"Was das Herz ergreift"
Ist Gewalt in einer religiösen Idee angelegt?
Oder nur im Islam?
Imam Herzog, Pater Justinus und Rabbiner Nachama trafen sich auf Einladung
der taz in Berlin zum interreligiösen Dialog - und sprachen über die Folgen
des religiös inspirierten Terrorismus, über die Entfesselung des
Diesseitigen und über den Missbrauch jedweden Gottesglaubens
Gespräch PHILIPP GESSLER
taz: Trotz der seit dem 11. September
geäußerten Forderung nach einem Dialog der Religionen: Gibt es etwas, was
Sie an den jeweils anderen abstößt?
Imam Mohammed Herzog:
So denken wir Muslime nicht. Die anderen Religionen gehören zu uns: Wenn das
Judentum nicht da gewesen wäre, gäbe es kein Christentum. Und ohne diese
beiden Religionen gäbe es den Islam nicht. Das ist eine Ergänzung, so sehen
wir es.
Das ist die theologisch richtige Antwort -
aber ist so auch Ihr Gefühl?
Imam Herzog: Ich
hatte noch nie Schwierigkeiten mit den anderen Religionen. Aber es gibt
Muslime, die sagen: "Mit denen wollen wir nichts zu tun haben." Seit dem
Golfkrieg gibt es einen interreligiösen Arbeitskreis in Berlin. Bei der
Gründung wurde ich von vielen Muslimen angegriffen: "Wie kannst du dich mit
Juden oder Christen an einen Tisch setzen und auch noch über den Glauben
diskutieren?!" Aber es ist sehr wichtig, das zu tun.
Rabbiner Andreas Nachama:
Mir persönlich kommt nichts Unangenehmes hoch, wenn ich andere Religionen
erlebe. Ich bin auch schon relativ lange im interreligiösen Dialog aktiv. In
Deutschland ist keine der drei Religionen mehr so vertreten, dass sie allein
die Gesellschaft religiös definieren könnte. Die Probleme treten dort auf,
wo wir uns in Gesellschaften bewegen, in denen eine der drei Religionen die
Staatsreligion oder die bestimmende Religion ist.
Pater Justinus:
Ich habe nichts gegen irgendeine der anderen monotheistischen
Weltreligionen. Ohne das Judentum würde das Christentum nicht existieren.
Wie bei den Juden ist es bei uns theologisch noch nicht abschließend
geklärt, wie der Islam als Religion einzuordnen ist. Aber dass man etwas
gegen eine Religion hat, nur weil sie existiert, das wüsste ich nicht.
Momentan ist viel vom Fundamentalismus die
Rede - nicht nur beim Islam: Kommt Ihnen manchmal der Gedanke,
Strenggläubige könnten Recht haben, da sie die Lehre rein halten? Muss es
sie vielleicht geben?
Pater Justinus:
Diese Fundamentalismen sind ein komplexes Problem - übrigens eigentlich ein
Begriff aus dem amerikanischen Protestantismus. Fundamentalismus betont
Besonderheiten und spielt Gegensätze aus - bei gleichzeitigem politischen
Anspruch. Die Fundamentalisten sind für mich keine im eigentlichen Sinne
religiösen Menschen. Sie betreiben Idolatrie, landläufig Götzendienst
genannt, und ein Indiz für Idolatrie ist das Erbringen von Menschenopfern.
Fundamentalisten sind letztlich keine frommen Menschen, auch wenn sie das
von sich behaupten. Im Gegenteil!
Rabbiner Nachama:
Das orthodoxe, altfromme Judentum ist nicht das eigentliche. Auch die
Orthodoxen legen sich ihre Religion heute zurecht, bestimmen heute, was
richtig ist und was nicht. Ein Orthodoxer von heute, verglichen mit den
Orthodoxen von vor zweihundert Jahren, wäre damals ein Reformer gewesen. Die
Dinge haben ihren zeitlichen Kontext. Ein Beispiel: Vor fünfzig Jahren wäre
es undenkbar gewesen, dass jemand am Sabbat mit dem Auto zu einer orthodoxen
Synagoge fährt: Den hätten die rausgeschmissen. Heute weiß der Rabbiner,
dass neunzig Prozent der Leute in seiner Synagoge mit dem Auto kommen, dass
sie eine Straße weiter um die Ecke parken. Weil heute Fundamentalismen und
Orthodoxien weltweit und in allen Religionen sich so laut bemerkbar machen,
gibt es angeblich auch eine Konjunktur jüdischer Orthodoxie. Ich glaube aber
nicht, dass dies der Kern derjenigen ist, die meine Religion in die nächste
Generation tragen.
Sie, Imam, kriegen sogar Morddrohungen von
Fundamentalisten.
Imam Herzog: Ja,
die habe ich bekommen nach den Anschlägen vom 11. September. Aber ich nehme
sie nicht so ernst. Sonst könnte man die Arbeit nicht mehr weitermachen. Ich
vermute, dass einige Drohbriefe von Muslimen stammen. Auch ich würde mich
übrigens als einen Fundamentalisten bezeichnen, aber nicht in dem Sinne,
dass ich jetzt rumrenne und andere Menschen umbringe. Das Wort wird falsch
ausgelegt. Es hört sich so radikal an, ist es aber nicht. Es heißt nur, dass
man wieder zurück will zum Fundament unserer Religion, der Heiligen Schrift.
Daran kann nichts Falsches sein. Andere machen daraus Gewalt, obwohl das
nicht dazugehört.
Momentan wird stets die Friedfertigkeit
der Religionen betont. Dabei finden sich in den Schriften Ihrer drei
Religionen Stellen, die zu Gewalt aufrufen. Muss man sich nicht dazu
bekennen, damit der Dialog ehrlich ist?
Pater Justinus:
Alle drei Religionen haben das getan. Niemand leugnet mehr, dass in der
Geschichte des Christentums, des Judentums und des Islam Gewalt im Spiel war
und teilweise noch ist. Da ist nichts zu beschönigen. Im Neuen Testament
steht beispielsweise die Aussage Jesu: "Ich bin nicht gekommen, den Frieden
zu bringen, sondern das Schwert." Dieser Satz kann aus dem Zusammenhang
gerissen werden - und alles andere, in das diese Aussage eingebettet ist,
spielt dann keine Rolle mehr. Es war oft eine Frage der politischen
Herrschaftsmeinung, die gerade bestimmend war und versuchte, religiöse Texte
für ihre Zwecke umzudeuten und zu missbrauchen. Dass sie sich dagegen oft
nicht genug gewehrt hat, das ist die Schuld von Religion.
Warum sind dennoch die heftigsten Kriege
Glaubenskriege?
Rabbiner Nachama:
Das glaube ich nicht. Bei den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts hat der
Glaube, haben die Religionen, wenn überhaupt, eher die Rolle eines Opfers
gespielt. Damit meine ich nicht nur die Schoah, sondern alles, was etwa in
der Sowjetunion passiert ist. Das 20. Jahrhundert war eines, in dem
totalitäre Ideologien einen quasireligiösen Anspruch hatten und zum Teil
Kreuzzüge gegen die Religion führten. Offenbar ist Glauben so motivierend,
dass er einem Götzendienst gleichen kann. Er kann dazu führen, das Leben
niedriger zu halten als den Tod - nicht nur den eigenen Tod, sondern auch
den Tod der anderen, den man in Kauf nimmt. Dabei ist das Leben die
Grundlage jeder Religion. Sonst führt sie sich selbst ad absurdum.
Imam Herzog:
Wenn man das richtig übersetzt, hat der "Heilige Krieg", der "Dschihad",
nichts Gewalttätiges. Aber ein kleiner Teil ist schon drin. Das ist schon
richtig. Der erste Teil ist: Ich soll mich anstrengen. Der zweite: Wenn ich
in einem Land lebe, in dem die Mehrheit Muslime ist und die Regierung etwas
gegen den Koran tut, dann soll ich meinen Mund auftun. Leider ist es heute
so, dass man in fast allen muslimischen Ländern noch nicht einmal dazu
kommt, den Mund aufzumachen: Entweder sitzt man im Gefängnis oder der Kopf
ist gleich ab. Der dritte Teil des "Dschihad" ist: Wenn meine Religion
angegriffen wird, kann ich Krieg führen. Aber in der heutigen Zeit wird der
Islam nirgendwo angegriffen. Das heißt: Ich darf keine Gewalt anwenden.
Nirgendwo! Das, was in Afghanistan passierte, war kein Glaubenskampf.
Was gefällt Ihnen an den anderen
Religionen so gut, dass Sie versucht sein könnten, zu ihr zu wechseln?
Rabbiner Nachama:
Die monotheistischen Religionen sitzen schon in einem Boot. Man will
verstehen, was der andere macht, und schaut: Hat der andere bei seinem Weg
zu Gott Strukturen, die bei mir verschüttet wurden? Sind sie so überzeugend,
dass ich sie, in welcher Form auch immer, übernehme? So erschien etwa der
Gottesdienst in der Synagoge den Reformjuden des 19. Jahrhundert relativ
unstrukturiert. Sie schauten sich an, wie es in den Kirchen lief. Sie
übernahmen den Gemeindegesang, die Orgel, ein durchkomponiertes Ganzes, ohne
ein Plagiat zu schaffen.
Imam Herzog: Für
mich ist das eine schwierige Frage, da ich ja früher Pfarrer war. Wenn mir
das so gut gefallen hätte, wäre ich ja dort geblieben und nicht zum Islam
übergetreten. Es gab Dinge, bei denen hatte ich Schwierigkeiten mit meinem
persönlichen Glauben - und der Koran gab mir Antworten. Aber: Ich bin jetzt
Muslim seit über 21 Jahren - und verstehe jetzt die christliche Religion
oder die Bibel viel besser als vorher, weil man mit anderen Religionen
zusammenkommt und einen Dialog führt. Aber es gibt sehr viele in der
islamischen Gemeinschaft, die nicht damit einverstanden sind und das nicht
begrüßen. Ich hatte vor einiger Zeit in der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg
eine christlich-muslimische Trauung - wenn einige innerhalb der islamischen
Gemeinschaft das gewusst hätten, wären die da hingekommen und hätten mich
gesteinigt: Die Frau Muslimin und der Mann war Christ. Generell sagt man:
Der Islam verbietet das. Ich sehe es nicht so. Jeder kann den Koran so
auslegen, wie er es möchte.
Sie haben viele vernünftige Gründe für den
interreligiösen Dialog genannt. Gleichzeitig sind bei Religionen gerade
Gefühle so wichtig: Müsste man den Dialog nicht vor allem über sie
voranbringen?
Pater Justinus:
Beides muss sein. Zu der nötigen intellektuellen Auseinandersetzung muss
gemeinsames Gebet oder Meditation kommen. Wie beim Friedensgebet des Papstes
in Assisi, als Vertreter fast aller Religionen ein Forum fanden, sich
auszutauschen und zu beten. Falsch aber wäre, Unterschiede zu verwischen -
eine Einheitsbreireligion, bei der alle den Eindruck erwecken: "Wir glauben
doch alle an den einen Gott." Also das Übliche, was in einer Zivilreligion
endet, wie man sie aus den USA kennt. Das stieß mir beim interreligiösen
Trauergottesdienst im New Yorker Yankee-Stadion nach dem 11. September auf.
Ich habe mich gefragt: "Was ist denn das für ein Gott, zu dem die beten?
Haben sie überhaupt gebetet?"
Rabbiner Nachama:
Die Rabbiner, die dabei waren, haben doch gesprochen wie der Bürgermeister
von New York, Rudolph Giuliani - wie Politiker. Die haben bis auf eine
Rabbinerin, die einen Psalm sprach, politische Reden gehalten. Der Dialog
der Religionen bewegt sich auf einer relativ dünnen Eisschicht.
Andererseits: Hätte es vor hundert Jahren den Dialog gegeben, den es in den
vergangenen Jahrzehnten zumindest unter Experten häufiger gab, wäre die
Geschichte des 20. Jahrhunderts anders verlaufen. Wiewohl möglicherweise
auch der Dialog, den wir hier führen, zu Formen des Fundamentalismus führt,
weil einige diesen Dialog eben nicht wollen. Zumindest im
Israel-Palästina-Konflikt könnte man solche Dinge direkt ableiten. Je mehr
dort gesprochen wird, desto größer wird die Gewalt.
Neben manchem Trennenden verbindet Sie als
Geistliche der Dienst an der Gemeinde. Ist das immer eine Freude? Gibt es
Momente, da Sie so im Reinen sind mit Ihrem Glauben, dass Sie fast jubeln
wollen?
Imam Herzog: Das
ist schwierig zu sagen. Ich bin nie zufrieden, weil ich nie weiß, ob ich
alles richtig mache. Wenn ich perfekt wäre, wäre ich ja noch besser als die
Propheten. Ich versuche aber als gläubiger Muslim, meine Pflichten zu
erfüllen. Ich strebe danach. Vollkommen werde ich nie.
Pater Justinus:
Wahrscheinlich jubelt der Glaube bei mir etwas zu selten. (lacht)
Allerdings glaube ich weniger an etwas, was dazu da ist, ständig irgendwie
ein wohliges Gefühl hervorzurufen - wie eine Art Droge, die man dann
einwirft, wenn man sich schlecht fühlt. Glaube ist vielmehr eine
Grundorientierung im Leben, die wesentlich ist. Und da jubelt man auch
irgendwann einmal, klar.
Rabbiner Nachama:
Es ist nicht allein das Fest, in dem Freude ist, die einen unbedingt jubeln
lässt. Vielmehr kann man in dem Augenblick ein Stück zufrieden sein, da man
merkt: Ein Gottesdienst ist so abgelaufen, dass die Teilnehmer etwas
bekommen, mit dem sie nach Hause gehen können. Die zehn, die das
Gebetsquorum darstellen, haben den Raum, den man durch gottgefälliges
Handeln füllen kann, ein Stück erreicht. Das ist ja immer nur temporär und
für kurze Zeit. Wenn die Leute wieder nach Hause gehen, verhallt das wie der
Trittschall in einem sakralen Raum. Das ist nicht allein vom Geistlichen
abhängig. Es ist wie ein Pingpongspiel: Was nützt es, wenn ich gut
aufschlage und der Ball nicht zurückkommt?
Pater Justinus:
Es ist doch auch so: Religiöse Zeremonien, bei denen es wichtig ist, dass
ein Gefühl der Verbundenheit und Freude zum Ausdruck kommen kann, sind immer
nur von Menschen gemacht. Deshalb ist es immer zu wenig. Man kann sich noch
so anstrengen. Das Wesentliche ist das, was von Gott geschenkt wird.
Rabbiner Nachama:
Richtig.
Pater Justinus:
Gott ist nicht verfügbar für uns Menschen. Er bleibt immer der ganz andere.
Imam Herzog: Ja.
Man sagt bei uns: "Ich kann nur so viel aufnehmen, wie weit Gott mir mein
Herz geöffnet hat." Bei unseren fünf Gebeten ist es manchmal so: Man tut es,
weil man es eben muss. Aber es gibt auch Tage, da bin ich ergriffen. Da
frage ich mich: "Wie kommt das jetzt?" Vor jedem Gebet wird gerufen. In
manchen Moscheen berührt einen das gar nicht, in anderen bin ich auf einmal
so ergriffen, dass mir die Haare hochstehen, so schlimm, dass mir Wasser
runterkommt.
"Ich sitze Tag und Nacht in Trauer", hat
ein Sufi, eine Art muslimischer Heiliger, gesagt, "ich weiß nicht, wem ich
ferne bin." Haben Sie drei manchmal diese Erfahrung: eine Gottesferne, dass
man ihm nicht nahe kommt?
Pater Justinus:
Das ist eine allgemeine religiöse Erfahrung. Im Judentum noch einmal
besonders wegen der Schoah. Klar können wir Christen sagen, dass Jesus
Christus der ist, der uns Gott in seiner Person offenbar gemacht hat -
trotzdem bleibt Gott letztlich immer der ganz andere. Oder wie es im
Arabischen heißt: "Allahu akbar!" - was ja mehr als ein Superlativ ist:
"Gott ist größer!" Er ist der, der über unsere menschliche Vorstellungskraft
unendlich hinausgeht.
Imam Herzog: Ja.
Pater Justinus:
Deshalb ist das Sich-Entziehende, diese Gottesferne, die man dann spürt, ein
wesentlicher Aspekt von seriöser Religion, gar ein unabdingbarer Aspekt.
Imam Herzog: Was
man nicht vergessen darf - das ist in unserer Lehre und, glaube ich, in den
beiden anderen Religionen auch so: Dennoch ist Gott in der Nähe. Bei uns
wird gesagt: "Es ist dir näher, als du denkst. Er ist an deiner
Halsschlagader."
Ist das vielleicht in einer
säkularisierten Gesellschaft auch Gottesferne, dass Sie sich mit Ihren
religiösen Anliegen einsam fühlen, gar als Freaks, die komische Dinge tun?
Rabbiner Nachama:
Ich glaube, es ist gerade umgekehrt. Das Judentum kann das vielleicht ganz
gut sagen, weil es über fast zweitausend Jahre nicht identisch war mit einer
staatlichen Macht. Ich denke, darin liegt eine große Chance: dass Gott im
Judentum über fast zwei Jahrtausende nicht instrumentalisiert werden konnte
für eine bestimmte Politik oder eine Uniformität des Glaubens. Es gab immer
wieder ganz andere Quellen, die sich aus der Gemeinschaft der miteinander
Betenden ergeben. Gott war im Tempel präsent, so lange wie er stand. Der
Raum der Halacha, des Gesetzes, ergibt sich seither der Überlieferung nach
durch religiöses Handeln. Das sind etwa vier Quadratmeter um jeden Betenden.
Sind aber zwei Betende zusammen, partizipieren beide zur Hälfte vom anderen
- also hat man sechs Quadratmeter.
Imam Herzog: Das
ist gut.
Rabbiner Nachama:
Sitzen zehn zusammen - und so weiter. Dieser gottgefüllte Raum wird, je mehr
beieinander sitzen, immer größer. Das entspricht auch einem Stück meiner
Erfahrung: Nicht ich allein kann so einen gottgefüllten Raum erzeugen,
sondern ich bedarf dazu des anderen.
Und das Säkularisierte der Gesellschaft
ist da kein Hindernis?
Rabbiner Nachama:
Im Gegenteil! Ich empfinde es als einen Vorteil, weil dadurch Glauben nicht
als eine Uniform der Gesellschaft missbraucht werden kann.
Imam Herzog: Bei
Führungen sind viele Besucher beim Gebet sprachlos. Sie wissen nicht, worum
es da geht. Während des Gebetes steht man zuerst in einer Reihe, dann
tauscht man, geht mal dahin und dorthin. Die Schüler fragen dann oft: "Warum
tanzen die denn da hin und her?" Ich antworte: "Je mehr Leute hier sind,
umso mehr Segen. Wenn ich dahin gehe, bekomme ich noch etwas ab vom Segen,
und dort auch. Also habe ich noch etwas mehr."
Pater Justinus:
Was die vermeintliche Säkularisierung angeht: Natürlich kann man, auf die
bekannten soziologischen Untersuchungen gestützt, diese These vertreten.
Aber ich glaube es nicht. Die Leute sind ja religiös. Aber die Götter heißen
jetzt eben "Nemax" und "Nasdaq". Es existiert eine Konsumreligion oder der
Glaube an den Markt - das sind religiöse Formen! Im Fernsehen finden Sie bis
ins Liturgische gehende Veranstaltungen. Das ist durchaus Religiosität - ob
sie bekömmlich ist, sei dahingestellt. Die klassischen Religionen treten zum
ersten Mal in Konkurrenz mit so etwas. Jetzt können sich die Leute
entscheiden, für was sie sich erwärmen und was ihr Herz ergreift. Das ist
nicht nur ein Nachteil.
Rabbiner Nachama:
Neulich gab es eine Fußballübertragung, da sagte der
Reporter: "Der Fußballmanager Rudi Assauer sitzt in seinem Tempel." Als das
Ergebnis des Spiels feststand, sagte der Reporter: "Die Messe ist gelesen."
Das ist mehr als ein Wortspiel. Das hat vom Ritualcharakter her und in
weiteren Aspekten religiöse Züge, die nichts mit Gottglauben zu tun haben.
Einerseits gibt es die Säkularisierung,
andererseits beobachten manche eine Rückkehr zur Religion. Sehen Sie das
auch so? Und kann es beides gleichzeitig geben?
Rabbiner Nachama:
Ich beobachte das schon. Das zeigt einen Trend in der Gesellschaft. Weltweit
ist das noch stärker zu beobachten als hier in Europa. Es gibt einen Weg
zurück zur Religiösität. In diesem Kontext - das sind ja auch einige der
Fragen, die an den so genannten Fundamentalismus gestellt werden - ist auch
die Hinwendung zu fundamentalen Lehren zu sehen. Das ist eine große Aufgabe
aller Religionen, nicht nur des Islam, sich nicht nur darüber zu beklagen,
dass Leute etwas Falsches predigen aus der Sicht des Mainstreams heraus.
Sondern man muss auch etwas dagegen tun.
Imam Herzog: Wir
sehen in den vergangenen Jahren, dass der Zuwachs in den Moscheen sehr stark
ist: Es sind nicht Leute, die zum Islam konvertieren, sondern solche, die
zurückfinden zur Religion, vor allem unter den Jugendlichen. Sie denken,
dass sie Halt finden. Es ist freitags in den Moscheen so voll, dass unsere
Räume, die 75 Gebetsräume und drei Moscheen hier in Berlin, viel zu klein
sind. Was darin aber eine ganz große Gefahr ist: Es gibt Radikale, die so
genannte Jugendetagen einrichten, wo Jugendliche sich zurückziehen, wo sie
diskutieren. Was auch zu beobachten ist: Jedes Mal, wenn der Islam im
Vordergrund steht, gibt es nicht die Nachfrage "Was ist Islam?", sondern:
Auf einmal kommen viele Leute, die zum Islam übertreten wollen. Das habe ich
nicht verstanden, bis heute nicht. Der Andrang ist zurzeit sehr stark. Seit
dem 11. September. Sie sind auf einmal überzeugt von dieser Religion.
PHILIPP GESSLER, Jahrgang 1967, Redakteur
im Berlinressort der taz,
schreibt häufig über Metaphysisches & Religiöses
taz Magazin Nr. 6648 vom 12.1.2002, Seite IV-V,
536
haGalil onLine
21-01-2002
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