nach der ersten Runden übrig. So konnte Le Pen
allein, neben Chirac, in die Stichwahl gelangen.
Bei den Regionalparlamentswahlen hätte sich diese
Konstellation an einigen Orten wiederholen können, denn der Kandidat Le Pen
hatte am 21. April 2002 immerhin in 7 von insgesamt 22 Regionen das höchste
Einzelergebnis erhalten (was aber, aus mehreren Gründen, nicht direkt auf
die Regionalwahlen übertragbar sein dürfte). Zugleich aber handelt es sich
bei diesem Szenario um dasjenige, in welchem der FN wohl die geringste
Chance hätte, wirklich den Sieg davon zu tragen. Weil er dann in einem
"Einer-gegen-alle"-Turnier eine sehr breite Koalition von GegnerInnen auf
den Plan ruft - die alle das Kreuz auf dem Stimmzettel an der selben Stelle
machen, da nur noch eine Gegenoption zum FN übrig bleibt.
Der Conseil d'Etat, das oberste Verwaltungsgericht, hat
jedoch Premier- und Innenminister im Frühjahr 2003 an den Ohren gezogen und
befunden, dass diese Wahlrechts-Änderung - die nach dem ersten zweiten
Wahlgang nur noch zwei politische Blöcke übrig lässt - undemokratisch sei
und das (heterogene) französische politische Spektrum zu sehr einenge. Das
trifft auch zu, da es etwa für die Grünen und die radikale Linke
(Trotzkisten) die Unmöglichkeit bedeutet hätte, auch nur die geringste
Chance auf Präsenz im zweiten Wahlgang oder aber auf Einflussnahme (bei
Rückzug ihrer Listen gegen politische Zugeständnisse seitens der größeren
Linksparteien) zu haben. Auch die christdemokratisch-liberale UDF, die
wahrscheinlich eigenständige Listen neben der großen bürgerlichen Kraft -
der Regierungspartei UMP - aufstellen wird, wäre dadurch sofort zwischen den
großen Blöcken zerrieben worden. Durch die obersten Richter zum Nachbessern
an ihrem Entwurf gezwungen, verabschiedete die Regierung dann im April 03
eine anderen Neuregelung.
Künftig muss eine Liste 10 Prozent (statt bisher 5 Prozent)
der Stimmen im ersten Durchgang erhalten, um im zweiten Wahlgang noch
präsent sein zu können. Und sie muss mindestens 5 Prozent (statt bisher 3
Prozent) erhalten haben, um künftig einer anderen Liste anbieten zu können,
zu deren Wahl im zweiten Durchgang aufzurufen, wenn sie ein paar
KandidatInnen der schwächeren Kraft auf ihre eigenen Listen übernimmt.
Dieses neue "Fallbeil" (couperet) im ersten Wahlgang dürfte jedoch eine
perverse Wirkung nach sich ziehen: Die neue Regel sorgt tendenziell für den
Ausschluss aller anderen kleineren und mittleren Parteien (KP, Grüne,
Trotzkisten, vielleicht auch der UDF) - aber sie behindert nicht oder kaum
den Front National.
Denn die erstgenannten kleineren Parteien werden künftig (von
regionalen Sondersituationen abgesehen) kaum Chancen haben, im zweiten
Wahlgang präsent zu sein oder ihren Rückzug - etwa auf der Linken zugunsten
der Sozialdemokratie - ernsthaft zu verhandeln. Hingegen beeinträchtigt die
neue 10-Prozent-Regel die extreme Rechte so gut wie überhaupt nicht. Dazu
zwei Zahlen: Bei der Präsidentschaftswahl 2002 lag Le Pen in ausnahmslos
allen Regionen über der Zehn-Prozent-Marke. Und bei der letzten
Regionalparlamentswahl im März 1998 überschritt der FN in 16 von 22 Regionen
die Zehn-Prozent-Marke, in drei weiteren lag er nur knapp unter den 10
Prozent, mit Ergebnissen zwischen 8,8 und 9,9 Przoent. (Siehe Überblick in
"Le Monde" vom 18.10.2003)
Doch dem FN werden derzeit überall höhere Ergebnisse als bei
den letzten Regionalwahlen vor sechs Jahren vorhergesagt. Bei einer
Befragung von Politologen und Wahlforschern durch die Nachrichtenagentur AFP
Anfang Oktober antwortete die führende FN-Kennerin Nonna Meyer, sie rechne
damit, dass die rechtsextreme Partei "leicht" ein nationales
Durchschnittsergebnis von 17 Prozent einfahre (gegenüber 15 Prozent bei den
Regionalparlamentswahlen 1998). Die Konjunktur ist günstig, da die
regierenden bürgerliche Rechte Abnutzungserscheinungen zeigt, aber zugleich
eine halbwegs erkennbare Alternative seitens der großen Linksparteien
ausbleibt. Damit hat der FN beste Chancen, in 19 von 22 Regionen in die
Stichwahl zu gelangen.
Dabei wird sich aber ein perverser Nebeneffekt bemerkbar
machen: Dank des neuen Wahlrechts werden in der Regel wahrscheinlich nicht
zwei, sondern drei Listen (in manchen Fällen auch vier, da in manchen
Regionen auch mit der radikalen Linken gerechnet wird, die aber in
Wirklichkeit eher geringe Aussichten auf Überschreiten der 10 Prozent hat)
die Vorraussetzungen erfüllen, um im zweiten Wahlgang präsent zu sein. Wenn
beispielsweise drei Listen die Zehn-Prozent-Hürde schaffen, dann dürfte der
FN in der Regel einem Mitte-Links- und einem Mitte-Rechts-Block gegenüber
stehen. Das aber erhöht seine Siegeschancen deutlich gegenüber einer
Konstellation, in der nur zwei Listen präsent sind, da es die Stimmen der
FN-GegnerInnen auf zwei Blöcke verteilt.
Dies könnte dann ausgeschlossen werden, wenn die
Sozialdemokratie plus Anhang (KP, Grüne, Š) einerseits und die
Konservativ-Liberalen andererseits sich darauf einigen können, dass eine
ihrer beiden Listen sich zurückzieht. Das aber ist in den meisten Fällen
höchst unwahrscheinlich, aus einer Reihe von Gründen. Erstens sind Vertreter
beider großen politischen Lager der Ansicht, es sei für die politische
Debatte und "Kultur" nicht gut, wenn beide großen Blöcke zu nahe im Konsens
zusammenrücken ; tatsächlich könnte dies den FN noch verstärken, da er dann
als "einzige Alternative gegenüber einem Kartell von Komplizen" da stünde.
Schwerer aber wiegt der zweite Grund: Er besteht darin, dass
jene politische Kraft, die einen Rückzieher macht, künftig höchstens mit
einigen wenigen Abgeordneten im Regionalparlament vertreten sein werden.
Nämlich mit denen, welche die noch verbleibende Liste auf den eigenen
Wahlzettel aufnimmt, falls es überhaupt zu einem solchen Abkommen zwischen
den beiden Listen (des Mitte-Links- sowie des Mitte-Rechts-Blocks) kommt.
Denn, drittens, das ist sogar sehr unwahrscheinlich. Die juristischen Regeln
des neuen Wahlrechts werden das nämlich in den meisten Fällen verhindern:
Falls es zu einer "Fusion" zwischen zwei Listen kommt, wenn also die
schwächere von beiden Listen sich zurückzieht und im Gegenzug die stärkere
Liste einige Kandidaten der anderen aufnimmt, dann müssen beide Listen auch
gemeinsam ihre Wahlkampfkosten abrechnen. Diese Kosten aber sind nach dem
französischen Wahlrecht durch eine gesetzliche Obergrenze limitiert. Wenn
nun aber beide Listen, bevor die eine ihren Rückzug erklärt, ihr gesetzlich
zulässiges Wahlkampfkosten-Budget bereits zum Großteil ausgeschöpft haben,
dann kommt ein Zusammenschluss beider Listen gar nicht mehr in Frage. Denn
das würde bedeuten, dass die solcherart "verdoppelte" Liste sofort weit
oberhalb des zulässigen Höchstwerts an Wahlkampf-Ausgaben liegen würde.
Damit aber würde die Wahl ihrer Abgeordneten, nach geltendem französischem
Wahlrecht, für ungültig erklärt, womit der gesamte Wahlgang wiederholt
werden müsste.
Aus diesem Grund hält "Le Figaro" (20. Oktober 03) Abkommen
zwischen dem Mitte-Links- und dem Mitte-Rechts-Block über den jeweiligen
Rückzug ihrer Listen, wo es gilt, den Front National zu blockieren, für
äußerst unwahrscheinlich. Eine solche Einigung würde schlicht bedeuten, dass
diejenige politische Kraft, die ihren Rückzug akzeptiert, die Aussicht auf
sechsjährige völlige Abwesenheit aus dem Regionalparlament hinnimmt.
Und besonders in der Region PACA, wo die (partei)politischen
Kämpfe mit sehr harten Bandagen ausgetragen werden, gilt ein solches
Abkommen zur Selbstverpflichtung auf Rückzug als quasi unmöglich. Erstens
aufgrund der erbitterten Gegnerschaft zwischen Bürgerlichen und Sozialisten
und erheblicher (teilweise mafiösen) Eigeninteressen von Lokalpolitikern und
Parteiapparaten. Und zweitens, weil gerade in PACA, angesichts der Präsenz
der "Wahlkampfmaschine Le Pen", besonders hohe Ausgaben im Wahlkampf zu
erwarten sind. Wird Le Pen also dabei der lachende Dritte sein? Das wird man
sehen müssen.
hagalil.com
27-10-2003 |