Prozess um falsche Papiere:
Farce vor Gericht
Die Staatsanwaltschaft Göttingen stellt die
ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde vor Gericht - und inszeniert
eine Farce
Von Jan Langehein
Der Prozess gegen die ehemalige Vorsitzende der
jüdischen Gemeinde Göttingen, Eva Tichauer Moritz, hätte nicht stattzufinden
brauchen. Darüber waren sich am Ende im Saal B 15 des Göttinger Amtsgerichts
eigentlich alle - mit Ausnahme des Staatsanwalts Olaf Bruns - einig.
Schon der zum Auftakt verlesene Anklage folgten die
meisten der Zuschauer ungläubig: Tichauer Moritz habe, so der Vorwurf, Mitte
der neunziger Jahre in vier Fällen Flüchtlingen aus der ehemaligen
Sowjetunion einen Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik verschafft, indem
sie ihnen eine jüdische Abstammung attestierte. Hierzu habe sie vorsätzlich
Urkunden, die nach Ansicht der Staatsanwaltschaft auf den ersten Blick als
Fälschungen zu erkennen gewesen seien, als Belege für die jüdische
Abstammung der Aufnahmewilligen oder ihrer Mütter gewertet. Auf dieser
Grundlage habe sie den Ausländerbehörden die Anerkennung der Betroffenen als
jüdische Kontingentflüchtlinge empfohlen.
Tichauer Moritz wies die Vorwürfe am ersten Prozesstag
weit von sich. Nicht sie habe schließlich die Flüchtlinge als jüdisch
anerkannt, sondern die Göttinger Ausländerbehörde; und das auch in einigen
Fällen, bei denen sie Zweifel angemeldet habe. Die rechtliche Verantwortung
für die Anerkennung der "falschen Juden" - wie eine südniedersächsische
Nachrichtenagentur die vier Fälle bezeichnenderweise nannte - liege also
nicht bei ihr, sondern bei der Stadt. Zudem habe sie die ihr anvertrauten
Fälle "nach bestem Wissen und Gewissen" geprüft - sie sei nur nicht für
solche Maßnahmen geschult gewesen. Da sie als gebürtige Chilenin weder
russisch noch ukrainisch spreche und auch die kyrillische Schrift nicht
lesen könne, habe sie die betreffenden Urkunden keineswegs "auf den ersten
Blick" als Fälschungen erkennen können. Auch die Staatsanwaltschaft sei zu
dieser Erkenntnis ja erst nach umfangreichen kriminaltechnischen
Untersuchungen durch das niedersächsische Landeskriminalamt (LKA) gekommen.
Um die jüdische Abstammung der Antragssteller trotz
fehlender Sprachkenntnisse prüfen zu können, hatte Tichauer Moritz mit ihren
Klienten über die jüdische Religion gesprochen, sie hatte in Zweifelsfällen
Kontakt mit den Rabbinern der Herkunftsgemeinden aufgenommen und diese
gebeten, auf Friedhöfen nach jüdischen Vorfahren zu forschen. Zudem hat sie
die Unterlagen an den damaligen niedersächsischen Landesrabbiner, Dr. Henry
Brandt, weitergeleitet, um von diesem ebenfalls eine Beurteilung der
Abstammung zu erhalten. Dr. Brandt, der in dem Prozess als Zeuge aussagte,
erklärte, auch er habe in solchen Fällen nach bestem Wissen und Gewissen
geprüft. Auch ihm seien keine Fälschungen aufgefallen, an die konkreten
Fälle aus Göttingen könne er sich aber nicht erinnern. Allerdings sei er
damals in derartigen Verfahren unsicher gewesen. Lieber hätte er im
Zweifelsfall einem Nicht-Juden eine jüdische Abstammung attestiert, als
einen Juden aufgrund von Bedenken zurückweisen zu müssen.
Diese Schwierigkeiten des Rabbiners gründen ebenso wie die
Flüchtlingsprüfung der Göttinger Gemeinde in einem Erlaß des Landes
Niedersachsen aus dem Jahr 1993, der den Umgang mit Kontingentflüchtlingen
im sogenannten "ungeregelten Verfahren" festlegte, mittlerweile aber durch
andere Bestimmungen abgelöst wurde. Danach sollte die zuständige
Ausländerbehörde bei Menschen, die mit einem Touristenvisum aus Ländern der
GUS in Deutschland einreisten und dort als Kontingentflüchtlinge anerkannt
werden wollten, unter Mithilfe der jüdischen Gemeinden über den Antrag
entscheiden. Die erst 1994 wiedergegründete Gemeinde in Göttingen war von
den daraus resultierenden Aufgaben schlicht überfordert. Mit keiner Handvoll
ehrenamtlichen Mitarbeitern, ohne Schulung und ausgebildete Dolmetscher,
musste sie nicht nur Dutzenden neuen Mitgliedern auf Ämtern sowie bei der
Wohnungs- und Arbeitssuche helfen, ihnen Deutschkurse organisieren und ihre
Kinder in Jugendgruppen betreuen, sie musste in einigen Fällen - eben denen
der "ungeregelten Einreise" - auch noch die Richtigkeit der Angaben über
ihre jüdische Herkunft überprüfen.
Unwidersprochen ist, dass dabei Fehler passierten.
Tichauer Moritz selbst brachte noch in den späten Neunzigern zwei der Fälle
zur Anklage, die sie in dem Verfahren nach Ansicht der Staatsanwaltschaft
selbst vorsätzlich verschuldet haben soll. Bei einer bereits anerkannten
Person wurde sie stutzig, als sich eine Verwandte beim Betreten der
Gemeinderäume bekreuzigte. Als sie erfuhr, dass es sich bei der Dame um die
Mutter der betreffenden Person handelte, prüfte sie deren Urkunden erneut,
diesmal unter Mithilfe eines russischen Neumitglieds der Gemeinde. Diesem
fielen Unregelmäßigkeiten auf, Tichauer Moritz brachte den Fall bei
Staatsanwaltschaft und Ausländerbehörde zur Anzeige. Auch bei einer weiteren
Familie wurde sie stutzig. Diese hatte ihre überstürzte Ausreise aus der GUS
damit begründet, dass ihr Sohn antisemitischen Drohungen an seiner Schule
ausgesetzt gewesen sei. Als der Junge jedoch in der Jugendgruppe der
Gemeinde erklärte, er habe von Juden zum ersten Mal in Deutschland gehört,
überprüfte Tichauer Moritz auch die Angaben dieser Familie erneut, wiederum
erstattete sie Anzeige.
Bei den anderen beiden Fällen, die vor dem Göttinger
Amtsgericht verhandelt wurden, ist bis heute nicht abschließend geklärt, ob
es sich bei den Betroffenen nun um Juden handelt oder nicht. Spätestens seit
Ende der neunziger Jahre sind also eigentlich alle auch noch so weit
hergeholten Gründe hinfällig, gegen Tichauer Moritz überhaupt zu ermitteln.
Warum sollte sie Menschen Anzeigen, denen sie wenige Jahre zuvor vorsätzlich
eine falsche Identität verschafft hatte?
Von ihren Anzeigen hörte Eva Tichauer Moritz indes nie
wieder etwas; wohl aber von der Polizei. Im Januar 2001 stürmten Beamte
frühmorgens ihre Wohnung und die Räume der jüdischen Gemeinde. Sie habe sich
nicht einmal ohne Bewachung anziehen dürfen, so die damalige Vorsitzende
empört. Der Vorwurf damals war im wesentlichen der, der in dem Prozess
zweieinhalb Jahre später auch verhandelt wurde. Sie habe Nicht-Juden eine
falsche jüdische Identität verschafft. Warum sie das getan haben sollte? Bei
den ersten Ermittlungen geisterte wenigstens noch ein angebliches Motiv
durch die Göttinger Medienlandschaft: Sie habe für ihr Handeln
Bestechungsgelder in fünfstelliger Höhe sowie Pelzmäntel erhalten. Von
diesem Vorwurf war in der fertigen Anklageschrift nicht mehr die Rede. Weder
besaß Tichauer Moritz einen Pelzmantel, noch konnten die Behörden
finanzielle Unstimmigkeiten feststellen.
Standen schon die Ermittlungen gegen die mittlerweile
ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde auf tönernen Füßen, wurde das
Verfahren in der Hauptverhandlung endgültig zur Farce. Staatsanwalt Olaf
Bruns konnte über seine Behauptung hinaus, sie habe die in kyrillischer
Schrift geschriebenen Urkunden sofort als Fälschungen erkennen müssen,
während des gesamten Prozesses kein einziges Indiz für seine Vorwürfe gegen
Tichauer Moritz vorbringen. Aufgeben wollte er trotzdem nicht: Obwohl
Richterin Sandra Bleckmann bereits am Ende des ersten Verhandlungstages die
Beweisaufnahme geschlossen und erklärt hatte, sie könne jetzt das Urteil
fällen, beharrte der Staatsanwalt zu Beginn des zweiten Tages auf die
Einführung eines neuen "Beweises" und legte ein Vernehmungsprotokoll des
Bundesgrenzschutzes mit Tichauer Moritz aus dem Jahre 1997 vor. Was dieses
Protokoll belegen sollte, blieb indes unklar: Die Angeklagte sagte dort aus,
dass es bei den Überprüfungen der jüdischen Abstammung manchmal
Schwierigkeiten gebe. Da die Vernehmung nach den beiden oben erwähnten
Anzeigen stattfand, berichtete sie aus Erfahrung.
Trotz des für ihn desaströsen Verlaufs der Beweisaufnahme
hielt Staatsanwalt Bruns bis zum Schluß an seinen Vorwürfen fest. In seinem
Plädoyer verstieg er sich zu Aussagen, die sich hart am Rande des
Antisemitismus bewegten. So hätten gleich nach den Hausdurchsuchungen 2001
"besondere Göttinger Kreise" versucht, die Staatsanwaltschaft unter Druck zu
setzen, erklärte Bruns in Bezug auf Briefe an seine Behörde, die das
Vorgehen gegen die jüdische Gemeinde als unangemessen bezeichnet hatten. Er
habe daraufhin extra nochmal im Grundgesetz und in der Strafprozessordnung
nachgesehen, aber keine Regelungen gefunden, die "Mitglieder jüdischer
Gemeinden" von strafprozessualer Verfolgung ausschlössen. "Vor dem Gesetz
sind alle gleich" belehrte er Angeklagte und Zuschauer, als ob das jemand in
Zweifel gezogen hätte. Auch die Juden müssten dies mal einsehen, war der
unausgesprochene Subtext seines Plädoyers.
Auf eine in dubio pro reo-Regelung angesichts der
schwachen Beweislage wollte sich Bruns nicht einlassen. Selbst die Aussage
einer Entlastungszeugin, Tichauer Moritz sei, nachdem die Zeugin eine
Urkunde als falsch erkannt habe, entsetzt gewesen, wertete er als Indiz für
die Schuld der Angeklagten. Schließlich habe ja die Zeugin die Urkunde als
Fälschung erkannt. Für den ersten der vier Fälle forderte er eine Geldstrafe
von 30 Tagessätzen, für die nächsten drei - "Wiederholungstat" - je 50
Tagessätze. Als Gesamtstrafe sah er 90 Tagessätze vor, genau den Wert also,
ab dem Tichauer Moritz im Falle einer Verurteilung als vorbestraft gegolten
hätte.
Die Richterin Sandra Bleckmann schloss sich dagegen
weitgehend der Argumentation der Verteidigung an. Sie sprach die Angeklagte
in allen vier Fällen frei. Olaf Bruns reicht selbst dieses Urteil nicht hin.
Unmittelbar nach Abschluss des Verfahrens legte er Berufung ein. Vor dem
Landgericht soll die Farce ein zweites Mal aufgeführt werden.
hagalil.com
30-09-2003 |