Kein "Hitler und seine Naziclique"
Die Darstellung der Naziverbrechen weist
auch in den israelischen Schulbüchern einen deutlichen Wandel auf
MICHAEL BRÖNING
Erst beglückten die Finkelsteins
und Novicks die bundesdeutsche Öffentlichkeit mit ihren provokanten Thesen
zu einer Wachstumsindustrie namens Holocaust, und nun bringt auch der
Spiegel eine ganze Serie über "Hitlers langen Schatten".
Die Vergangenheit? In der
Bundesrepublik jedenfalls will und darf sie nicht vergehen. Doch wie
verfährt die israelische Öffentlichkeit mit dem Thema Holocaust? Was
lehren zum Beispiel israelische Schulbücher über den Völkermord?
Eine Analyse der
verschiedenen Schulbuch-Generationen ergibt Erstaunliches: Ähnlich
wie in Deutschland verhinderte auch in Israel in den Fünfziger- und
Sechzigerjahren eine Mischung aus Verdrängung, Scham und Sehnsucht
nach Normalität eine wirkliche Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit. Es herrschte das große Schweigen - der Holocaust kam
so gut wie gar nicht vor. Wo das Thema doch einmal behandelt wurde,
erschöpfte sich die Darstellung in knappen Hinweisen auf
"blutrünstige Raubtiere", die durch "Taten des Teufels" ein
"Inferno" entfesselt hatten.
Den ganz Kleinen wollte man
derartige Beschreibungen zunächst ersparen. Holocaust-Schilderungen
für jüngere Schulkinder endeten daher oft mit einem - völlig
unhistorischen - Happy End. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte
der kleinen Schula in einem Geschichtslesebuch: Mit Hilfe eines
Zauberrings zertrümmert das Mädchen die Mauern des Ghettos, tötet
einen Naziwächter und fährt auf einem Schiff singend Richtung
Israel. Holocaust light? Für einen Mitarbeiter des
Erziehungsministeriums schlicht die Notwendigkeit, Kindern "den
Holocaust in seiner schönsten Form" zu präsentieren.
All das änderte sich mit dem
Eichmann-Prozess im Jahre 1961. Seit diesem Ereignis wird der
Holocaust intensiv in israelischen Schulbüchern behandelt. Schon in
den Lesebüchern des zweiten Schuljahrs lesen israelische Kinder nun
ausführlich von den Gräueln der Nazizeit. Aber nicht nur quantitativ
änderte sich die Darstellung in den Schulbüchern, auch inhaltlich
verschoben sich die Akzente. Die dämonisierenden und
emotionsgeladenen Schilderungen der frühen Jahre wurden zunehmend
durch rationalere Beschreibungen ersetzt. Doch damit enden die
deutsch-israelischen Gemeinsamkeiten. Denn inhaltlich gibt es
gravierende Unterschiede. Besonders auffällig: die Behandlung der
historischen Verantwortung.
Hier zerstören die
hebräischen Schulbücher regelmäßig bundesdeutsche Nachkriegsmythen.
Während in deutschen Schulbüchern die Beteiligung der Bevölkerung
meist als gering eingestuft wird, erweitern israelische Schulbücher
den Kreis der Täter erheblich. Von wegen "Hitler und seine
Naziclique" . . . In diesem Zusammenhang wird stets auch das "Nichts
gewusst" der Nachkriegsjahre zurückgewiesen: Angesichts der
hunderttausenden von Verantwortlichen sei schlicht "undenkbar", dass
die breite Bevölkerung über die Verbrechen an den Juden nicht
informiert gewesen wäre, erklärt ein Schulbuch schon 1971. Hinweise
auf deutschen Widerstand fehlen dabei fast ganz.
Ein weiterer Unterschied
betrifft die Wehrmacht. Während die deutsche Öffentlichkeit sich nur
langsam vom Mythos der "sauberen" Krieger befreit, sind die
"Verbrechen der Wehrmacht" in Israel seit geraumer Zeit
unumstrittener Lehrstoff. Für aufgeregte Schlagzeilen hätte die
Reemtsma-Ausstellung in Israel jedenfalls nicht gesorgt. Besonders
bei der Behandlung des Warschauer Ghettos ist den israelischen
Schulbüchern eine pädagogische Absicht anzumerken. Der jüdische
Aufstand wird meist sehr ausführlich beschrieben - in einem Buch
sogar auf vollen sieben Seiten. Ein neu veröffentlichtes Lehrwerk,
das hierauf verzichtet, wird gegenwärtig harsch kritisiert. Vor
allem in Schulbüchern der Siebzigerjahre wird der jüdische
Widerstand dabei in direkten Zusammenhang mit den Kriegen Israels
gebracht und vereinzelt sogar in einem Kapitel über den
Unabhängigkeitskrieg behandelt. Die Ghettokämpfer erscheinen dann
als Pioniere des Zionismus und als israelische Helden.
In den meisten Schulbüchern
wird aber nicht Nazideutschland allein für den Holocaust
verantwortlich gemacht. Regelmäßig findet sich auch Kritik an der
alliierten Politik, vor allem an der Weigerung, Auschwitz zu
bombardieren. Das mangelnde Engagement der Alliierten beweist für
die Schulbücher unumstößlich die Notwendigkeit eines starken
jüdischen Staats. Ein Beispiel für Michael Wolffsohns These vom
Holocaust als "weltlich-politischer Identitätsstifter" Israels.
Dabei ist diese Verwendung historischer Inhalte für politische
Zwecke auch in Israel nicht unumstritten. So kritisiert Tom Segev in
seinem Standardwerk "Die siebte Million" scharf die Darstellung des
Holocaust in israelischen Schulbüchern. Anstatt humanistische Lehren
zu verkünden, meint Segev, predigten die Werke "engstirnigen
Chauvinismus". Denn die Lehre des Holocaust bestehe in den Büchern
einzig darin, dass der Völkermord "jeden Akt rechtfertigt, der zu
Israels Sicherheit beizutragen scheint". Die Vergangenheit - so viel
ist sicher - auch in Israel wird sie so schnell nicht vergehen.
taz Nr. 6455 vom 26.5.2001
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27-05-2001
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