FEUILLETON
Donnerstag, 4. Januar 2001
Letzte Ausfahrt Zukunft
Teilung ist sinnlos - oder
Die Geisterbahn von Oslo nach Jerusalem
NATAN SZNAIDER
Warum ist das Abkommen von Oslo gescheitert? Warum sind auch die im
Moment diskutierten Vorschläge zum Scheitern verurteilt? Und
scheitern werden sie, zweifellos.
Die Geisterbahnfahrt im Nahen Osten wird weitergehen, und jede Kurve birgt
ein weiteres Schreckensbild. Aussteigen verboten! Noch ist man in Israel und
Palästina nicht imstande, jenseits von Trennung, Halbierung, Teilung, Transfer
von Souveränität, also jenseits nationalstaatlicher Begriffe zu denken. Die
Ursache des Konflikts soll zu seiner Lösung werden, und alle können zufrieden
sein: dass ein weiteres Scheitern bevorsteht, dass weitere Autobusse in die Luft
gesprengt und weitere palästinensische Demonstranten erschossen werden - dass
das Leben eine Mischung aus Geister- und Achterbahn bleiben wird. Aussteigen
verboten!
Jerusalem soll nun also geteilt werden: der arabische Teil an
Palästina, der jüdische Teil an Israel. So einfach ist das. Als ob man eine
Stadt einfach so teilen könnte - und zwar als Friedensgrundlage, als Basis für
die Zukunft; und nicht etwa als Resultat eines Krieges. Man stelle sich nur vor,
dass man nun zum Einkaufen seinen Pass mitnehmen muss, da man mehrere
Grenzposten zu passieren hat. Lebt der alte Hausarzt nun in Israel oder in
Palästina? Hier soll nun geteilt werden, als ob es sich um zwei Kinder handelte,
die sich nach langem Streit die Spielkarten aufteilen, oder um ein in Scheidung
lebendes Paar, das seinen Besitz auseinanderfieselt: Das ist für mich, und das
gehört dir. Damit werden die Voraussetzungen für mehr Konflikte, für mehr
Gewalt, für mehr Tote schlicht beibehalten. Will denn niemand aus der
Geisterbahn aussteigen? Das ist nicht das Ende des Konflikts, wie es hier so
schön heißt. Es ist der Beginn des Konflikts unter neuen Vorzeichen.
Oslo war deshalb zum Scheitern verurteilt, weil man nur in
Scheidungsformeln denken wollte und sich nicht vorstellen konnte, dass der
einzige Weg jenseits des gegenseitigen Tötens darin liegt, die Erfahrung, die
Erinnerungen, die Lebenswelten der anderen Seite in das eigene Leben
einzubeziehen und damit ein gemeinsames Schicksal und Leben zu planen. Nicht nur
Geschichte ist hier gefragt - und weiß Gott (im wahrsten Sinne des Wortes),
Geschichte gibt es hier mehr, als wir alle nötig haben -, sondern Geographie.
Nicht nur temporales Denken, sondern räumliches Denken ist notwendig, um zu
erkennen, dass weder Jerusalem noch das gesamte Gebiet selbst überhaupt teilbar
sind. Nicht von Identität sollte man reden, sondern von Leben. Nicht von Zeit,
sondern von Raum. Die Millionen Menschen, die hier leben, müssen sich daran
gewöhnen, dass hier nichts teilbar ist, dass die Region eine wirtschaftliche und
sogar kulturelle Einheit ist. Teilung ist unmöglich. Jeder, der Jerusalem kennt,
weiß, dass dort keine Berliner Mauer gebaut werden kann.
Der Tempelberg ruft nicht
Räumliches Denken kann 'enträumlicht' werden - bei zeitlichem Denken
geht das nicht. Der 'heilige' Tempelberg ist ein gutes Beispiel: Plötzlich wird
von allen Seiten so getan, als ob ein Leben ohne die Souveränität über den
Tempelberg keinen politischen Sinn mehr ergeben würde. Arafat und Barak sind zu
Cheftheologen der von ihnen vertretenen - und getretenen - Menschen geworden.
Als wäre das Israel zwischen 1948 und 1967 'sinnlos' gewesen, als hätte der
Staat Israel vor 1967 keine Legitimation besessen. War der Tempelberg deswegen
weniger heilig, war die Anwesenheit der Juden in Israel deswegen weniger
legitim? Natürlich nicht.
Und warum hängt die Identität der Palästinenser plötzlich an diesem
Berg? Weder Israel noch Palästina sollten Souveränität über diesen Ort haben.
Die Souveränität Gottes allein sollte dort herrschen, ohne Flaggen und
Grenzkontrollen. Politisch können das dann die Uno, die Nato, der Vatikan, sogar
Liechtenstein festmachen.
Und das letzte Tabu: Das palästinensische Recht auf Rückkehr der
Flüchtlinge. Soll man das historisch oder geographisch verstehen? Natürlich
werden Millionen von Flüchtlingen nicht 'zurückkehren' können. Und sie werden
nicht die einzigen sein, die ihre Heimat verloren haben und sich nun anderswo
ansiedeln müssen. Warum muss denn der Ort der Herkunft auch der Ort sein, an dem
man stirbt? Seit wann sind Menschen Bäume?
Was den palästinensischen Flüchtlingen zusteht, ist ein Recht auf
Verständnis für ihre Situation - und ein Recht darauf, dass diejenigen, die
verantwortlich sind, dies auch öffentlich eingestehen. Noch sind nicht alle
Tatsachen geklärt, doch ist heute schon beinahe jedem Israeli klar, dass viele
Palästinenser vertrieben wurden. Eine gemeinsame historische Kommission sollte
dies völlig aufklären, und Israel sollte öffentlich seinen Teil der
Verantwortung übernehmen, ohne dass dies automatisch das Leben der Juden in
Israel delegitimiert. Auch hier zeigt sich die Unsicherheit der Juden im eigenen
Land: Gibt man den Tempelberg auf, verliert man die Legitimation, hier zu leben;
gibt man zu, dass man teilweise für das palästinensische Flüchtlingsproblem
verantwortlich ist, sollte man sofort die Koffer packen und nach Polen oder
Marokko zurückfahren. Das ist natürlich Unsinn - und wenn man die Geographie
über die Geschichte siegen lässt, kann man diese Unsicherheit auch positiv
umdeuten: Nach 33 Jahren beginnen beide Seiten endlich, sich über das
Wesentliche zu streiten. Über die Teilung zu reden hat einen Vorteil: Man muss
einsehen, dass die Teilungslösung unmöglich ist und dass kein Weg an Einheit
vorbeiführt. Man wird sich dies noch einige Jahre in die Köpfe schießen müssen -
in der Tat ein Schritt nach vorn.
Geschichten vom Anderen
Was kommt also nach der Verantwortung - nachdem Israel eingestanden
hat, auch Schuld zu tragen, für das Leid anderer mitverantwortlich gewesen zu
sein? Nach der Verantwortung kommt die Entschädigung. Entschädigungen beziehen
sich auch auf die Zukunft; sie sehen Wiedergutmachung als ein Mittel, die
momentanen Bedingungen der Benachteiligung zu ändern, welche die jeweiligen
Gruppen erlitten und erleiden. Es geht also nicht mehr nur um die Vergangenheit,
sondern um die zukunftsbezogene Projektion eines gemeinsamen Gedächtnisses. Und
jenes wird von einer kosmopolitischen Orientierung getragen, die sich aus der
Anerkennung des Leidens des Anderen und der Institutionalisierung dieses Leidens
zusammensetzt. Das heißt dann auch, dass Israelis anerkennen, was die
Palästinenser 1948 zu erleiden hatten, ohne dass das Leid der Juden und Israelis
damit in irgendeiner Weise geschmälert wird. Aus der Geschichte müssen
Geschichten geschmiedet werden, Geschichten, die so miteinander verknüpft werden
können, dass am Ende Geographie aus ihnen entsteht - eine zukunftsbezogene
Geographie, in der Juden und Palästinenser nicht nur zurück auf die eigene
Geschichte blicken. Was diese Geschichten verbindet, ist in erster Linie Leid.
Mehr Teilung und mehr Grenzen schließen nur aus - und die Geisterfahrt wird
weitergehen. Es kann nur eine gemeinsame Zukunft geben.
Aber dies wird nicht genug sein. Die Erinnerung an zugefügtes Leid
und vergangene Opfer ist eine an der Vergangenheit orientierte politische Form.
Auch ist es nicht genug, dass gewisse politische Arrangements nur für die
Zukunft greifen werden, wie hier oft versprochen wird. Vergangenheit und Zukunft
sind wichtig - aber oft vergisst man darüber die Gegenwart und gegenwärtiges
Leid. Auf die Gegenwart bezogen zu sein, ist keine kleine Sache. Die
Vergangenheit ist schon vorbei, und die Zukunft existiert noch nicht. Die
Gegenwart ist das einzig Reale. Lasst uns deshalb alle Historiker für eine Weile
in den Urlaub schicken.
haGalil onLine 05-01-2001
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