Durch Israels Gesellschaft ziehen sich Gräben und Mauern. Sie
besteht aus lauter Minderheiten, für die alle andern stets Feinde
sind. Religiöser Fanatismus, ethnische Konflikte, politischer
Extremismus und die historisch unterschiedlichen Einwanderungswellen
nähren die verschiedenen Lagermentalitäten.
Orthodoxe versus Säkulare
Jitzhak Cohen beginnt seinen Tag
frühmorgens in der Synagoge. Dort legt er die Gebetsriemen an und
erfleht die Ankunft des Messias. Dann studiert der orthodoxe Jude in
einer Talmud-Hochschule die Heilige Schrift. In seinem Quartier gilt
das als Ehre. Wer etwas auf sich hält, widmet sein Leben
ausschliesslich dem Lernen der Thora. Cohen, der sich strikt an die
zahlreichen Vorschriften der jüdischen Religion hält, geht wie zwei
Drittel der orthodoxen Männer keiner geregelten Arbeit nach. Seine
fünfköpfige Familie lebt von Zuwendungen des Staates, von den
Kinderzulagen und von Spenden vermögender Glaubensgenossen. Cohen
ist kein Einzelfall. Knapp zehn Prozent der israelischen Population
befolgen sämtliche Religionsgesetze, und ein weiteres Zehntel ist
dem religiösen Lager zuzuordnen. Weil sieben bis acht Kinder pro
Familie die Regel sind, verdoppelt sich die ultraorthodoxe
Bevölkerung alle 18 Jahre.
Der Trend stösst den säkularen Israelis
sauer auf, da die Frömmsten der Frommen in den Talmud-Hochschulen
gesellschaftlich als Schmarotzer gelten. Sowohl die militärischen als auch die
wirtschaftlichen Pflichten müssen voll und ganz von den Säkularen getragen
werden. Sie befürchten zudem, ihnen würde ein religiöser Lebenswandel
aufgezwungen. Orthodoxe klinken sich zwar aus der Gesellschaft aus. Sie haben
ihre eigenen Städte und Quartiere. In den vergangenen Jahren haben die
Orthodoxen aber dank ihren vielköpfigen Familien nicht nur zahlenmässig
zugelegt. Sie konnten auch ihren politischen Einfluss steigern, zumal ihnen ein
neues Wahlgesetz dabei geholfen hat.
Der Antagonismus scheint unüberbrückbar.
Die Frommen verabscheuen die weltlichen jüdischen Mitbürger wegen ihres leeren,
hedonistischen Gehabes, und die Säkularen verachten die Frommen als
hinterwäldlerische oder gar abergläubische Zeitgenossen, die die Gesellschaft
ins Mittelalter zurückwerfen wollen. Jeder definiert sich als das Gegenteil des
andern. Als ob zwei Nationen in einem Staat leben würden, haben Säkulare und
Orthodoxe ihre eigenen Tageszeitungen, Radiostationen, Wertskalen,
Freizeitverhalten und ihren eigenen Slang. Was im Massenblatt "Yedioth
Achoronot" steht, nehmen Gottesfürchtige nicht zur Kenntnis, und die wenigsten
Säkularen wissen von der Existenz der populären orthodoxen Zeitung "Ha Modia",
die sich ausschliesslich an die Gottesfürchtigen richtet.
Die Kluft zwischen den Säkularen und den
Strenggläubigen wird in getrennten Schulen auf die nächste Generation
übertragen. Während die einen Fächer fördern, die den Anschluss an die Moderne
ermöglichen, beschränken sich die anderen aufs Pauken der jüdischen Tradition.
Das Funktionieren eines modernen Staates steht nicht auf dem Lehrplan religiöser
Institute. In den Jeschiwoth (Talmud-Hochschulen) wird den Jünglingen
eingetrichtert, Demokratie und jüdisches Gesetz würden sich nicht miteinander
vereinbaren lassen. Während die säkulare Mehrheit an einen fortschrittlichen
Staat glaubt, wollen Orthodoxe die Dominanz religiöser Gesetze im ganzen Land
durchsetzen. Auf vielen Gebieten hatten sie bereits Erfolg. Der öffentliche
Verkehr ruht am Sabbat, und die El-Al-Maschinen haben Flugverbot. Wenn Juden
heiraten oder sich scheiden lassen wollen, müssen sie zu orthodoxen Rabbinern,
die das Monopol in allen zivilrechtlichen Fragen haben. Wer bei der Heirat auf
religiösen Klimbim verzichten will, muss ins Ausland ausweichen. Pfiffige
Reisebüros haben sich auf den Hochzeitstourismus von Israelis spezialisiert, die
von Rabbinern als zu wenig koscher erachtet werden.
Orthodoxe betrachten das Diktat
religiöser Gesetze nicht als Einschränkung, sondern als Bereicherung. Mehr als
das: Ohne Konfession würde Israel seine Identität und seine Existenzberechtigung
verlieren, argumentieren sie. Das Judentum sei nicht bloss eine private
Angelegenheit, sondern eine zentrale Komponente der nationalen Identität. Meint
Cohen: "Welche Argumente blieben uns in der Auseinandersetzung mit den Arabern,
wenn wir auf alles verzichten, was uns heilig ist?"
In ihrer Verzweiflung über die zunehmende
Macht und Unverschämtheit ihrer orthodoxen Mitbürger haben sich säkulare
Israelis halb im Ernst, halb im Spass eine Lösung ausgedacht, um den Konflikt
mit den Orthodoxen zu lösen: In und um Tel Aviv sollte man für sie eine
laizistische Autonomieverwaltung ausrufen. Dort hätten Orthodoxe nichts zu
sagen.
Sephardim versus Aschkenasim
Noch immer wird in der Verwandtschaft
getuschelt, wenn der Spross einer aschkenasischen Familie eine orientalische
Jüdin heiratet. Zwei Kulturen stoßen aufeinander, die sich fremd sind: diejenige
europäischer Juden (Aschkenasim) und die Welt der jüdischen Israelis, deren
Vorfahren vor fünf Jahrzehnten aus nordafrikanischen oder asiatischen Ländern in
Israel eingewandert sind (Sephardim). Tendenziell gehören die Aschkenasim zur
Mittel- oder Oberschicht, während die Sephardim, die inzwischen über die Hälfte
der jüdischen Israelis ausmachen, in der unterprivilegierten Klasse stark
vertreten sind. Sie sind an den Universitäten unterproportional vertreten und
verdienen im Durchschnitt deutlich weniger als die Aschkenasim.
Der tiefe Graben zwischen Juden aus
Europa und denjenigen aus Ländern wie Marokko, Jemen, Syrien oder Indien tat
sich gleich nach der Staatsgründung vor fünf Jahrzehnten auf. Bei ihrer Ankunft
in Israel stiessen die Sephardim auf ein Establishment europäischer Juden, das
für die Orientalen wenig Verständnis hatte. Die Sephardim wurden in neue,
periphere Entwicklungsstädte geschickt, in denen Jobs rar und die
Ausbildungsmöglichkeiten schlecht waren. Das aschkenasische Establishment
unterdrückte die sephardische Kultur und wollte eine möglichst homogene
Lebensform durchsetzen, indem es in den Schulen und im Militär den Typ des
"Neuen Juden" nach europäischem Vorbild prägte. Die Lebensart der Juden aus
Nordafrika und den arabischen Ländern galt als minderwertig. Die Sephardim
wurden mit der Moderne konfrontiert, ohne eine Revolution durchgemacht zu haben,
ohne mit der Industrialisierung vertraut zu sein.
Für die benachteiligte sephardische
Gemeinschaft, die bis in die siebziger Jahre keine ernstzunehmende politische
Vertretung hatte, setzt sich nun die Shas-Partei ein. Sie gibt den Sephardim den
Stolz auf ihre Herkunft und ihre Kultur zurück, den ihre Eltern bei der Ankunft
im Heiligen Land verloren haben. Die Shas, die in den vergangenen Wahlen
regelmässig Mandate hinzugewonnen hat und unter den marokkanischen Juden den
grössten Teil der Anhänger rekrutiert, ist bereits drittwichtigste Partei in der
Knesset.
Doch ihre eigentliche Bedeutung liegt
ausserhalb der Politik. Die Shas hat bei einem grossen Teil der Sephardim eine
religiöse Umkehr und eine Renaissance traditioneller Denkweisen ausgelöst, was
sie von den säkularen europäischen Juden zusätzlich entfremdet. Der geistige
Mentor der Bewegung, Rabbi Ovadia Yosef, strebt eine eigentliche geistige
Revolution an. Er will die dominierende Ideologie Israels, den säkularen
Zionismus, durch einen Nationalismus ersetzen, der ausschliesslich auf dem
Judentum sephardischer Prägung basiert.
Die Shas-Partei lanciert keinen
ideologischen Kampf gegen die Armut, sondern beschränkt sich auf die soziale
Fürsorge für die Bedürftigen. Sie bietet den kinderreichen Familien Tagesheime
und einen langen Schultag zu Preisen, die deutlich unter dem Landesdurchschnitt
liegen, Mittagssuppe und Transport inbegriffen. Wo der Staat seine
Wohlfahrtsfunktion vernachlässigt, springen Sozialarbeiter der Shas ein. Sie
bemühen sich sogar um die Vermittlung von Arbeitslosen.
Die soziale Funktion der Shas trägt
indessen nichts dazu bei, die Kluft zwischen Aschkenasim und Sephardim zu
verkleinern, weil die Eleven in den Shas-Schulen keinen modernen Stoff pauken.
Die Shas-Partei und deren Institutionen verfolgen ein anderes Ziel. Sie wollen
unter der Führung von Ovadia Yosef die israelische Kultur und Ideologie
westlicher Prägung umkrempeln. Der Rabbiner benützt dazu nicht nur die
Shas-Partei als Sammelbecken der Unzufriedenen, sondern auch den Zauber der
Heiligen Schrift. Wenn er weiterhin Erfolg hat, befürchten die Aschkenasim,
werden sie "ihr" Israel bald schon nicht mehr wiedererkennen.
Pierre Heumann
Weltwoche, Ausgabe Nr. 5/01 vom 1.2.2001
Zu Teil
1, Zu Teil 3
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15-03-2001
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