Von Larry
Luxner
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Montevideo, August 2003 - Marina ist die Nichte von Überlebenden des
Holocaust. Ihre Eltern arbeiten in der Textilindustrie, doch zum Geld sparen
hat es nicht gereicht, weil sie sieben Kinder groß gezogen haben. Heute
verkauft die 36-jährige Marina Musik-CDs auf den Straßen der Hauptstadt
Montevideo oder führt die Hunde von reichen Familien aus.
Ester, eine 63 Jahre alte Witwe, war an das gute Leben gewöhnt. In den
50-ger Jahren besaß ihr Vater acht Schlachtereien in Uruguay und gehörte zur
jüdischen Elite des kleinen südamerikanischen Landes. Inzwischen reicht die
Rente, die sie vom Staat bezieht, kaum zum Leben aus. Auch die finanzielle
Unterstützung durch ihre zwei Söhne, von denen einer in Israel lebt, hilft
nur wenig weiter.
Ester und Marina, die beide ihre Nachnamen nicht nennen wollten, sind
zwei Beispiele für die zunehmende Armut unter den uruguayischen Juden. Dabei
wies Uruguay, zwischen Argentinien und Brasilien am Atlantik gelegen, vor
nicht allzu langer Zeit die gerechteste Einkommensstruktur ganz
Lateinamerikas auf.
Bis vor kurzem waren 40.000 der 3,3 Millionen Einwohner Juden. Allein in
den letzten drei Jahren ist fast die Hälfte von ihnen ausgewandert, vor
allem nach Israel. Die Mehrzahl der Verbliebenen legt in Montevideo, nur gut
fünf Prozent in kleineren Städten oder dem berühmten Seebad Punta del Este.
"Die meisten Leute hier denken, dass es der jüdischen Gemeinde sehr gut
geht und dass es unter Juden keine Armut gebe. Sogar Abgeordnete und
Journalisten sind dieser Meinung," sagt Ed Kohn, Vizepräsident der jüdischen
Organisation B'nai B'rith in Uruguay. Die neuestes Studie, die von einer
jüdischen Organisation in den USA in Auftrag gegeben wurde, zeigt eine
andere Realität: 22 Prozent der Erwachsenen Juden in Uruguay leben
demzufolge in Armut, und über 40 Prozent läuft Gefahr, in die Armut
abzurutschen.
Verantwortlich für diese Lage, so die Autoren des 138-seitigen Berichts,
ist die katastrophale ökonomischen Lage im Nachbarland Argentinien. Früher
kamen von dort und aus Brasilien Millionen von Touristen nach Uruguay, so
dass die Tourismusindustrie der mit Abstand größte Devisenbringer Uruguays
war. Heute liegt diese Branche und auch große teile des Handels mit dem
südlichen Nachbarn brach. Die bisher stabile Währung verzeichnet inzwischen
eine Inflation von 25,9 Prozent im Jahr, das Bruttoinlandsprodukt ist um
alarmierende 10,8 Prozent geschrumpft.
"Es ist die schlimmste Krise seit 100 Jahren," so der 62-jährige
Mofa-Fabrikant Leonardo Rozenblum. Er ist Vorsitzender der gemeinnützigen
"Stiftung Tzedaka Uruguay", die die jüdische Gemeinde vor fünf Monaten ins
Leben rief, um verarmten jüdischen Familien zu helfen. "Wir geben den Leuten
Gutscheine, mit denen sie Lebensmittel einkaufen können, oder kleine
Stipendien, damit die Kinder auf jüdische Schulen gehen können," erklärt
Rozenblum die Arbeit der Stiftung. Wir betreiben auch eine Apotheke, damit
die Mittellosen kostenlos Medikamente bekommen können.
In der Straße Soriano, nur wenige Ecken vom Sitz von B'nai B'rith
entfernt, sind viele der jüdischen Geschäfte geschlossen. Es fehlt an
Kundschaft, der Müll auf der Straße zeigt, dass es den Leuten im
Stadtviertel immer schlechter geht. Zwar wohnen viele jüdische Familien noch
in schönen großen Wohnungen, aber oft leben sie von ihren Ersparnissen und
besitzen nicht viel mehr als die vier Wände, in denen sie leben. In Pocitos,
dem schicken Wohnviertel in Montevideo, wo über die Hälfte der jüdischen
Familien lebt, sind es oft nur noch die Fassaden der schönen Häuser, die an
bessere Zeiten erinnern.
Während der 67 Jahren, in denen B'nai B'rith in Uruguay tätig ist, hat
die Organisation vor allem soziale und kulturelle Arbeit geleistet. "Doch
vor zehn Jahren hat sich niemand vorstellen können, dass die Lage irgendwann
so kritisch werden könnte, dass wir einem so großen Teil der jüdischen
Gemeinde unter die Arme greifen müssen," sagt Luis Grosskopf,
Präsident von B'nai B'rith in Uruguay.