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      Globalisiertes Erinnern 
      
      Yehuda Bauer wagt eine vergleichende 
		Betrachtung der Shoah. Deren Ursache und Einzigartigkeit führt er auf 
		die judenfeindliche Besessenheit einiger nazistischer 
		"Lumpenintellektueller" zurück 
      
      von MICHA BRUMLIK 
      Der Rückblick erweist das 20. 
		Jahrhundert - jedenfalls in moralischer Hinsicht - als Tiefpunkt der 
		Weltgeschichte. In der Kette größerer und kleinerer Völkermorde nimmt 
		dabei die vom nationalsozialistischen Deutschland an den europäischen 
		Juden vollzogene Massenvernichtung eine besondere Stellung ein. 
		Gegenwartsdiagnostische Überlegungen sprechen gar davon, dass die 
		Massenvernichtung zu einer Ikone der globalisierten Welt geworden sei.
 Man begeht in Deutschland den vielfältig determinierten 9. November als 
		Gedenktag auch für den Massenmord an sechs Millionen europäischer Juden, 
		obwohl inzwischen hierzulande ebenso der 27. Januar, der Tag der 
		Befreiung von Auschwitz im Jahre 1945, offizieller Anlass des Gedenkens 
		ist. Die Sorge, dass über den Bildern der brennenden Synagogen der Qualm 
		der Krematorien von Birkenau vergessen werden würde, bestand ja niemals. 
		Indem Deutschland neben dem 9. November den 27. Januar zum Gedenktag der 
		Massenvernichtung einrichtete, hat es auf kultureller Ebene das 
		nachvollzogen, was im Bereich von Wirtschaft, Politik, Recht, von 
		Tourismus und Kommunikation als "Globalisierung" gilt und damit ein 
		national zu verantwortendes und zu verarbeitendes Verbrechen 
		verallgemeinert. Dieser Prozess begann mit der Übernahme des vor allem 
		im amerikanisch-jüdischen Kontext geprägten Namens "Holocaust" für die 
		Massenvernichtung - was spätestens mit der Ausstrahlung des 
		gleichnamigen US-amerikanischen Fernsehfilms im Jahr 1978/79 begann. In 
		Israel wurde und wird das gleiche Phänomen bekanntermaßen als "Shoah" 
		bezeichnet, während in Deutschland bis etwa vor 20 Jahren der Name des 
		Ortes "Auschwitz" für die grauenvolle Sache stand. Nun sind die Namen 
		von Sachverhalten oder Begriffen, unter die sie gefasst werden, ihnen 
		gegenüber nicht gleichgültig, und es könnte sein, dass bereits die 
		Verwendung des Begriffs "Holocaust" ebenjene Tendenz in sich trägt, die 
		unter der Sache einerseits etwas irgendwie Sakrales, andererseits etwas 
		menschheitsgeschichtlich Universales und damit Globales fasst.
 
 Das, was wir als "Holocaust" zu bezeichnen uns angewöhnt haben, ist 
		unterdessen zu einer weltgesellschaftlichen Chiffre für unüberbietbar 
		bösartige Menschheitsverbrechen ebenso geworden wie zur Legitimation 
		militärischer Interventionen. Neue Räume, so die Soziologen Daniel Levy 
		und Natan Sznaider in einer aktuellen Studie über "Erinnerung im 
		globalen Zeitalter", öffnen sich: "Und die von vielen Historikern 
		geschmähte Massenkultur drängt sich in den frei gewordenen Raum. Dieser 
		Erinnerungsraum wird das kosmopolitische Gedächtnis werden. [. . .] 
		Damit zusammenhängende Fragen der Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit 
		des Holocaust führen dazu, dass diese Unterscheidungen aufgehoben 
		werden. Der Holocaust wird als einzigartiges Ereignis vergleichbar. Die 
		partikulare Opfererfahrung der Juden kann universalisiert werden."
 
 Das provoziert die Rückfrage, ob die "Shoah" wirklich so einzigartig war, 
		wie stets behauptet - eine Frage, die schon den erbitterten Streit 
		zwischen einer Reihe westdeutscher Historiker und dem historisierenden 
		Philosophen Ernst Nolte auslöste. Von Einzigartigkeit kann nicht 
		sprechen, wer den Vergleich scheut. Anders als manche vor ihm stellt 
		sich der ehemalige Leiter des Yad-Vashem-Instituts in Jerusalem, Yehuda 
		Bauer, dieser Aufgabe direkt, nüchtern und engagiert zugleich. Dass es 
		bei der Klärung dieser Frage weder darum gehen kann, das Leiden der 
		Opfer in eine Hierarchie zu bringen, noch in vernebelndes Gerede über 
		die Unverständlichkeit des Geschehens zu verfallen, gilt Bauer, der 
		jeden historischen Determinismus ablehnt, als unumstößliche 
		Voraussetzung. Erst die Lösung von jeder falschen Ergriffenheit und 
		pseudoreligiösen Perspektive kann das Verbrechen verständlich machen.
 
 Indem er die Shoah mit einer Reihe größerer Menschheitsverbrechen vor, 
		während und nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht - dem Klassenmord der 
		Roten Khmer oder anderen Verbrechen der Nationalsozialisten wie den Mord 
		an Sinti und Roma -, bestimmt er die Einzigartigkeit der 
		Judenvernichtung in fünf Dimensionen. Die Judenvernichtung war - anders 
		als der Mord an den Armeniern durch die jungtürkische Regierung 1917 - 
		ausschließlich Ausdruck einer ideologischen Verblendung und nicht etwa 
		ethnischer Interessen. Unter Hinweis auf die Deportation von 
		griechischen Juden in den letzten Kriegsmonaten weist Bauer die von Götz 
		Aly erforschten Raumordnungspläne deutscher Demografen und Historiker 
		als Ursache zurück. In deutlichem Unterschied zu dem massenhaften Mord 
		an Sinti und Roma sei die Shoah in ihrer Vernichtungsstrategie 
		ausnahmslos, total und universal und vor allem: das weltanschauliche 
		Zentralprojekt der Täter gewesen. Bauer stützt sich auf die Forschungen 
		Michael Zimmermanns. Schließlich waren es die beispiellose Demütigung 
		der jüdischen Opfer vor ihrer Ermordung und die entschlossene Revision 
		aller Errungenschaften der Zivilisation, die die Shoah zu einem bis 
		dahin vorbildlosen Ereignis machten.
 
 Von der grundsätzlichen Verstehbarkeit des Geschehens überzeugt, wagt 
		Bauer bewusst die Skizze einer vorläufigen Erklärung. Anders als die 
		banale Modernisierungsthese des weit überschätzten Soziologen Zygmunt 
		Bauman, anders auch als der übers Ziel hinausschießende Daniel Goldhagen 
		sieht Bauer die Ursache der Shoah in der judenfeindlichen, ideologischen 
		Besessenheit einer durchaus begrenzten Anzahl nazistischer 
		"Lumpenintellektueller". Ihnen konnte es vor dem Hintergrund des in den 
		deutschen Eliten geläufigen Antisemitismus im Rahmen von Maßnahmestaat, 
		Diktatur und Krieg leicht gelingen, ihre Obsessionen zu verwirklichen. 
		Mit dieser Überlegung, die Gedanken Saul Friedländers zum 
		"Erlösungsantisemitismus" ebenso aufnimmt wie Annahmen Hans Mommsens zur 
		"Realisierung des Utopischen", gewinnt Bauer über die Erklärung der 
		Shoah hinaus Hypothesen zu einer vergleichenden Theorie moderner 
		Genozide: Statusinkonsistente, traditionslose Intellektuelle kapern im 
		Zug der gesellschaftlichen Krise eine politische Bewegung und gelangen 
		an die Regierung - es scheint, als könne dieses Modell auch die 
		Verbrechen etwa der Roten Khmer oder in Ruanda erklären. Unter der 
		Bedingung, dass derlei Mordtaten immer auch Ausdruck einer ideologischen 
		Besessenheit sind, gewinnt diese Annahme hohe Plausibilität. Denn wer, 
		wenn nicht fehlgeleitete, begrenzt gebildete und in Exekutivfunktionen 
		wirkende Intellektuelle, wäre in der Lage, derlei zu fantasieren und 
		zugleich umzusetzen? Jeder einzelne Diktator müsste wirkungslos bleiben, 
		wenn nicht eine Schicht vermittelnder Personen die staatlichen Apparate 
		ohne Druck und Terror umfunktionieren würde.
 
 Die - von Christian Wiese luzide übersetzte - Studien, die zudem Arbeiten 
		zur Rolle jüdischer Frauen in der Shoah oder zur 
		Post-Holocaust-Theologie enthalten, gewinnen ihre Brisanz jedoch nicht 
		nur aus der furchtlosen Annahme der komparatistischen Herausforderung. 
		Yehuda Bauer unterschlägt seine persönliche Wertbasis als säkularer, 
		gemäßigt linker Zionist an keiner Stelle. Aus dieser Position vermag er 
		als Historiker tragende Mythen der zionistischen und religiösen Rechten 
		Israels zu destruieren. Schließlich rührt die Kompromisslosigkeit der 
		israelischen Regierungen zum Teil aus einem messianischen 
		Missverständnis der zionistischen Staatsgründung. Bauer ist den von ihm 
		ungeliebten postzionistischen Historikern in der Sache näher, als er 
		wahrhaben möchte, und entfaltet endlich die These, dass der Staat Israel 
		weder als Ergebnis der Shoah anzusehen sei noch sie hätte verhindern 
		können, wenn er früher gegründet worden wäre. Bauer kann zeigen, dass 
		die Gründung des Staates vor allem das Resultat einer Reihe von 
		Konflikten zwischen Großbritannien und Präsident Truman bezüglich der 
		Zukunft von etwa zweihundertfünfzigtausend jüdischen Flüchtlingen auf 
		westdeutschem Territorium war.
 
 Mit seinen Studien hat Yehuda Bauer die Shoah und ihre Historiographie 
		einer radikalen Entmythologisierung unterzogen und so über die 
		Ereignisgeschichte hinaus ein neues Kapitel in der Geschichte des 
		Gedächtnisses aufgeschlagen. Er hat gezeigt, wie man das, was Ernst 
		Nolte in nationalistischer Verblendung als weltgeschichtliche 
		"Einordnung" forderte, vollziehen kann, ohne die Würde der Opfer ein 
		weiteres Mal zu verletzen. Mit diesem Buch lässt sich zu Beginn des 21. 
		Jahrhunderts ernsthaft darüber debattieren, was "Globalisierung des 
		Holocaust" in Kultur, Moral und Politik heißen könnte.
 
      Yehuda Bauer: "Die 
		dunkle Seite der Geschichte". 
      Aus d. Engl. v. Christian Wiese, Suhrkamp Verlag,
 Frankfurt/M. 2001, 384 Seiten, 64 DM (32,80 )
 
      taz vom 4.12.2001 - Kommentar MICHA 
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      haGalil onLine 25-12-2001 |