21.05.2001
Eine seismographische Empfindsamkeit
Vom Scheitern der
bürgerlichen Aufklärung:
Hans Mayer. |
Schriftsteller, Germanist, unorthodoxer Marxist, «Deutscher
auf Widerruf»: Zum Tod von Hans Mayer |
Er trug einen Allerweltsnamen, aber er machte ihn zum Begriff: Hans
Mayer, der in der Nacht zum Samstag 94-jährig in Tübingen gestorben
ist, war eine Jahrhundertgestalt. Seine Erinnerungen, die er unter
dem Titel «Ein Deutscher auf Widerruf» 1982 in zwei Bänden
veröffentlichte, lesen sich wie ein «Who's who» des vergangenen
Säkulums.
Kurt Tucholsky traf Mayer noch als Gymnasiast, Robert Musil im
Schweizer Exil; mit Max Horkheimer und Carl J. Burckhardt, mit
Georges Bataille und Raymond Aron, mit Johannes R. Becher und Bert
Brecht, mit Ernst Bloch und Thomas Mann, mit Carl Schmitt und Elias
Canetti war er gut bekannt, wenn nicht befreundet, und vor allem:
als Denker war er ihnen allen ebenbürtig.
Zu seinen Schülern zählte er Christa Wolf und Uwe Johnson, Dieter
Dorn und Harry Kupfer. Er war in zwei deutschen Staaten einer der
grössten seines Fachs. Und er hat dieses Fach, die Germanistik,
niemals studiert. Sein erstes Buch, mit dem ihn die Universität
Leipzig habilitierte, schrieb er in den dreissiger Jahren im
Schweizer Exil. «Georg Büchner und seine Zeit» - es gibt bis heute
nichts Besseres.
Sein letztes - von über 50 - ist in diesem Frühjahr erschienen:
«Erinnerungen an Willy Brandt». Denn auch mit dem
sozialdemokratischen Kanzler hatte er vertrauten Umgang. Politiker -
das hätte er auch werden können, unter anderen Umständen. Oder
Richter. Soziologe. Philosoph. Historiker. Musiker oder
Musikwissenschaftler (das wurde er tatsächlich: auch sein
Wagner-Buch, erschienen in der Reihe rororo-Monographien, ist in
seiner Art unübertroffen).
Das jüdische Elternhaus
Die Germanistik war schliesslich der richtige Hafen für ein
Gelehrten-Leben, das an Umwegen und Schiff-brüchen reich war und
doch im Rückblick wie eine geordnete, zielgerichtete Kreuzfahrt
gelesen werden kann. Hans Mayer wurde 1907 als Sohn eines jüdischen
Kaufmanns in Köln geboren. Sein Elternhaus war bürgerlich, gebildet
und musisch, er bekam Klavierstunden und brachte es weit auf diesem
Instrument (für eine Virtuosenlaufbahn, so erzählte er, waren
allerdings seine Finger zu kurz).
Eine fast seismographische Empfindsamkeit liess ihn früh die
«unsichtbaren Ghettomauern» spüren, die das jüdische vom
christlichen Bürgertum trennten. Es gab keine Diskriminierung, aber
man blieb unter sich, auf beiden Seiten. Für das Zerbrechen der
dünnen zivilisatorischen Glasur hat er später den Begriff «Widerruf»
(nämlich der Aufklärung) geprägt. Der vielseitig begabte Hans («Ihr
Sohn ist superklug», soll eine Nachbarin gesagt haben, und sie habe
es abschätzig gemeint, schreibt Mayer nicht ohne Stolz in seinen
Erinnerungen) studiert in Ermangelung eines klaren Lebensziels erst
einmal Jura. Er spezialisiert sich auf Staatslehre, promoviert 1931,
absolviert seine Referendariatszeit und legt die zweite
Staatsprüfung ab, als die Nazis schon an der Macht sind. Beisitzer
ist ein gewisser Roland Freisler. Mit der Ernennungs- bekommt er die
Entlassungsurkunde: Juden sind durch das «Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» von der juristischen
Laufbahn ausgeschlossen. Bald, das spürt er genau, wird es ihm an
mehr als an die Berufsehre gehen.
Das Exil in der Schweiz
Dass Hans Mayer im August 1933 über die grüne Grenze geht, hat aber
noch einen zweiten Grund. Der Bürgersohn («Ich trug Massanzüge»)
hatte sich mit den Kommunisten eingelassen. Zum Marxismus, der ihm
fortan eine wenngleich unbequeme geistige Heimat bieten sollte, war
er auf die intelligenteste Weise gekommen: über Georg Lukacs und
dessen Buch «Geschichte und Klassenbewusstsein».
Im französischen, dann im Schweizer Exil war Mayer sich beständig
der Gefahr bewusst, abgeschoben oder ausgeliefert zu werden. Ein
«Floss der Medusa» hat er die Schweiz genannt. Eine Zeit lang musste
er in einem «Arbeitslager für Emigranten» verbringen; meist aber
konnte er von kleinen Stipendien leben, von Rezensionen oder
Forschungsarbeiten für das «Institut für Sozialforschung», wo ihn
Max Horkheimer protegierte.
Er knüpfte Kontakt zu Golo Mann, der ihn, als er als amerikanischer
Kontrolloffizier ins besetzte Deutschland kam, nach Frankfurt holte.
Hans Mayer wurde Redaktor der DANA - einer Vorgängerin der Deutschen
Presse-Agentur, dann Chefredaktor von Radio Frankfurt.
Diese aufregende, aber auch etwas wirre Zeit fand ein Ende, als sich
die Fronten des Kalten Krieges zeigten. Die Kommentare dieses
unorthodoxen Marxisten waren den Amerikanern nicht prowestlich genug
- wie denn auch! «Die zweite Emigration» nennt Mayer den Schritt
nach Leipzig, in die sowjetische Besatzungszone. Dort machte man ihn
1948 zum Professor, dort konnte er tun, was er inzwischen als sein
«Eigentliches» erkannt hatte: Lehren und Schreiben.
«Literatur gehorcht der Kategorie des Besonderen», schreibt Mayer.
Dieser Satz kennzeichnet seinen Ansatz, hebt seinen Marxismus weit
über die grobschlächtigen Kategorien, die schematischen Vorgaben und
die primitiven Vorstellungen der Literaturfunktionäre hinaus. Mayer
las und lehrte nicht nur solche Autoren, die als «dekadent» oder
«formalistisch» verpönt waren, er weigerte sich auch, «bürgerliche»,
aber gerade noch geduldete Grössen zu sozialistischen Vorläufern
hinzubiegen.
Der Hörsaal in Leipzig
Äusserst aufschlussreich ist seine Erinnerung daran, wie er beim
Schreiben des Büchner-Buches von dem eigenen Vorurteil abrückt, im
«Woyzeck» sei die proletarische Revolution zu erahnen; prophetisch,
erkennt er schliesslich, ist diese Figur vielmehr «wegen ihrer
Existenz einer totalen Selbstentfremdung».
Hier findet sich der Keim zu Hans Mayers bedeutendstem Werk, den
«Aussenseitern», in dem er die «bürgerliche Aufklärung» für
gescheitert erklärt, weil sie vor dem «Monstrum als Ernstfall der
Humanität» versagt habe. Eine wirklich emanzipatorische Politik hat
sich an dem zu messen, was sie für den konkret leidenden Menschen
leistet - nicht für eine abstrakt leidende «Menschheit», zu deren
Legitimation Ströme von vergossenem Blut herhalten mussten. Die
«Aussenseiter», 1975 erschienen, als Mayer schon wieder im Westen
war, sind, auch wenn er das nicht hören wollte, zugleich das
Schlüsselwerk eines Gelehrten, der als Jude und Homosexueller
doppelt gezeichnet war - und der dieser Sonderstellung wiederum eine
hochentwickelte Feinfühligkeit verdankte, die seinen
Interpretationen zugute kam.
Mayers besondere Art zu lehren und zu publizieren wurde von Anfang
an zugleich verehrt und angefeindet. Der Hörsaal 40 in der Leipziger
Universität, 30 Semester lang «mein Ort», wie er im Rückblick
schreibt, ist längst Legende. Uwe Johnson erinnert sich so: «In
Leipzig gab es einmal in der Germanistik drei Möglichkeiten. Die
eine hiess Frings und war der letzte König, die andere hiess Korff.
Noch eine hiess Hans Mayer. Die Möglichkeit Mayer betritt
raschfüssig den Hörsaal 40, hat es auf dem Podium sehr eilig. Sehr
gespannte Stimmung, könnte leicht reissen, phonetisch explosiv.
Nieder mit der Stalinschule des sozialistischen Realismus! ruft
Professor Mayer aus. Die Literatur ist nicht teilbar! ruft er aus.»
Die «Möglichkeit Mayer» war bald «eine Lehrmeinung zu viel»: So der
Titel eines Zeitungsartikels, der die üblichen Schikanen ankündigte.
Denen entzog sich der unorthodoxe Marxist, wie bereits vor ihm sein
Freund Ernst Bloch, indem er 1963 nach einer Reise im Westen blieb.
Die Schreibstube in Tübingen
Dort war er in der literarischen Öffentlichkeit längst ein grosser
Name; nicht zuletzt durch seine Auftritte bei der «Gruppe 47». Mayer
bekam einen neugegründeten Lehrstuhl in Hannover und liess sich
schliesslich, nach seiner Emeritierung, in Tübingen nieder. Bis ins
biblisch hohe Alter, ausgestattet mit einem beängstigend umfassenden
Wissen und einem untrüglichen Gedächtnis, das die nachlassende
Lesefähigkeit kompensierte, schrieb er Buch um Buch; zuletzt über
die untergegangene DDR, die er nicht vom schlechten Ende, sondern
von der Hoffnung des Anfangs her zu deuten versuchte; über Brecht,
über China und Israel, über Goethe, über «Gelebte Musik».
Insgeheim - für den, der ihn etwas kannte, nicht ganz so insgeheim -
sah er, der so viele Autoren kongenial ausgedeutet hatte, sich wohl
selbst als Schriftsteller. Mit Recht: «Ein Deutscher als Widerruf»,
diese grandiose geistige Biographie eines Jahrhunderts, sind auch
ein Werk der Literatur. Und wer ihm das sagte, konnte Hans Mayer,
der natürlich wie alle Schreibenden eitel und ehrenrührig war, aber
auch sehr empfindlich und bei allem Erfolg ein wenig einsam, die
allergrösste Freude machen.
Von Martin Ebel
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