Rezension:
Sarahs
Töchter
Elena Dykewomon
Kischinjow,
ein kleines Schtetl im zaristischen Rußland am Ende des 19.
Jahrhunderts: Die Hebamme Gutke ist bei der Entbindung der kleinen
Chawa dabei. Sie hat die besondere Fähigkeit, bei der Geburt eines
Menschen einen Ausschnitt aus dessen Zukunft zu schauen.
Für Chawa, die
Tochter Mirjams, sieht sie eine lange, schwierige Reise. Chawa
wächst in einer traditionellen jüdischen Familie auf: Im
Spannungsfeld zwischen jüdischer Tradition und einer jüdischen Welt
im Umbruch, zwischen Bewahren der Tradition und Anpassen an Neues,
zwischen Orthodoxie und Liberalisierung. Noch regiert Zar Alexander
II, aber die Zeichen der kommenden Revolution sind schon sichtbar.
Jüdische Arbeiter gründen den Bund. Im Dorf wüten Pogrome. Die
Familienangehörigen werden ermordet. Chawa kommt zu Verwandten nach
Odessa. Da sie keine Zukunft mehr für sich sehen, wird die
Emigration nach Amerika vorbereitet.
Hier treffen
sich Gutke und Chawa zufällig wieder: Die Schiffsreise von Odessa
nach New York entpuppt sich als Alptraum. Wer sich aus finanziellen
oder körperlichen Gründen nicht helfen kann, wird wieder
zurückgeschickt. Der Enthusiasmus und die Hoffnung verliert sich im
Emigrantenalltag. Auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie
arbeiten Frauen unter miserablen Bedingungen, verdienen schlechter
als Männer und werden schneller entlassen.
Die Einwanderinnen beginnen sich für Gleichberechtigung (und gleiche
Bezahlung) und für die Verbesserung der Arbeitsbe- dingungen
einzusetzen.
Die sich immer
wieder kreuzenden Lebensgeschichten der beiden jüdische Frauen und
ihrer Familien entfaltet sich vom jüdischen Badehaus im Rußland über
Ellis Island bis zum Frauenbildungszentrum in den USA, von der
Hebamme bis zur Gewerkschaftsfunktionärein, von der Heimarbeiterin
bis zur Textilfabrikarbeiterin und zur Bankerin – einer als Mann
verkleideten Frau - reicht das Spektrum der Schauplätze und der
handelnden Personen.
Der Roman
zeichnet die Geschichte des Ostjudentums und verbindet die
Schilderung historischer Tatsachen mit lebendigen
Milieuschilderungen der Klassen- und Geschlechterverhältnisse und
macht zudem die Geschichte jüdischer Lesben sichtbar .
Fiktion verbindet sich mit der Beschreibung jüdischen Lebens im
zaristischen Rußland und wahren Begebenheiten der amerikanischen
Arbeiter- und Sozialgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie
das Großfeuer, das am 25. März 1911 in einer Kleiderfabrik in New
York ausbrach und innerhalb von Minuten 146 jüdische und
italienische Arbeiterinnen den Tod kostete, weil sie erstickten oder
in ihrer Panik in den Tod sprangen.
"Sarahs Töchter"
ist ein politischer Roman im besten Sinne: Gelungen zeigt er die
Verbindung von Privatem mit Politischem und Sozialem auf. Die
unterschiedlichen historischen Ereignisse und kulturellen Kontexte
werden konsequent aus der weiblichen Perspektive geschildert, was
eines der großen Verdienste dieses sehr farbigen und bei aller
Schwere der geschilderten Schicksale abwechslungsreichen und sehr
spannend zu lesenden Romans ist. Am Ende des Buches hat man sich
nicht nur in zwei faszinierende Lebens- und Liebesgeschichten
vertieft, sondern nebenbei noch eine Menge erfahren über jüdische
Tradition, Lebensbedingungen von Emigrantinnen und früher
amerikanischer Gewerkschaftsgeschichte und Frauenbewegung.
Basierend auf
10jähriger Recherche, handwerklich gut und spannend erzählt gehört
"Sarahs Töchter" zur Kategorie unbedingt empfehlenswert.
Ausgestattet ist der Band mit einem
umfangreichen und informativen Glossar. Es erklärt alle im Buch
auftauchenden Begriffe aus dem kulturellen und religiösen jüdischen
Leben sowie aus der amerikanischen Frauen- und
Gewerkschaftsbewegung.
Eine Landkarte sowie der Stadtplan von Manhattan erleichtern das
Verfolgen der Handlungsabläufe.
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Elena Dykewomon
Sarahs Töchter
Übersetzung: Andrea Krug
Verlag Krug und Schadenberg
539 Seiten, 49,80 DM
Iris Noah
haGalil onLine
20-03-2001
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