von dario fo
Wir leben heute in Italien in einer Atmosphäre der Verwirrung und
des Verrats. Die verschiedenen politischen Gruppierungen fügen sich dem
neuen Faschismus, ja sie erwecken ihn in Wort und Tat erst wieder zum
Leben. Alle grölen sie die gleichen Slogans aus dem altbekannten
Repertoire: Freiheit, Aufbruch, Vaterland, Italien, Verteidigung der
Rasse, Schutz unserer Zivilisation, Leitkultur.
Zu dem, was man heute den »Interessenkonflikt« unserer Regierenden
nennt, kann ich nur sagen: Nicht einmal Mussolini hat sich eine Politik
erlaubt, die derart schamlos seinem persönlichen Vorteil und dem seiner
Anhänger gedient hätte. Wie damals ist es der Fiat-Konzern, der als
erster merkt, woher der Wind weht, und sich in Gestalt seines Chefs
Agnelli dem Regime in die Arme wirft. Auf diesem Weg folgen ihm dann die
Banken, die Unternehmen und so weiter.
Auf der anderen Seite dagegen herrscht eine beängstigende, absurde
Leere, es scheint keine Opposition mehr zu geben. Es ist wahr, und man
muss es hier sagen: Unsere Rolle ist einfach die von Dissidenten, die an
Stelle einer nicht vorhandenen politisch organisierten Opposition zu
handeln versuchen.
Ich habe den Parteitag der DS (Ex-PCI) beobachtet, alle schienen wie
versteinert. »Veränderung oder Tod«, riefen sie laut und blieben dann
wie Salzsäulen an ihrem Platz. Und doch gibt es neue Bewegungen -
Schüler und Studenten vor allem, junge Arbeiter, aber auch ein paar alte
-, die mir mit ihrem großen und leidenschaftlichen Engagement wie eine
Art Wiederauferstehung erscheinen, durchaus auch im katholischen Sinne,
eine wunderbare Wiederauferstehung der Opposition nach dem Fegefeuer.
Wie aber reagiert die Linke? Anstatt zu applaudieren und zu
unterstützen, will sie mit diesen Initiativen nichts zu tun haben, ja
sie begegnet ihnen mit Verachtung. Dabei brauchen diese jungen Leute
unsere Hilfe und die richtigen Informationen. Bei uns aber gibt es heute
keinen, der zu ihnen in die Universität ginge, wie es Jean-Paul Sartre
1968 tat, als er einen Vortrag über das politische Theater, das Theater
des Volkes, mit einem Zitat von Alberto Savinio (italienischer
Schriftsteller) eröffnete: »Erzählt, Ihr Menschen, Eure Geschichte.«
Heute spricht niemand mehr über die aktuellen Ereignisse, über die
Gegenwart, über den Zeitgeist, und nicht nur die Mehrzahl der Regisseure
und Theaterintendanten hat überaus geschickt die Seite gewechselt und
steht heute auf der Rechten, sondern auch fast alle Intellektuellen sind
wie betäubt oder tun so, als wären sie gar nicht da, als gäbe es
Wichtigeres, worum sie sich kümmern müssten.
Mich ängstigt diese Situation, sie macht mich melancholisch, aber ich
spiele natürlich weiter Theater. In unseren Arbeiten gibt es immer
wieder Stellen, die die Verhältnisse scharf beleuchten, unser Publikum
reagiert darauf, aber machen wir uns nichts vor, es sind immer die schon
Überzeugten, die zu uns kommen.
Wenn ich heute hier in Paris über den Zusammenbruch der Demokratie
spreche, vor allem, was mein Land angeht, dann muss ich einen Gedanken
äußern, der etwas Provokantes haben mag: Dass ich gezwungen bin, nach
Paris zu fahren, um mit einem Minimum an Reflexion, an Aufmerksamkeit
und an Interesse das aussprechen zu können, was mich bewegt, erinnert
mich, ob ich will oder nicht, an die Debatten, von denen mir einst mein
Vater erzählte.
Mein Vater flüchtete vor dem ersten autoritären Regime in meiner Heimat
eben hierher nach Frankreich. Und es ist beunruhigend, von den
Zeitzeugen, von den Überlebenden dieser Epoche zu hören, wie sie sich
heute in diese Zeit zurückversetzt fühlen, in die Jahre der beginnenden
faschistischen Herrschaft.
Auszüge aus der Rede, die Dario Fo am 12. Januar vor dem Collège
International de Philosophie in Paris gehalten hat. Der vollständige
Text erschien zuerst in L'Unità. Wir danken L'Unità und dem Collège für
die freundliche Genehmigung des Abdrucks.
Übersetzung: Ambros Waibel