Murmelsteins Enkel:
VOM TOD ZUM SEX
David Kassner
Zwei Bücher des jungen österreichischen Autors Doron Rabinovici zeigen
die Probleme jüdischer Identitätssuche zwischen Rachegelüsten und
Schuldgefühlen Der Tod, nicht Sex war das Geheimnis, worüber die
Erwachsenen tuschelten, wovon man gern mehr gehört hätte." Mit diesem
Satz des damals achtjährigen Mädchens läßt Ruth Klüger im Wien des
Jahres 1939 ihre mehrfach ausgezeichnete Autobiographie weiter leben
beginnen. Das Kind sollte in Theresienstadt, Auschwitz und
Christianstadt vom Tod bald mehr erfahren als ihm lieb sein konnte - vom
Sex erfährt der Leser bei Klüger nur noch soviel, dass die Gewalt in den
Lagern und danach immer auch (wenn nicht vor allem) Gewalt von Männern
gegen Frauen war. In Wien, Ende der sechziger Jahre, ist dem
achtjährigen Dani Morgenthau die Holocaust-Vergangenheit seiner Eltern
ein Rätsel, "nicht unähnlich den vielen sexuellen Geheimnissen." Dass
Vater und Mutter miteinander schliefen, schien ihm unwahrscheinlich,
gleichfalls, dass sie tatsächlich an jenen Orten gewesen sein sollten,
deren Namen er sich ebenso wenig merken konnte wie diejenigen der
Geschlechtsorgane. Dani wird über das eine wie das andere Rätsel
aufgeklärt, doch kann Aufklärung in beiden Fällen eigenes Erleben nicht
ersetzen. Vielleicht könnten das Erzählungen, die Einfühlen und
Miterleben ermöglichen, doch genau die werden Dani verweigert: Die
Mutter antwortet auf die Frage, wie sie denn nach Auschwitz gekommen sei
"stehend", und der Vater, um eine Geschichte gebeten, beginnt immer nur
mit den Worten "Es war einmal ein Junge, und der hieß Dani . . ." - da
hört das Kind schon nicht mehr zu. So bleibt ungesagt, was doch nur noch
erzählt werden kann. Moshe und Gitta Morgenthau, Danis Eltern, sind
umlagert von Toten, Angehörigen und den Millionen anderen. Eifersüchtig
wachen die Ermordeten über das Leben der Davongekommenen und verlangen
Rechtfertigungen: Warum und wofür habt gerade ihr überlebt? Wer musste
sterben, damit ihr leben könnt? "Überlebensschuld" wird dieses
Lebensgefühl etwas unglücklich genannt: Das eigene Überleben schließt
den Tod so vieler anderer ein und beruht doch nur auf Zufällen, nicht
auf (schuldhaften) Handlungen, die sich rechtfertigen oder bereuen
ließen. Die tatsächlichen Schuldigen berufen sich auf Befehlsnotstände
und höhere Mächte. Dani übernimmt die verschwiegene "Schuld" seiner
Eltern wie die geleugnete der Täter und bekennt in der Folge - ein Fall
von Überkompensation - alle uneingestandenen Verbrechen. Ob in der
Schule gefragt wird, wer Siegfried umbrachte, ob zu Hause die Tür eines
ungeliebten Nachbarn zugegipst wird oder ein Frauenmörder Wien in Atem
hält, sofort meldet sich Dani: "Ich war´s. Ich bin Schuld. Ich hab´s
getan." Schließlich tritt er zu Beginn der neunziger Jahre vor einer
großen Menge auf, und "über Lautsprecher hallte seine Stimme: ‚Genug mit
dem Lügen und Leugnen dieses Landes. Schluß mit dem Schweigen. Wir
müssen Zeugnis ablegen, müssen künden: Ich war´s. Ich bin´s gewesen. Ich
hab´s getan.´ Seine letzten Silben verklangen im Jubel." Angesichts
solcher Bekenntnislust wird ein weiterer Unterschied zwischen Ruth und
Dani, den zwei Wiener Kindern, offenkundig: Es ist nicht nur die
unmittelbare oder mittelbare Konfrontation mit dem Holocaust - dafür
haben sich die Bezeichnungen "erste" und "zweite" Generation
eingebürgert -, sondern während die kleine Ruth zur
Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger heranwuchs,
deren reale Existenz angesichts der medialen Dauerpräsenz kaum
bezweifelt werden kann, ist Dani Morgenthau eine Figur in dem 1997
erschienenen Roman Suche nach M. von Doron Rabinovici und damit - so
will es die Konvention - nicht Fakt, sondern Fiktion. Dieser Roman,
der jüdisches Leben in Wien seit den sechziger Jahren nachzeichnet,
besticht durch die gelungene Komposition - am Ende lässt sich jede noch
so nebensächliche Episode als integraler Bestandteil erkennen - und das
skurrile Personal, das seine mehr oder minder schweren psychischen
Deformationen in deutlichen Symptomen auf der Oberfläche ausstellt. Da
ist Danis Vater, der mit fortschreitendem Alter seinen Zorn, seine
Verletzungen nur noch als Fragen herausschreien kann: "Wir sind
unschuldig?", während ihm die anklagenden rhetorischen Fragen zu
Aussagesätzen geraten: "Gaskammern hat es keine gegeben! Es wurden keine
Juden umgebracht!" Da ist Leon Fischer, der sich nur mit Körben voller
Nahrungsmittel aus dem Haus wagt und nach einem irakischen
Raketenangriff auf Tel-Aviv als erstes telefonisch anfragt ob auch noch
genug zu Essen da sei oder er vielleicht "ein paar Mehlspeisen" schicken
solle. Da ist schließlich Jakob Scheinowitz, der sein Überleben einer
Verwechslung mit dem Buchdrucker Adam Kruzki verdankt und sich aus
dieser Identitätsvertauschung nicht mehr befreien kann. Als er während
eines Nervenzusammenbruchs in ein Krankenhaus eingeliefert wird, findet
er nach dem Erwachen ein Krankenblatt vor, das jenem Kruzki Lungenkrebs
im Endstadium bescheinigt. Beruhigt raucht er weiter . . .
Scheinowitz´ Sohn Arieh entwickelt eine Fähigkeit komplementär zum
Bekenntniswahn Danis: Er kann sich bis zur Identifikation in Täter
einfühlen und sie noch vor ihren Taten aufspüren. Er wird Agent des
israelischen Geheimdienstes. Rabinovici führt mit Arieh und Dani zwei
bis ins Groteske überzeichnete Extreme einer (jüdischen) Identitätssuche
und eines (jüdischen) Identitätsverlusts vor. Während Dani als
gesprächiges Kollektivgewissen, als Messias und Sündenbock den
"Fetzenjud" vorführt, ist Arieh ein Racheengel, der die Feinde des
israelischen Volkes umbringen hilft - beide "suchen sich in anderen",
wird mitgeteilt und beide scheitern. So ist das Ende des Romans der
Anfang einer neuen Suche: der Suche nach dem "eigenen", einem guten
Leben "nach Auschwitz", und deren Beginn ist die Reise in die
verschwiegene Vergangenheit der Eltern. Rabinovici, wie seine
Protagonisten ein Wiener Jude der "zweiten" Generation, hat ein weiteres
Buch vorgelegt, das eine solche Reise unternimmt: Instanzen der
Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat, nicht der berühmte
zweite Roman also, der den Menschen zum Romancier macht, sondern eine
"historische Studie", die die Fakten hinter der "Überlebensschuld" am
Extrembeispiel der Judenräte erkundet. Die Beteiligung von Juden am
Massenmord, die, wenn auch meist nur vorübergehend, Schonung bedeutete,
ist nach wie vor eines jener Tabuthemen, die sich durch permanente
Thematisierung auszeichnet - überragt vielleicht nur noch durch die
verbreitete Rede von den Lämmern und der Schlachtbank. Die vielfältigen
Forschungen zum jüdischen Widerstand besonders im letzten Jahrzehnt
haben solche Ansichten relativiert, aber nicht widerlegt. Es bleibt das
schale Gefühl, dass es sich beim Aufstand im Warschauer Ghetto, beim
bewaffneten Widerstand in Wilna, dem Anschlag auf einige Krematorien in
Auschwitz-Birkenau oder die Befreiung von 242 Juden aus einem
Deportationszug um Ausnahmen handelte, die die Regel nur um so
bedrückender bestätigen. Den Judenräten kam und kommt dabei ein zentrale
Rolle zu: Von wem, wenn nicht von der jüdischen Verwaltung, die
zumindest manchmal über das Ausmaß der Vernichtung informiert war, hätte
denn Widerstand ausgehen sollen? - Feststellen ließ sich jedoch eher das
Gegenteil: Kooperation mit den Nazis statt Konfrontation. Im jüdischen
Selbstbewußtsein sind die Judenräte die Schuldigen par excellence. Die
Diskussion um die Judenräte setzte vehement mit Hannah Arendts Buch über
Eichmann in Jerusalem ein, besser bekannt durch den Untertitel Ein
Bericht von der Banalität des Bösen. Während Arendt Eichmanns
"Banalität", seine Mittelmäßigkeit konstatiert, begegnet sie den
Judenräten mit größtem Argwohn. Denn im Gegensatz zu den deutschen und
den österreichischen Tätern, denen man zumindest noch den verfehlten
Glauben an die "gute Sache", vermeintliche Tugenden wie den unbedingten
Gehorsam oder auch nur opportunistische Duckmäuserei unterstellen zu
können meinte, kamen bei den Judenräten nur niedere Beweggründe in
Betracht: die persönliche Rettung auf Kosten des eigenen Volkes
betrieben zu haben. Angesichts solcher Pauschalurteile ist Rabinovicis
Untersuchung begrüßenswert differenziert und bescheiden. Er widmet sich
dem Wiener "Judenrat", der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG). Diese
Institution bestand schon vor dem Einmarsch deutscher Truppen, wurde
dann kurzfristig aufgelöst und im Mai 1938 von Eichmanns Gnaden wieder
eingesetzt. Es hat sich damit um eine von den Nazis eingerichtete und
abhängige Behörde ohne eigene Legitimation oder Befugnisse gehandelt -
eine "Instanz der Ohnmacht" jenseits jeglichen Handlungsspielraums.
Unter Eichmanns Führung wurde die IKG in Wien Vorbild aller anderen
Judenräte, und die von ihm eingerichtete "Zentralstelle für jüdische
Auswanderungsfragen" ließ sich später problemlos überführen in die
Zentralstelle der Deportationen, freilich ohne dass eine Umbenennung
stattgefunden hätte. Das Verdienst der Studie ist ohne Zweifel die
akribische Recherche und Auswertung des Archivs der IKG, Gespräche mit
den tatsächlich Beteiligten und der Wille zu einer Darstellung aus der
Perspektive der Opfer, womit selbstredend auch die Gemeindeleitung
gemeint ist. Rabinovici weist nach, dass die jüdischen
"Verantwortlichen" stets versuchten, sich in den Gegner
hineinzuversetzen und mit solchem Wissen jeweils das kleinere Übel zu
wählen. Dass als Ergebnis dieser Bemühungen der Mord an 65 000 Wiener
Juden steht, gereicht trotzdem nicht zum Vorwurf - Nachrichten um das
unvorstellbare Ausmaß der Vernichtungen erreichten Wien erst, als
bereits ein Großteil der Juden deportiert war und an Widerstand weniger
denn je zu denken war. Für die angebliche "Kollaboration" mit den
Nazi-Behörden sei nur ein Beispiel angeführt: Als Alois Brunner,
Eichmanns Nachfolger in Wien, jüdische Angestellte für die "Aushebung"
der zur Deportation Bestimmten anforderte, verweigerte die Gemeinde
diesen Befehl. Nachdem Klagen eingegangen waren über "Diebstahl, Raub,
Erpressung, Bestechung, ja gar Vergewaltigungen" bei den von der SS und
einigen jüdischen Helfershelfern durchgeführten Razzien, wurde doch
eigenes Personal zur Verfügung gestellt. Gut lesbar sind vor allem die
Passagen, die sich einzelnen Personen und ihren Lebensgeschichten
widmen. "Amtsleiter" Josef Löwenherz, Franzi Löw und Willy Stern, den
zwei Aufrechten in der IKG. Löw unterstützte mit großem persönlichen
Einsatz die jüdischen "U-Boote", die sich vor der drohenden Deportation
versteckt hielten, Stern lehnte die Anwerbung als Gestapo-Spitzel ab und
wurde wider Erwarten nicht sofort deportiert. Beiden blieb wegen ihrer
Zugehörigkeit zur Gemeindeleitung bisher jede Anerkennung verwehrt. Oder
dem für die Organisation der Deportationen zuständigen und späteren
Lagerältesten von Theresienstadt, Benjamin Murmelstein. Besonders an
Murmelstein, einem machtbesessenen, pedantischen, autoritären,
unnachgiebigen genauso aber auch aufrichtigen und aufopfernden
Angestellten der IKG, zeigt Rabinovici die Schwierigkeiten, ein
abgewogenes Urteil zu fällen: Murmelstein selbst behauptete zum
Beispiel, es sei seiner Intervention zu verdanken, dass das Lager
Theresienstadt nicht auf einen Todesmarsch geschickt wurde - eine
grandiose Selbstüberschätzung. Genauso übertrieben ist aber die
Einschätzung Gershom Sholems: "Gewiß ... Murmelstein ... in
Theresienstadt hätte ... verdient, von den Juden gehängt zu werden."
Weder Juden noch Deutsche können sich anscheinend damit abfinden, dass
die Juden während des Holocaust und danach gewöhnliche Menschen waren
und sind; mit allen Schwächen, Mittelmäßigkeiten, Kleinheiten und auch
den großen Ausnahmen - "Fragen des Charakters" heißt es dazu bei
Rabinovici. Eines der zentralen Ergebnisse ist daher, dass der Holocaust
nicht durch irgendwie geartete jüdische Traditionen oder psychologische
Dispositionen - die sogenannte "Ghettomentalität erklärt werden kann." -
"Keine Opfergruppe hätte unter ähnlichen Bedingungen anders reagieren
können; keine könnte heute anders handeln" - so die höchst beunruhigende
Schlussfolgerung. Was einer Lösung aus den Verstrickungen von
Überleben und Schuld trotzdem entgegensteht, ist vor allem das mangelnde
Schuldbewusstsein der Täter. Die Österreicher treten in der Studie wie
im Roman, von Ausnahmen abgesehen, denn auch nur als Klischees auf:
Dumpfe Gewalttäter im Gewand des Biedermanns, treue Familienväter, die
in ihrer Freizeit Frauen ermorden, Kriegsgewinnler, altväterliche
Rassisten, feige Denunzianten und unfähige Beamte. Nahtlos anfügen ließe
sich der kollektive Persilschein, den Bundeskanzler Schüssel mit der
Rede von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus, seinem
Land ausstellte. Rabinovici dagegen wird nicht müde darauf hinzuweisen,
dass der Antisemitismus der Österreicher es ermöglichte, in Wien in
wenigen Monaten ein System zu etablieren, das Pate stand für die
Judenpolitik des "Dritten Reichs". Wenn dann Österreich auch noch zur
Heimat nicht nur Hitlers, sondern auch des in Solingen geborenen
Eichmanns erklärt wird, schießt der Autor allerdings übers Ziel hinaus -
eine rein österreichische Angelegenheit war die Judenvernichtung denn
doch nicht. Und heute? Den ermordeten österreichischen Juden ist
mittlerweile widerfahren, was den europäischen in Berlin noch
bevorsteht: Man hat ihnen ein Mahnmal gesetzt. Ein Betonquader aus
Büchern, die ihren Rücken unsichtbar nach innen kehren, ziert seit
Oktober vorletzten Jahres den Wiener Judenplatz. Eine "steingewordene
Bibliothek des Verstummens" hat Uwe Mattheis das genannt. Dem
Gedenkstein gegenüber steht als dauernder Betrachter eine Lessingstatue,
deren kongeniale Nähe, Nathan des Weisen eingedenk, in vielen
Besprechungen hervorgehoben wurde. Nathan ist aber vor allem ein
christliches Phantasma des Juden, wie man ihn gern hätte: alt und weise,
ab- und aufgeklärt, zum Verzicht auf sein selbstredend reichlich
vorhandenes Geld sowie die Vererbung seiner Tradition an die
"blutfremde" Adoptivtochter bereit. Solche versöhnlichen Lösungen, die
immer auch Selbstaufgabe implizieren, sind indes Teil einer Aufklärung,
deren (dialektisches) Scheitern das letzte Jahrhundert vor Augen geführt
hat. In seinem Roman lässt Rabinovici die Protagonisten daher andere
Lösungen suchen. Arieh quittiert den Geheimdienst und widmet sich seiner
Familie. Dani verläßt eines Morgens das "Gefängnis von Berlin-Moabit",
wo er einen Serienkiller zum Geständnis gezwungen hat, und begibt sich,
so vermutet man, zu seiner Geliebten. Mancher könnte geneigt sein, ein
solches Ende mit Kitsch zu verwechseln - doch handelt es sich um die
Mühen der "zweiten" Generation, den Tod in Sex rückzuübersetzen, sich
aus den Verstrickungen von Schuld, Verfolgung und Identitätsverlust zu
befreien, eine Antwort auf Ruth Klüger und die "erste" Generation zu
finden. Dass ein solches Ende, dass ein Leben jenseits
selbstverzehrender Rachegelüste und Schuldgefühle nur fiktional, im
Roman, angedeutet werden kann, gehört mit zur Gegenwärtigkeit des
Vergangenen. "Die Väter haben [den Juden] als Untermenschen
hingerichtet, die Söhne richten ihn als Heiligen her", formuliert Ariehs
Frau Navah die Kontinuität von Anti- und Philosemitismus, die auch den
Lessingschen Nathan einschließt. Ob von den Enkeln anderes zu erwarten
ist, bleibt offen.
hagalil.com 26-12-01 |