Freies Spiel der
Scharfmacher
ISRAEL/PALÄSTINA
Die Gewaltspirale ist von den
Beteiligten allein nicht mehr zu stoppen. Sie brauchen
internationale Hilfe - schnell und entschlossen
Hans-Joachim Gießmann
Fassungslos blickt die Weltöffentlichkeit dieser Tage auf offenbar
immer schnellere Drehungen der Gewaltspirale im Nahen Osten. In
wenigen Wochen wurde dort restlos verspielt, was in zehn Jahren und
mühevollen Schritten an Vertrauen und Zuversicht entstanden war.
Doch überraschend kommt dieses totale Scheitern des
Friedensprozesses keineswegs - seine zerbrechlichen Fundamente
wurden durch jene Scharfmacher auf beiden Seiten zerschlagen, die
jeden Kompromiss stets nur als Verrat an der eigenen Sache
betrachteten. Sie waren es, die Ariel Sharon am 28. September 2000
auf den Tempelberg führten, und sie waren später an der Seite der
palästinensischen Steinewerfer aus der Altstadt Jerusalems und den
besetzten Gebieten.
Ihren Schlachtrufen folgten die mit Raketen und Bomben
palästinensische Dörfer, Häuser und Familien angreifenden
israelischen Militärs ebenso wie die jungen Selbstmordattentäter der
Hamas. Über 500 Menschenleben hat dieser Krieg bisher gefordert -
sein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Tagtäglich wächst die
Gefahr eines neuen Flächenbrandes, in dessen Sog die gesamte Region
geraten könnte. Die internationale Gemeinschaft, so scheint es,
handelt - wie schon so oft - entschieden zu spät. Und wenn, dann
unter dem moralischen Druck des Verlusts an Glaubwürdigkeit oder
wegen eigener Interessen (steigender Rohölpreise etwa), aber sie
handelt nicht aus Mitgefühl mit den Betroffenen, vielleicht bleibt
sie gerade deshalb so arrogant abwartend.
Wie
konnte es soweit kommen? Woran lag es, dass eine zügellose
Eskalation von außen eher halbherzige Appelle zum Maßhalten
heraufbeschwor, wenn doch Entschlossenheit so sehr gefragt war? Eine
mögliche Erklärung liegt in der Natur des Konflikts. Sein
politischer Kern - das unversöhnliche Ringen um die Herrschaft über
denselben Grund und Boden - wird seit langer Zeit durch eine
verwirrende Vielzahl ethnischer, nationalistischer und religiöser
Mythen überwuchert, deren entscheidende Grundierung darin besteht,
dass nach Ansicht der Akteure um der vermeintlichen Gerechtigkeit
willen der Zweck alle Mittel buchstäblich "heiligt".
In
dieser Hinsicht ist der Konflikt zwischen Israelis und
Palästinensern allerdings keineswegs einmalig. Die bestürzenden
Bilder aus Jerusalem und Nablus unterscheiden sich kaum von jenen,
die vor wenigen Jahren in Srebrenica, Sarajevo oder in Grosny
aufgenommen wurden. Aber selbst dort, wo die Waffen heute weitgehend
schweigen, ist längst kein Frieden gesichert. Die Zahl schwelender
Konflikte, die nach gewaltsamer Entladung drängen, ist weltweit
beachtlich. Sie zu lokalisieren, fällt nicht schwer.
Mehr als drei Viertel aller derzeitigen kriegerischen
Auseinandersetzungen besitzen ihren Ursprung schließlich innerhalb
bestehender staatlicher Grenzen. Fast 90 Prozent aller Konflikte
zeichnen sich durch eine ethnisch-religiös politisierte Überhöhung
aus. Oft führt die Sehnsucht der Kämpfenden und Verzweifelten nach
ewiger "Gerechtigkeit" zu der Bereitschaft, Unrecht für andere
billigend hinzunehmen. Anders als Frieden ist Gerechtigkeit teilbar.
Der "gerechte" Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern läge
letztendlich in der gütlichen Teilung der beanspruchten Region oder
der einvernehmlichen Herrschaft darüber. Was hierzu fehlt, ist zum
einen der politische Wille der Konfliktbeteiligten, dem Mythos eines
Heiligen Krieges zu entsagen, und zum anderen, ein politischer
Wille der internationalen Gemeinschaft, ihre eigene Rechtsordnung
über die Interessen einzelner Mitglieder zu stellen. Dann aber kann
es nicht verwundern, wenn es radikalen Kräften immer wieder leicht
fällt, nur die eigenen Interessen zu hofieren und Faustrecht als
legitim und gerecht erscheinen zu lassen. Würden hingegen die
Vereinten Nationen nur die Beschlüsse und Resolutionen ernsthaft
umsetzen, zu denen sie sich bereits durchgerungen haben, würden die
Zeichen für die Eindämmung vieler Konflikte weitaus besser stehen.
Im Nahen Osten auf jeden Fall.
Dass sie genau dazu nicht in der Lage sind, hat einen simplen Grund:
Alle internationalen Sicherheitsorganisationen können nur so
entschlusskräftig sein, wie ihre stärksten Mitglieder es zulassen.
Nach nur kurz keimender Hoffnung auf ein besseres Miteinander sind
jedoch die Mächtigsten unter ihnen - vor allem die USA - nach 1990
zu kategorischer Einflusspolitik zurückgekehrt. Außerdem sind die
vorhandenen internationalen Sicherheitsstrukturen und die sie
tragenden Staaten weiterhin am Besten auf Gewaltkonflikte
vorbereitet, die mittlerweile am Wenigsten wahrscheinlich geworden
sind: auf Kriege zwischen Staaten und deren Beilegung durch
Androhung oder Anwendung überlegener militärischer Gewalt. Statt
dessen wird der Prävention eskalierendender Gewaltkonflikte in tief
zerrissenen Gesellschaften trotz wohlklingender Worte in
Wirklichkeit kaum Aufmerksamkeit zugemessen. Und sind Instrumente
der Streitschlichtung vorhanden, so werden sie nicht effektiv und
rechtzeitig genug oder wenn, dann ausgesprochen interessenbezogen
eingesetzt.
Die
Schlussfolgerung hieraus ist schlicht und ernüchternd: Die
schlimmsten Gewaltexzesse im Nahen Osten seit Jahren waren durchaus
vermeidbar. Fehlender Wille zur politischen Intervention oder auch
leichtfertige Tatenlosigkeit haben ohnehin radikale Kräfte
zusätzlich ermuntert, vom bereits eingeschlagenen Weg der Aussöhnung
abzuweichen. Auf der Strecke geblieben sind dabei jene, die um einen
friedlichen Ausweg aus der Sackgasse bemüht waren. Das Problem
eskalierender Gewaltspiralen besteht darin, dass ihre Windungen
nicht mehr an den Ausgangspunkt zurückführen. Mit jedem Anschlag auf
das Leben unschuldiger Juden oder Palästinenser verschlechtern sich
die Voraussetzungen für einen weiteren Neuanfang. Unversöhnlicher
Hass und das Bedürfnis nach Revanche überlagern alles, was an
zaghaften Hoffnungen in der Region vorhanden war.
Dennoch beschwört das Wort vom "ewigen Krieg" in Nahost eine
Legende. Wechselhaft zugefügtes Leid schreit nach Versöhnung. Eine
"Gerechtigkeit" aber, die sich auf die Alternative von Sieg oder
Niederlage gründet, wird diese Versöhnung immer wieder verhindern,
weil sie eine Unterwerfung der Palästinenser unter die Stärke
Israels einschließt. Den Kombattanten bleibt diese Einsicht heute
mehrheitlich verschlossen. Es ist daher dringend an der Zeit, dass
alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft sich auf ihre Kraft
und Verantwortung besinnen, um die Friedenswilligen zu unterstützen
und die Kriegswilligen in die Schranken zu weisen. Im Besonderen
gilt dies für die Stärksten unter ihnen. Hier muss die Bereitschaft
her, den hehren Worten über einen ungeteilten Frieden endlich Taten
folgen zu lassen. Dann erst wird Frieden wieder eine neue Chance
haben.
© Freitag 25-05-2001
haGalil onLine
27-05-2001
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