Wird Israel das größte Ghetto der jüdischen Geschichte?
Die nächste Mauer
RICHARD CHAIM SCHNEIDER
Nach der Einnahme des Orient-Hauses in Ostjerusalem
wurde es überdeutlich: Die Koalition der „nationalen Einheit“ mit Ariel
Sharon und Shimon Peres an der Spitze hat ernstzunehmende Risse
erhalten. Peres machte deutlich, dass er die sture Politik Sharons nicht
weiter unterstützen wolle. Sharon reagierte sofort. Nicht nur, indem er
seinem Außenminister einen größeren Aktionsradius zugestand, vielmehr,
indem er sofort Koalitionsverhandlungen mit der nationalreligiösen
„Mafdal“ und der Partei der Mitte aufnahm. Inzwischen hat sich „Center“
entschlossen, der Koalition beizutreten. Dan Meridor, ihr Repräsentant,
erhält den Rang eines Ministers ohne Portfolio.
Damit wird die israelische Politik wieder interessant.
Lange Jahre galt Meridor als „Kronprinz“ des Likud, ehe er die Partei
nach Auseinandersetzungen mit dem damaligen Vorsitzenden Bibi Netanyahu
verließ. Meridor, der schon mehrfach als Minister gedient hat, gilt als
moderater, besonnener Rechter, dem es vor allem um die Menschen- und
Zivilrechte seines Staates geht, der insbesondere ein Befürworter der
Trennung von Synagoge und Staat ist und für die Schaffung einer
Verfassung für Israel eintritt, die es bis heute nicht gibt.
Doch mehr noch: Meridor, der an den gescheiterten
Gesprächen in Camp David im vergangenen Jahr teilgenommen hatte, ist ein
heftiger Streiter für eine einseitige Trennung Israels von den
Palästinensern. Das würde eine unilaterale Aufgabe isolierter Siedlungen
bedeuten und den Bau einer Mauer sowie eines Sicherheitszauns um ganz
Israel herum, die ungefähr 700 Kilometer lang wäre. Rund 80 Prozent der
Israelis befürworten inzwischen eine solche Lösung. Zusammen mit den
Knesset-Abgeordneten Michael Eitan (Likud), Haim Ramon und Dalia Itzik
(beide Arbeiterpartei) kämpft Meridor um eine parteiübergreifende
Mehrheit in der Knesset für diesen Plan. Seine Chancen, ihn zu
verwirklichen, stehen nicht schlecht. Bis zum September wollen Meridor
und seine Gesinnungsgefährten im Parlament eine politische Plattform für
ihre Ziele geschaffen haben.
Sharon hat sich mit Meridor einen unliebsamen Partner
ins Boot geholt, will er doch unter keinen Umständen eine einzige
Siedlung aufgeben, schon gar nicht unter dem Druck von Gewalt, damit die
Palästinenser nicht das Gefühl bekämen, ihr Kampf habe sich gelohnt.
Meridor interessiert das nicht. Er sieht vor allem die demografische
Entwicklung in Nahost voraus und möchte sich von drei Millionen
Palästinensern abkoppeln, um in 20 Jahren nicht als jüdische Minderheit
im eigenen Land über eine arabische Mehrheit zu herrschen. So weit so
gut – doch eine ernsthafte Umsetzung dieser Idee hätte weit reichende
Konsequenzen für die zionistische Idee: Sie würde deren völliges
Scheitern eingestehen. Man stelle sich das vor: Ein Staat trennt sich
voll und ganz von seiner Umgebung ab und lebt damit im
„Transit“-Zustand. Die Israelis würden aus einer Wagenburg, aus einer
Festung endgültig ein Ghetto machen. Das aber wäre der totale
Widerspruch zur zionistischen Ausgangsposition. Die frühen Zionisten
wollten die Juden aus der hermetischen Abriegelung herausholen, in ein
Land, wo sie frei und unabhängig ihre „Scholle“ bearbeiten können. Nun
also einseitige Abtrennung.
Israel würde – ummauert – das größte Ghetto in der
jüdischen Geschichte werden, die Juden in der Diaspora des Jahres 2000
wären, zumindest im Westen, in der Freiheit angekommen, die Israelis
dagegen wären eingesperrt. Doch so grotesk es wäre, ganz unerwartet ist
es nicht. Wie sagte schon der erste israelische Präsident Chaim
Weizmann: „Es ist leichter, die Juden aus dem Ghetto zu holen, als das
Ghetto aus den Juden.“ Eine wahrhaft prophetische Äußerung!
haGalil onLine 09-08-2001 |