* Leiter des McLuhan Programms "Kultur und Technologie"
an der Universität Toronto (Kanada), Autor von "The Architecture of
Intelligence", Basel (Birkhauser) 2001.
Netscape war das Modell, und Netscape brachte die Netzwirtschaft in
Mode. Bereits am Abend ihres Börsengangs am 9. August 1995 belief sich
die Kapitalisierung der Netscape Communications Corp. auf 2 Milliarden
Dollar, obwohl das Unternehmen noch keinen einzigen Pfennig
erwirtschaftet hatte. Damals, in den Pionierzeiten des Internets,
kannten den Internet-Browser "Netscape Navigator" praktisch alle, die
sich mit dem neuen Medium beschäftigten. Man probierte ihn aus und war
überzeugt. Es war die erste kommerzielle Version der so genannten
Mosaic-Engine, die ein junges Genie namens Marc Andreessen programmiert
hatte.
Ebenso wie die Suchmaschine "Yahoo!", die wenige Monate später die
Börsengipfel stürmte, bewies Netscape, dass das World Wide Web
hinreichend ausgereift war, um einen eigenständigen Wirtschaftssektor zu
bilden. Netscape gab den Startschuss zu einer Ökonomie, die sich nach
dem Schneeballprinzip entwickelte. Internet, E-Mail, Web, Portal, Neue
Ökonomie, Netzwirtschaft - in der Euphorie der Anfangszeit stand eins
fürs andere.
Im Oktober 1995 hatten die Firmenanteile des Netscape-Gründers Jim
Clark einen Börsenwert von 425 Millionen Dollar erreicht. Ein Jahr zuvor
- er hatte gerade Silicon Graphics verlassen, um Netscape zu gründen -
sprach Clark auf einer Tagung in Tokio über die Zukunft der
Multimedia-Technik.: "Ich habe [dem Aufsichtsrat von Silicon Graphics]
eine Beteiligung angeboten, aber man hat abgelehnt. Also habe ich meine
Anteile verkauft, 20 Millionen Dollar, und in Netscape investiert. In
weniger als einem Jahr werde ich 400 Millionen Dollar daraus machen."
Wie konnte er, der den Schritt als Erster wagte, die inflationäre
Entwicklung in der Netzwirtschaft, die jeden Zusammenhang zwischen
Börsenbewertung und Realwert sprengte, mit solcher Treffsicherheit
vorhersehen? Jedenfalls wusste er den Hype zu nutzen, und "amazon.com",
"Yahoo!", "e-bay" und wie die Dotcom-Unternehmen alle heißen, taten es
ihm gleich, denn es sprach sich rasch herum, dass sich das Web weniger
von tatsächlichen Gewinnen nährte als von Gewinnversprechungen.
Es begann, was der Psychologe und ehemalige Forscher am
McLuhan-Programm Robert McIllwraith als "feelings economy"
bezeichnete. In der "gefühlsgeleiteten Wirtschaft" lässt sich der Investor
von seinem Gefühl leiten, das wiederum von Gerüchten bestimmt wird. Die
Entmaterialisierung der Ökonomie veranlasste die Journalistin Solveig
Godeluck zu der Bemerkung: "Abgehoben von der Realität und haltlos auf
Vertrauen gründend, ist [die entmaterialisierte Ökonomie] Manipulationen
oder einer plötzlichen Katerstimmung schutzlos ausgeliefert. Wir
betreten die Ära des Informationskapitalismus, aber wir betreten sie auf
eigene Gefahr."(1)
Wahrscheinlich funktioniert das Ganze ähnlich wie bei den einschlägigen
Psychotechniken. Ist ein gewisser Schwellenwert der Virtualisierung
überschritten, verlässt der Adept die gesicherten Pfade und konstruiert
sich eine Alternative abseits der Realität. Sein Lebensmodell gewinnt an
Eigendynamik, schlägt ihn in Bann, bis ein Punkt erreicht ist, an dem
die Entwirklichung zu offensichtlich wird. Dann kehrt er abrupt zu den
Modellen zurück, die er zuvor verworfen hat. Die Stars und Start-ups der
Netzwirtschaft sind allseits in Misskredit geraten und befinden sich in
Schwierigkeiten. Wie jene Präsidenten junger Demokratien, die mit der
Staatskasse durchbrennen, verlassen manche Wirtschaftsführer das
sinkende Schiff oder verkaufen rechtzeitig, um mitzunehmen, was sie noch
kriegen können.
Gewiss trieb in diesem äußerst volatilen Umfeld der eine oder andere
Manipulator sein Unwesen. Doch die Börsenwerte hätten schwerlich derart
in die Höhe schießen können, wären die Machenschaften nicht so
begeistert akzeptiert worden - schließlich wuchs das entsprechende
Börsenpublikum, das sich aus Risikokapitalgebern, Daytradern, Amateuren,
Bankern, Surfern, Möchtegern-Unternehmern, Programmierern und sonstigen
Zockern zusammensetzte, genauso rasant wie das Web selbst. Dass dabei
ein innovationsförderndes Klima entstand, soll gar nicht in Abrede
gestellt werden, vom unmerklichen Wandel der Mentalitäten und
Berufspraktiken ganz zu schweigen.
Nichtsdestotrotz war der Crash voraussehbar, und er wurde vorhergesagt.
Intel-Guru Andy Grove hatte die "IT-Götterdämmerung" bereits seit drei
Jahren erwartet, die im April 2000 schließlich hereinbrach: "Die
High-Tech-Rezession hat nun wirklich begonnen, und es ist eine
Rezession, und zwar keine unbedeutende. Sie zieht sämtliche Branchen in
Mitleidenschaft, von der Halbleiterindustrie bis zur
Glasfaserherstellung."(2) Doch während die abrupten Kurseinbrüche nur
wohlhabende, oft leichtfertige Anleger treffen, sind die schlimmsten
Folgen der Krise in Marktsegmenten zu verzeichnen, die sich noch im
Anlaufstadium befinden, wie zum Beispiel WAP (Surfen per Mobilfunk) und
Web-TV.
Der Boom war gesund
FOLGE der High-Tech-Rezession waren Massenentlassungen und eine
allgemeine Depression im ganzen Sektor. Nortel, der kanadische
Weltmarktführer im Bereich der optischen Netzwerktechnik, setzte 10 000
Beschäftigte auf die Straße, nachdem der Börsenwert der Firma in
kürzester Zeit um 19 Milliarden Dollar gefallen war. Zahllose kleine und
mittlere Unternehmen streichen die Internetpräsenz von der
Prioritätenliste, bauen ihre Online-Belegschaft ab und entlassen den
Webmaster. Enttäuschte Investoren machen ihrem Ärger Luft. Auch einige
hoch qualifizierte und hoch bezahlte Führungskräfte, die nur schwer
anderweitig unterkommen können, sind nun dabei, die "Neue Ökonomie"
herunterzumachen, die ihnen nichts mehr zu bieten hat. Die Mode hat
gewechselt - Katerstimmung ist angesagt, Ernüchterung macht sich breit,
das Web ist entzaubert. Die Unheilspropheten, die sich dem Netz
verweigerten, nur seine negativen Aspekte sahen und sein Ende
voraussagten, können frohlocken.
Entzauberung setzt Verzauberung voraus, und beiden Gefühlslagen ist
gemeinsam, dass sie die Wirklichkeit verfehlen. So übertrieben die
anfängliche Begeisterung, so überzogen ist nun die Ablehnung der
Netzwirtschaft. Dabei zögert der plötzliche Meinungsumschwung nur das
Unvermeidliche hinaus: die Vernetzung der Welt bis in den entlegensten
Winkel. Andy Grove hat auch dies sehr richtig erkannt: "Der Boom war
trotz aller Auswüchse gesund, gerade weil er unzählige Milliarden für
den Aufbau der Internet-Infrastruktur mobilisierte. Allein in die
Finanzierung der Telekommunikationsnetze sind Hunderte von Milliarden
geflossen."(3)
Nun ist zu hören, allein die elektronische Post werde den Untergang des
Internets überleben. Das ist leicht dahingesagt. Solche Prognosen
erscheinen genauso haltlos wie die Behauptung von Michael Wolff: "Ende
des Jahres gibt es keine Internet-Industrie mehr."(4) Andy Grove dagegen
hat daran erinnert, dass die Dotcom-Unternehmen kaum 10 Prozent der
Netzwirtschaft ausmachen. Weshalb sollte man die realen Vorzüge des
Internets mit all seinen Möglichkeiten der Verbindung nicht nutzen?
Zumal als ein gewaltiges kollektives Gedächtnis, auch unter Absehung von
kommerziellen Aspekten, leistet das Netz hervorragende Dienste. Der
Zugriff auf dieses Gedächtnis ist individuell bestimmt - ähnlich wie der
Zugriff auf unser menschliches Gedächtnis - und zugleich bietet das
Internet die Möglichkeit, neue Formen der Zusammenarbeit und
Gruppenbildung zu entwickeln. Und hier spielt nicht nur die
Privatwirtschaft eine bestimmende Rolle. Der Bildungsbereich zum
Beispiel kann aus dem Internet erhebliche Vorteile ziehen, wobei nicht
nur an die Verbreitung von Wissensbeständen zu denken ist - mit
Datenbanken, die sich automatisch rekonfigurieren und aktualisieren -,
sondern auch an vernetztes Arbeiten und intensivere Formen der
Gruppenarbeit.
Oder nehmen wir einen Bereich aus der Privatwirtschaft: Die Banken
werden das Internet wohl kaum aufgeben, nur weil die Dotcoms Federn
lassen müssen. Allerdings werden sie in Zukunft wohl eher zweimal
überlegen, bevor sie in diesem Bereich investieren. Es scheint jedoch
kaum vorstellbar, dass sie auf die ungeheure Erleichterung verzichten
wollen, die das Internet für den Zahlungsverkehr bedeutet. Nicht anders
verhält es sich im Bereich der Buchungssysteme, des automatisierten
Datenaustauschs, der Lagerverwaltung, der Bestell- und Vertriebssysteme,
der Kontoverwaltung und vieler anderer internetbasierter
Dienstleistungen, die für die Wirtschaft - und bald auch für uns alle -
nicht mehr wegzudenken sind.
Wirklich für alle? In Frankreich besitzen bereits rund 20 Prozent der
Erwerbsbevölkerung einen Internetanschluss - und nutzen das Netz. In
Kanada liegt der Anteil bei 45 Prozent - eine Diskrepanz, die sich
sicherlich daraus erklärt, dass in Kanada die Zugangstarife vernünftiger
geregelt sind, sodass eine regelrechte "Telekommunikationskultur"
entstanden ist. In Afrika sind Netzzugänge noch selten, doch die Zahl
der Internet-Aspiranten steigt, und sie erleben die gleiche Mischung aus
Vorfreude und Geduld, die noch jeder Surfer beim Einwählen spürt. Die
Rede von der "digitalen Spaltung" aber reduziert das Problem auf ein
bloßes Zahlenverhältnis: hier die kleine Minderheit der Netizens, dort
die Mehrheit der virtuellen Parias.
Joël de Rosnay betrachtet die Frage unter einem anderen Blickwinkel und
hält eher den Faktor Geschwindigkeit für entscheidend: "Manche
Gesellschaften entwickeln sich mit derartiger Schnelligkeit, dass sie
sämtliche Finanz-, Human-, Energie- und Informationsressourcen
aufbrauchen, die der Entwicklung aufstrebender Gesellschaften zugute
kommen könnten."(5) Am stärksten davon betroffen sind die hoch
qualifizierten Arbeitskräfte der Entwicklungsländer, die in den
Industriestaaten im Gegensatz zu "normalen" Immigranten stets willkommen
sind. Das Internet wirkt in dieser Hinsicht wie ein
Teilchenbeschleuniger. In Kanada zum Beispiel wandern Jahr für Jahr
70 000 Hochschulabgänger, deren Studium der kanadische Steuerzahler
finanzierte, in die Vereinigten Staaten ab. Kurzfristig droht dadurch
eine ernsthafte Knappheit an intellektuellem Kapital. Eine Lösung für
dieses Problem ist noch nicht in Sicht.
Die einzige Möglichkeit, dieser Tendenz entgegenzuwirken - und
gleichzeitig die digitale Spaltung der Weltgesellschaft zu reduzieren -,
ist der beschleunigte Ausbau der Netzinfrastruktur. Das Internet hat
sich längst zu einem entscheidenden Gestaltungsfaktor der
zwischenmenschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnisse
entwickelt. In unserer Kultur der unablässigen Bewegung sind die Netze
letztlich stabiler als die Menschen.
Masayoshi Son, Chef eines japanischen Telekommunikationsunternehmens,
dessen Börsenwert vor kurzem um 90 Prozent sank, will Einwände nicht
gelten lassen: "Wir befinden uns in einer Jahrhundertrevolution. Die
heutige Schmalbandtechnik vermittelt nur einen schwachen Eindruck von
den grundstürzenden technologischen Möglichkeiten des Internets."(6)
dt. Bodo Schulze
Fußnoten: