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Wladimir Kaminer:
Russendisko
Als sich im Sommer 1990 die Ära Gorbatschow
ihrem Ende zuneigt, Putin noch lange nicht Präsident, sondern
KGB-Schlapphut ist und Helmut Kohl nach dem Mantel der Geschichte
langt, beschließt der 23-jährige Moskauer Wladimir Kaminer, sein
Leben zu ändern. "Go west", lautet die Parole -- doch warum in die
Ferne schweifen, wenn das Ticket nach Ost-Berlin schlappe 96 Rubel
kostet und man kein Visum benötigt?
So schlüpft Kaminer in den himmelblauen
Sonntagsanzug und setzt sich mit seinem Freund Mischa, einer Stange
russischer Zigaretten sowie einer Flasche Wodka der Marke "Lebewohl"
in den Zug. Do swidanija! Nur 48 Stunden später treffen die beiden
mit Brummschädel in Berlin-Lichtenberg ein: "Die ersten Berliner,
die wir kennen lernten, waren Zigeuner und Vietnamesen. Wir wurden
schnell Freunde."
Die Tage im Plattenbau-Ausländerheim von Marzahn
sind längst vorbei. Heute gehört der DJ, Autor und Theatermann
Wladimir Kaminer zu den Szene-Stars des neuen Multi-Kulti-Berlin:
Die "Berliner Seiten" der FAZ drucken seine Texte ebenso gern
wie die untergangsbedrohte taz, beim SFB moderiert er eine
eigene Sendung (Wladimirs Welt). Im Kaffee Burger, das sich
nach der Übernahme durch den Prenzlauer-Berg-Poeten Bert Papenfuß
zur kuschligen Party-Location wandelte, zelebriert Kaminer einmal im
Monat seine berüchtigte "Russendisko" -- Völkerverständigung und
proletarischer Internationalismus, einst von Wladimir Iljitsch Lenin
gepredigt, werden auf der engen Tanzfläche geübt, dazu wirft ein
Videobeamer alte sowjetische Zeichentrick- und Kriegsfilme an die
Blümchentapete.
Russendisko hat Kaminer auch seine
erste Buchveröffentlichung genannt: 50 Erzählungen aus einem
Berliner Alltag, den die üblichen Verdächtigen aus der "Paris Bar"
nur vom Hörensagen kennen. Wer hier überleben will, muss
wandlungsfähig sein: Die Türken im Imbiss nebenan erweisen sich als
Bulgaren, den biederen Beamten vom Arbeitsamt trifft man abends in
der Schwulenbar -- und selbst die vietnamesischen Zigarettenhändler
sind nicht viel mehr als ein medial erzeugtes Klischee: Sie kommen
mehrheitlich aus der inneren Mongolei. Kaminers Helden haben alle
Hände voll zu tun, sich zwischen den Fallstricken des Asylrechts,
Liebeshändeln und obskuren Jobs durch den Großstadtdschungel zu
hangeln. Da ist der Slawistikstudent Sascha, der als Tellerwäscher
im australischen Krokodilsteakhaus jobbt; da ist der "Radiodoktor"
aus der Ukraine, der den Berliner Russen erklärt, was man gegen
Pickel tun kann: "Die sagen Clerasil, aber ich kann mich noch gut
erinnern, Benzin tut es auch." Die Damen vom russischen Telefonsex
("Mach deine Hose auf, wir nostalgieren zusammen!") dürfen
ebensowenig fehlen wie der namenlose Asylbewerber, der sich, von der
Polizei verfolgt, beim rettenden Sprung aus dem Fenster an einem
REP-Plakat ("Mut zur Wahl -- wähle national!") abseilt.
Wer Kaminer bei all dem für einen plumpen
Possenreißer und Zyniker hält, hat nichts begriffen. Der Mann kann
nicht nur genau beobachten -- er liebt sie, seine skurrilen
Großstadtindianer, die wohl vom Leben gebeutelt, aber nie ohne
Hoffnung sind. Und, mal ehrlich: Wer, wie Kaminer, nicht nur deutsch
schreibt, sondern unsere komplizierte Sprache mit der sowjetischen
Fibel Deutsches Deutsch zum Selberlernen gepaukt hat -- der
kann kein schlechter Schriftsteller, ach was: Der kann kein
schlechter Mensch sein. Also: Kaufen Sie Kaminer! Und tun Sie, was
ein russischer Berlin-Reiseführer seinen Lesern als ultimativen Kick
empfiehlt: "Hissen Sie Ihre ganz persönliche Flagge auf dem neuen
Reichstag -- Berlin erleben und erobern!"
Niklas Feldtkamp
Amazon.de Audiobook-Rezension
Wladimir Kaminer ist ein Russe am Prenzlauer Berg. Nach Berlin
gekommen ist er 1990 in den Freudezeiten der Perestroika und auch
nur, weil er mal den Westen sehen wollte, keine Bekannten in San
Francisco hatte (wie Michail Gorbatschow) und sich ohne Reisepass
auch einfach nichts anderes anbot. Nun ja, "zum Spaß" und "aus
Neugier" ist er dann einfach da geblieben -- zum Glück, denn der
studierte Moskauer Dramaturg und sich nicht immer allzu ernst
nehmende "russische Intellektuelle" ist heute eine dieser
Kulturpersönlichkeiten, die den frischen Wind in die Stadt gebracht
haben, der dort heute an allen Ecken heftigst weht.
Russendisko ist Kaminers erster
Erzählungsband und er liest selbst mit wunderbar
russisch-gebrochener Zunge daraus vor: Von unmotivierten
Wohnungsbesetzungen, jugoslawischen Hexen (mit horrenden Honoraren),
verrückten Sinti und Roma aus Marzahn, die gern mit Autos gegen
Bäume fahren, und dann war da auch noch dieser Künstlerfreund, aus
dessen Meißel fast das Holocaust-Mahnmal entstanden wäre (und dann
auf einer Erotik-Messe in Hamburg ein großer Erfolg wurde).
Wladimir Kaminer erzählt vom ganz normalen Blues
und Alltag vor seiner Haustür. Die kleinsten Geschichten sind dabei
die größten und so richtig ernst wird es noch nicht einmal dann,
wenn der Autor seinem herrlich urrussischen, fatalistischen
Schwermut freien Lauf lässt.
Berlin ist im Aufbruch, sagt man. Wenn man Kaminer
liest, erahnt man, was damit wohl eigentlich gemeint sein sollte:
Der Aufbruch führt ins Chaos und hat viele schöne
Begleiterscheinungen. Willkommen in Absurdistan... die nächste Tram
fährt direkt dorthin. Berliner, lest dieses Buch, so kennt Ihr Eure
Stadt noch nicht! Und Nicht-Berliner, packt vorher schon mal Eure
Koffer! Darauf einen Wodka, "meine kleinen Freunde"!
Russendisko ist auch
als
Audiobuch auf 1 Kassette erhältlich.
Dieser Text bezieht sich auf die
CD des Titels
Kurzbeschreibung
Zum späten Frühstück im Café Pasternak erscheint er so, wie er am
Abend zuvor bei einer Lesung aufgetreten ist: schwarzes Hemd,
schwarze Hose, schwarze Schuhe. Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau
geboren ("50 Jahre nach der Oktober-Revolution"), trägt immer
Schwarz. Wie alle Künstler und Schriftsteller im Prenzlauer Berg,
wie fast alle Intellektuellen in Berlin.
Aber der Schein trügt. Hinter der Existenzialisten-Uniform verbirgt
sich eine bunte russische Seele, ein guter Sohn, ein braver
Familienvater und ein tüchtiger Arbeiter...
haGalil onLine
12-07-2001 |