Gerhart Hass / Feuilleton
Weltweit wird 60 Jahre nach der »Wannsee-Konferenz« vom 20. Januar
1942 der Millionen Opfer ihrer Beschlüsse zur »Endlösung der Judenfrage«
gedacht. Selten wird erwähnt, daß der Massenmord an Juden im besetzten
Polen und den gerade eroberten Gebieten der Sowjetunion bereits im Gange
war.
Noch seltener wird an die Leningrader Opfer im »Hungerwinter 1941/42«,
der schlimmsten Zeit der dreijährigen Blockade durch die deutsche
Wehrmacht, erinnert. Mehr als eine Million Zivilisten – Atheisten,
Christen, Juden – verloren durch Hunger und den Bombenterror der
deutschen Luftwaffe ihr Leben. Im Kampf an der Front fielen fast 760000
Angehörige der Sowjetarmee und der Arbeiterbataillone. Auch die
deutschen Angreifer und Belagerer zahlten mit 186248 Toten und Vermißten
sowie 573523 Verwundeten, darunter viele mit schwersten Erfrierungen,
einen hohen Preis.
Am Gedenken für die Leningrader Opfer beteiligte sich jüngst auch Der
Spiegel. Unter dem Titel »Der andere Holocaust« (Heft 1/2002, S.
122-124). Der »andere Holocaust«, den Spiegel-Autor Christian Neef dem
deutschen Völkermord an den Juden Europas an die Seite stellt, wird in
der Unterzeile als »Mord und Kannibalismus während der Leningrader
Blockade« klassifiziert. Der sowjetischen Führung lastet er an, das Land
auf einen Verteidigungskrieg nicht vorbereitet zu haben. Zugleich
verweist er auf fünf Millionen Hungertote bei der Zwangskollektivierung
in der Ukraine 1929/33 und das Verhungern Deutscher in Königsberg
1945/46. So wird das »kommunistische Regime«, vor allem das
Innenministerium (NKWD), für das Massensterben in Leningrad 1941/44
verantwortlich gemacht. Dieses Herangehen erinnert an Versuche im
»Historikerstreit« der 80er Jahre, die Vernichtungslager der Nazis als
Pendants zum »Gulag Stalins« zu relativieren.
Die Tatsache, daß die deutschen Belagerer vor dem Massensterben im
Winter 1941/42 Hunger und Kälte als Faktoren zur Durchsetzung ihrer
Kriegsziele »eingeplant« hatten, erwähnt Der Spiegel nicht. Seit Januar
1941 plante der »Wirtschaftsführungsstab Ost« beim Oberkommando des
Heeres den Wirtschaftskrieg. Einen Monat vor Kriegsbeginn, am 23. Mai
1941, legte er Richtlinien vor. Über Leningrad und Moskau hieß es: »Die
Bevölkerung der Städte wird größter Hungersnot entgegensehen müssen.« Im
gesamten Norden Rußlands würden »viele zehn Millionen Menschen
überflüssig«. Versuche, durch Lebensmittellieferungen die Bevölkerung
vor dem Hungertode zu retten, »unterbinden die Durchhaltemöglichkeit
Deutschlands im Krieg ... darüber muß absolute Klarheit herrschen«.
Solche Aussagen bestärkten Hitler, den Generalstab am 8. Mai 1941
anzuweisen, Leningrad »dem Erdboden gleichzumachen, um zu verhindern,
daß Menschen darin blieben, die wir dann im Winter ernähren müßten«.
Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb, Chef der Heeresgruppe
Nord, sein Nachfolger Feldmarschall Georg von Küchler und das ihnen
unterstellte Offizierskorps setzten diese Absichten in militärische
Befehle und Kampfhandlungen um. Das Kriegstagebuch der Heeresgruppe v.
Leeb dokumentiert, daß Generalfeldmarschall Walther v. Brauchitsch am 7.
Oktober 1941 entschied, eine Kapitulation Leningrads dürfe nicht
angenommen werden. Unter dem Datum vom 24. Oktober ist dort nachzulesen,
daß auf Ausbrüche der hungernden Bevölkerung aus der Stadt »zu schießen
ist, um sie gleich im Keime zu ersticken«. So wurde der, dem Holocaust
an den Juden artverwandte Völkermord an den Leningradern geplant und
durchgeführt.
Viele Fragen sind 60 Jahre nach dem Leningrader Hungerwinter noch offen.
Bemühen um Klärungen beherrschte im April 2001 in St. Petersburg eine
internationale Konferenz zum Thema »Leben und Tod im belagerten
Leningrad. Historisch-medizinische Aspekte«. Forschungen über die
Hungerblockade und ihre Folgen werden in bedeutendem Maße von britischer
Seite finanziert. Referiert und debattiert wurde über physiologische und
psychologische Voraussetzungen des Überlebens, über die
Durchhaltechancen verschiedener Altersgruppen, die Massenerkrankung an
Dystrophie und weitere medizinische Aspekte. Ebenso wurde über das
Bemühen der Staats- und Parteiorgane, einschließlich des NKWD, des Roten
Kreuzes usw. berichtet, das öffentliche Leben aufrechtzuerhalten,
Epidemien und Massenhysterie zu verhindern. In diesem Kontext stand ein
Beitrag von B. P. Beloserow über »Hunger und Verbrechen im belagerten
Leningrad«, der mit genauen Zahlenangaben auch über Mord und
Kannibalismus informierte.
Die Konzentration des Spiegel auf Verbrechen in der belagerten Stadt, die
kaum ein Täter ohne die extreme Situation des unmittelbar drohenden
Hungertodes begangen hätte, und das Wort vom »anderen Holocaust«
wiederbeleben, gewollt oder ungewollt, das Nazibild vom
»jüdisch-bolschewistischen Untermenschen«. Der Spiegel schreibt,
offensichtlich in Unkenntnis der Zahlen, die sowjetische Führung habe
den Zusammenbruch der Versorgung der Bevölkerung und das Ausbleiben
einer »erforderlichen Massen-Evakuierung über den zugefrorenen
Ladoga-See« zu verantworten. Tatsächlich sind trotz deutschen
Dauerbeschusses von etwa 3,2 Millionen Einwohnern und Flüchtlingen in
der Stadt 1,2 Millionen auf dem Land- und Luftwege sowie 554186 über den
Ladoga-See evakuiert worden. Die vorhandenen Vorräte verbrannten nach
deutschen Luftangriffen auf die Speicher in den ersten Kriegstagen.
Der Spiegel rückt die grausamen Seiten der Blockade in den Vordergrund.
Erst jetzt würde über die »unzähligen Fälle von Raub und Plünderung, von
Mord und Kannibalismus« berichtet. Indessen veröffentlichten die
Zeitungen der Stadt auch 1941/42 Namen von Verurteilten, die
Lebensmitteltransporte überfallen, Menschen ermordet hatten, um deren
Lebensmittelkarten zu stehlen, Schwarzhandel und Raub nachgingen. Nach
dem Sieg wurden Veröffentlichungen darüber aus der irrigen Ansicht, das
Bild von der sowjetischen Gesellschaft dürfe durch diese negativen
Seiten nicht geschwärzt werden, unterdrückt. Jeder, der die Blockade
überlebte, jeder der sich mit den zeitgenössischen Dokumenten befaßte,
wußte jedoch davon. Seit etwa 1985 ist in unzähligen Büchern, Artikeln
und Erinnerungen davon berichtet worden. Der Anklage des Spiegel-Autors,
die sowjetische Archivverwaltung habe ein halbes Jahrhundert die Akten
geheimgehalten, steht entgegen: Keine Siegermacht des Zweiten
Weltkrieges hat eher als 50 Jahre danach solche Dokumente freigegeben.
Falls es dort aber lebende Verwandte der in den Papieren genannten
Personen gibt, sind die Papiere heute noch unter Verschluß. Warum
billigt der Spiegel-Autor das vielen nach der Blockade zurückgekehrten
Leningradern, die von entsetzlichen Vorgängen in ihren Familien erfahren
mußten, nicht zu? Die Tatsache, daß der Vermerk »Ewig aufbewahren« auf
den Dokumenten steht, was der Spiegel ausdrücklich vermerkt, beweist,
daß dieses Geschehen nicht vergessen werden sollte.
In den ersten vier Nachkriegsjahrzehnten wurde die Aufarbeitung vertagt,
bis die Generation der Zeitzeugen nicht mehr existieren würde.
Inzwischen gehören Kriege wieder zum Alltag. Damit ist die Zeit reif, um
jenseits wiederbelebter Propaganda aus der Zeit des Kalten Krieges
aufzuarbeiten, was an Schrecklichem vor 60 Jahren geschah, was
Regierende planten und millionenstarke Heere vollstreckten. Die Opfer
des Völkermords an den Juden und an den Slawen, der deutschen Okkupation
und die auf den Schlachtfeldern und im Bombenhagel in der Heimat
Umgekommenen mahnen und gebieten, nicht zu vergessen, wozu Menschen in
Kriegs- und Notzeiten gebracht werden können.