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Die Jüdin,
die das Mitleid hasst

aus Vatra Dornei
KENO VERSECK

"Schau mal nach, was das ist", sagt sie, "das ist vor ein paar Tagen aus New York gekommen. Es ist auf Deutsch, glaube ich." Melanie Mehler nimmt einen großen Briefumschlag von der Kommode. Die Jewish Claims Conference hat ihn geschickt: Einen Antrag in deutscher Sprache, mit dem sie nachforschen lassen kann, ob ihre Eltern in der Schweiz ein Bankkonto oder eine Versicherung hatten.

Sie wird wütend. "Schon wieder ein Antrag! Ich hab die Nase voll von Anträgen! Woher soll ich wissen, ob meine Eltern Geld in der Schweiz hatten? Ich war ja noch ein Kind, sie haben mit mir nicht über Finanzen geredet." Sie setzt ihre riesige Lesebrille ab, die schon Jahrzehnte alt sein muss, und steckt den Umschlag wieder weg. "So war nun mal das Leben." Ihre Stimme klingt hart und entschlossen. "So war unser Schicksal. Die Entschädigung macht Vater auch nicht wieder lebendig." Meistens lächelt sie kokett, macht schnippische Bemerkungen. Dann wirkt sie, trotz ihrer feinen, silberweißen Haare wie ein Mädchen. In anderen Momenten sieht sie wieder alt und verloren aus.

Sie versucht zu scherzen. "Komm, lass diesen Antragsunsinn! Wenn dich mein Schicksal so sehr bewegt, dann kümmere dich von mir aus darum, dass ich eine Entschädigung kriege. Aber später. Übrigens, das Bankhaus Mehler akzeptiert Zahlungen in Mark, Dollar und anderen harten Währungen."

Melanie Mehler ist Rentnerin in Vatra Dornei. In dem Ort in der Bukowina, im Norden Rumäniens, leben rund 20.000 Menschen. Fast 40 Jahre hat Melanie Mehler hier als Buchhalterin der Handwerksgenossenschaft gearbeitet. Ihr Mann war Direktor eines Steinbruchs. Er ist vor sieben Jahren gestorben. Ihre Tochter wanderte noch unter der Diktatur aus, wie fast alle Juden im Land, zuerst nach Israel, später nach Botswana.

Seit einigen Jahren ist Melanie Mehler Verantwortliche der Jüdischen Gemeinde in Vatra Dornei. Sie richtet die Synagoge für den Sabbat her, empfängt die wenigen Besucher von auswärts und hält den Friedhof in Ordnung. Gerade ist sie 70 geworden. Melanie Mehler wird wohl die letzte sein im Amt der Gemeindevorsteherin. Ein paar Jahre noch. Dann gibt es in Vatra Dornei keine Juden mehr.

Früher war Vatra Dornei ein jüdisches Städtchen, wie die meisten Kleinstädte in der Bukowina. Heute ist es eine fast rein rumänische Stadt und ein bekannter Kurort. Er liegt in einem idyllischen Tal, umgeben von Bergen und Tannenwäldern. Durch die Mitte von Vatra Dornei, da wo früher viele Juden wohnten, führt heute der Ion-Antonescu-Boulevard. Er ist benannt nach dem rumänischen Diktator und Hitlerverbündeten, der im 2. Weltkrieg die Juden aus der Bukowina in das besetzte sowjetische Transnistrien deportieren ließ.

Ein paar Schritte vom Boulevard entfernt, in der Fußgängerzone, steht die kleine, alte Synagoge. Gleich dahinter, im Hof, wohnt Melanie Mehler, in einem alten Haus mit zwei bescheiden eingerichteten Zimmern. "Wir sind hier die Vereinten Nationen", lacht sie. "Als Nachbarn habe ich Rumänen und Zigeuner, und ich bin die Jiddin." Sie benutzt das rumänische Schimpfwort für Juden.

Es ist Samstagabend. Das Tor zur Synagoge steht offen. Manche Leute blicken im Vorbeieilen erstaunt. Der Nachbarhund tobt an der Kette. Zwei Gendarmen, die in einem Café gegenüber Wache halten, schlendern herüber und fragen, ob alles in Ordnung ist.

In der Synagoge riecht es traurig nach vergangener Zeit. Alte Möbel, Gläser und Gebetsbücher stehen herum. Nur der kleine Raum an der Stirnseite ist für die Gläubigen hergerichtet: Lesepult und Schrein in der Mitte, zu beiden Seiten je ein Tisch und eine Bank.

Nach und nach treffen die Leute ein. Dudi Gantz, der den Rabbiner spielt, hält sich gut. Er ist erst 65. Die anderen haben gebeugte Rücken und sind schwach auf den Beinen. Ada Blechner stützt sich zitternd auf ihren Stock und sinkt erschöpft auf die Bank. Selten kommen alle. Heute aber sind sie da: fünf Frauen und zwei Männer. Nach den religiösen Regeln darf ein Gottesdienst nur abgehalten werden, wenn mindestens zehn Männer zusammenkommen. Die Juden in Vatra Dornei müssen dagegen verstoßen, wenn sie nicht auf das gemeinsame Gebet verzichten wollen.

Eine der fünf Frauen ist Carla Bercovici. Sie lächelt: "Sehen Sie, wir sind die Juden von Vatra Dornei." Sie ist 87 Jahre alt und sorgfältig geschminkt. Sie schaut dem Besucher in die Augen. Schließlich sagt sie: "Traurig, nicht wahr?!"

Die Frauen erzählen Neues von Verwandten aus Israel und Amerika und tauschen empört die neuesten antisemitischen Nachrichten aus. Wer wieder gehetzt hat gegen Juden, welche judenfeindlichen Schriften noch erschienen sind. Dann reden die Frauen über Krankheiten, Medikamente und die Anstrengungen des Fastens. "Nun hört schon auf zu jammern, ihr zarten Mädchen", ruft ihnen Dudi Gantz zu, "entweder ihr fastet und schweigt, oder ihr esst, so wie ich. Jeder, wie er mit seiner Gesundheit kann." Er beginnt, die Gebete zu lesen. Er spricht als einziger in Vatra Dornei noch hebräisch.

"Ah, jetzt kann ich wieder rauchen, einen Kaffee trinken und essen", sagt Melanie Mehler erfreut, als das Abendgebet zu Ende ist. Sie deckt gefilten Fisch auf, eingelegte Paprika und selbstgebackenen Kuchen. Dazu gibt es Carmelwein, den schickt die Gemeinde aus der Hauptstadt Bukarest. Es ist kalt im Haus. Solange das Thermometer an der Eingangstür keine Minusgrade anzeigt, heizt sie am Samstag tagsüber nicht. So hält sie ein religiöses Gebot ein und spart auch Holz. Sie ist eine gewissenhafte Gläubige und eine praktische Frau. Und sparen muss sie. Ihre Rente beträgt knapp 150 Mark im Monat.

Vor 100 Jahren flüchteten Melanie Mehlers Großeltern vor den Pogromen aus Russland in die rumänische Moldau. Ihre Eltern, Josef und Chaia-Pesa Weinstock waren aufgeklärte Juden und lebten ein gutbürgerliches Leben als Musik- und Rumänischlehrer in der ostrumänischen Metropole Jassy. Das war zu Ende, als Ion Antonescu an die Macht kam. Die Eltern verloren ihre Arbeit, die Tochter Melanie durfte die rumänische Schule nicht mehr besuchen, der Vater musste sich tagsüber zur Zwangsarbeit melden. Jüdischer Besitz wurde konfisziert, es gab Ausgangssperren für Juden, das Tragen des Judensterns wurde Pflicht.

Am 29. Juni 1941 wurde Melanie Mehlers Vater von zu Hause abgeholt und kam nicht wieder zurück. Es war der Tag des Pogromes von Jassy und des "Todeszuges von Podul Ilioaiei", der Auftakt zum rumänischen Holocaust. Rumänische und deutsche Soldaten pferchten an diesem Tag hunderte von Juden in Viehwaggons und ließen den Zug solange hin und her fahren, bis die Eingeschlossenen erstickt und verdurstet waren. Melanie Mehlers Vater war 33 Jahre alt.

"Es war Sonntag", erzählt Melanie Mehler. "Unser Nachbar und der Friseur von gegenüber haben den Gendarmen zugerufen, dass noch nicht alle Judenmänner aus den Häusern raus sind. Vater musste sich in eine lange Kolonne einreihen. Er hat mich geküsst und gesagt, Papa kommt schnell wieder. Das waren seine letzten Worte. Nach drei Monaten haben wir seinen Ausweis bekommen, mit Blutflecken darauf. In Podul Ilioaiei wurden die Leichen in eine Grube geworfen, eine Reihe Leichen, eine Reihe Kalk. Nach dem Krieg hat die Gemeinde dort eine Gedenkstätte eingerichtet. Da konnte ich endlich eine Kerze anzünden für Vater."

Sie geht in die Küche und holt noch Kaffee. Sie will nicht, dass jemand ihre Tränen sieht. Sie möchte etwas Lustiges sagen und ruft ins Wohnzimmer: "Bald kannst du mir auch eine Kerze anzünden. Ich ziehe ja demnächst um. Hab das Apartment auf dem Friedhof schon bezahlt."

Ihre Mutter heiratete nie wieder. Melanie Mehler zog in den 50er-Jahren von Jassy nach Vatra Dornei zu ihrem Mann Isaac. Er hatte die Todeslager in Transnistrien und die anschließende russische Kriegsgefangenschaft überlebt. Nach dem Krieg war er Offizier, bis viele Juden und andere Nicht-Rumänen aus dem Innenministerium und aus der Partei entfernt wurden. Erst als er drohte, nach Israel auszureisen, bekam er den Posten als Direktor des Steinbruchs.

Eine Entschädigung bekamen die Mehlers nie. Melanie Mehler stellte in den 70er-Jahren über die Jüdische Gemeinde Rumäniens einen Antrag in Deutschland. Er wurde abgelehnt. In Nordostrumänien hätten die Rumänen den Mord an den Juden selbst organisiert, lautete die Begründung. Lebte ihr Mann noch, könnte er jetzt eine Entschädigung aus dem deutschen Zwangsarbeiterfond bekommen. Aber Melanie Mehler selbst hat keinen Anspruch, auf nichts. Das hat ihr vor zwei Jahren der zuständige Vertreter der Jüdischen Gemeinde Bukarests gesagt. Seitdem ist das Thema für sie abgeschlossen. Sie ist zu stolz, um noch mal nachzufragen, zu betteln. Alles, was sie vom rumänischen Staat bekommen hat, ist eine Opferrente: etwa zehn Mark monatlich.

Warum ist sie nicht ausgewandert? Sie kann es nicht erklären. Sie weiß nur: Sie wollte nie weg. "Vielleicht waren wir, mein Mann und ich, zu sentimental", sagt sie. "Uns war jede Blume und jeder Stein hier teuer. Wer weiß, ob es zu unserem Pech war oder zu unserem Glück."

Sie lehnt sich im Stuhl zurück, zündet noch eine Zigarette an und verschränkt die Arme. "Wie soll ich sagen", hebt sie zu einer Frage an und schweigt eine Weile. "Warum willst du eigentlich über mich schreiben? Bin ich etwa ein Objekt, das Mitleid erregt?"

Sie hasst Mitleid. Sie glaubt nicht, dass es etwas Berichtenswertes über sie gibt. Und sie hat Angst. "Unter der Diktatur war es wie es war" sagt sie. "Aber das Wort Saujude haben wir auf der Straße wenigstens nicht gehört. Heute denken die Leute, dass wir Märchen über die Vergangenheit erfinden und dass wir sagenhaft reich sind. Warum kommt alles Schlechte eigentlich immer von uns?"

Hat sie Freunden und Bekannten in der Stadt irgendwann einmal etwas erzählt über sich, über ihre Eltern, über ihre Geschichte? Doch, ja, sie hat es erwähnt. Nachgefragt hat niemand. "Wir reden nicht über Politik", sagt sie. "Alle wissen, ich bin Jüdin. Und ich hab mich immer gut vertragen mit allen anderen, egal zu welcher Religion sie gehört haben. Gott ist doch einer für alle." Ihre Stimme wird wieder hart und entschlossen. "Außerdem, was hilft es mir schon, über die Vergangenheit zu reden? Gar nichts. Und Vater macht es auch nicht mehr lebendig."

taz Nr. 6664 vom 31.1.2002, KENO VERSECK

haGalil onLine 31-01-2002

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