Ein historischer Sammelband:
"Wissenschaft vom Judentum - Annäherungen
nach dem Holocaust"
Andrea Übelhack
"Deutschland kann zwar nicht als das
alleinige, aber doch als das eigentliche Geburtsland judaistischer
Wissenschaft gelten. Ihre Anfänge im frühen 19. Jahrhundert sind - unter
den allgemeinen Vorzeichen einer wissenschaftsgläubigen Epoche - mit dem
Kampf um die Emanzipation und Akkulturation der jüdischen Minderheit und
zugleich mit dem Ringen um die Bewahrung ihrer Identität unter drastisch
veränderten Zeitverhältnissen verbunden." (1)
1817 hatte der junge Leopold Zunz seinen berühmten Artikel "Etwas über
die rabbinische Literatur" verfaßt, eine umfassende Programmschrift für
die historische Untersuchung der gesamten jüdischen Kultur anhand der
literarischen Zeugnisse. 1819 folgte dann in Berlin die Gründung des
"Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden", die als Geburtsstunde
der Wissenschaft vom Judentum gilt.
Bis dahin gab es keine Geschichtsschreibung im modernen Sinn innerhalb
des Judentums. So stammte beispielsweise auch der erste Versuch, eine
umfassende Geschichte der Juden zu schreiben, nicht aus der Feder eines
Juden. Die "Histoire du peuple Juif depuis Jésus Christ jusqu´à présent"
des französischen Hugenotten Jacques Basagne, 1706-1711 in sechs Bänden
erschienen, genügt zwar unseren heutigen Ansprüchen einer objektiven und
kritischen Geschichtsschreibung bei weitem nicht mehr, doch handelt es
sich dabei trotzdem um den ersten Vorstoß in Richtung jüdischer
Historiographie. Die jüdischen Gelehrten selbst sollten noch über ein
Jahrhundert verstreichen lassen, bevor ihr Interesse für die Darstellung
der Geschichte ihres Volkes geweckt wurde.
Die Haltung der Juden zu ihrer Geschichte und die Beschäftigung mit dem
Erinnern erscheint paradox, da "zwar die Frage nach dem Sinn der
Geschichte bei den Juden zu allen Zeiten eine entscheidende Rolle
spielte, die Geschichtsschreibung dagegen entweder gar keine oder
bestenfalls eine untergeordnete." (2) Im Judentum herrschte jedoch lange
Zeit ein generell anderes Geschichtsverständnis als in der christlichen
Welt. In der Heiligen Schrift ist die vollständige Geschichte von der
Erschaffung der Welt bis ins fünfte vorchristliche Jahrhundert erzählt.
Die Bücher der Propheten werden als Deutung der Geschichte und das Buch
Daniel als apokalyptische Aussicht verstanden. Das bedeutet einerseits,
daß die jüdische Geschichtsvorstellung nicht durch Historiker, sondern
durch Priester und Propheten geprägt wurde, andererseits mußte
Geschichte nicht weiter aufgeschrieben werden, da die wichtigen
Ereignisse bereits in der Heiligen Schrift festgehalten sind.
Das Geschichtsverständnis der Juden sollte sich erst mit dem
Umsichgreifen der Haskalah, der jüdischen Aufklärungsbewegung, ändern.
Die Haskalah selbst gab allerdings nicht den Impuls für die moderne
jüdische Historiographie, denn sie betrachtete die Philosophie und nicht
die Geschichte als den geeigneten Weg, das Judentum zu einem neuen
Selbstverständnis zu führen. Die Vernunft sollte sowohl die Vorurteile
gegen Juden, wie auch die Elemente des Aberglaubens innerhalb des
Judentums besiegen. Die Haskalah bereitete jedoch den Boden für die
Historiographie, indem sie die Säkularisierung großer Teile der
jüdischen Bevölkerung beschleunigte. Dennoch instrumentalisierten die
Aufklärer auch die Geschichte für ihre Zwecke, zumeist in Form von
kurzen Biographien, zum Beispiel in der Zeitschrift "HaMe´assef".
Einzelne berühmte Persönlichkeiten, wie Maimonides, wurden als würdiges
Vorbild für die Gegenwart präsentiert. Radikalere Maskilim nutzten die
Geschichte, um die jüdischen Normen zu schwächen. Die "historischen"
Beiträge in "HaMe´assef" und später auch in der Zeitschrift "Shulamit"
waren jedoch eher oberflächliche Darstellungen ohne Details, die auf
historische Methodik schließen lassen. Die Haskalah selbst konnte sich
letztendlich nicht von der traditionellen jüdischen Geschichtsauffassung
lösen. Historischen Aufsätze und Biographien bedurften noch immer der
Rechtfertigung und hatten keinen selbständigen Wert.
Das änderte sich erst mit dem
Auftreten des Vereins. Immanuel Wolfs Aufsatz "Über den Begriff
einer Wissenschaft des Judenthums" von 1822, erschienen in der
Zeitschrift des Vereins, kann als dessen Grundsatzerklärung
betrachtet werden. Wolf bezeichnete darin das Judentum als
bedeutendes und einflußreiches Moment in der Entwicklung des
menschliches Geistes, wer das nicht erkenne, habe entweder
Vorurteile oder begreife nicht, daß die Weltgeschichte ein großes
Aggregat einzelner Begebenheiten ist . "Das Judenthum (...) ist an
und für sich der wissenschaftlichen Behandlung fähig und bedürftig."
(3) Bisher habe es allerdings noch nie eine umfassende
wissenschaftliche Darstellung des Judentums gegeben, jüdische
Gelehrte hatten sich auf Untersuchungen theologischen Inhaltes
beschränkt und die Geschichte dabei fast völlig vernachlässigt. Die
Wissenschaft des Judentums müsse "ihr Objekt an und für sich, um
seiner selbst willen, nicht zu einem besonderen Zweck, aber aus
einer bestimmten Absicht" (4) behandeln. Die Notwendigkeit einer
wissenschaftlichen Untersuchung rechtfertigte Wolf einerseits durch
die Erklärung, daß jeder Gegenstand, der irgendwie in das Gebiet der
wissenschaftlichen Forschung gehört, näher beleuchtet werden müsse,
da dadurch auch Erkenntnisse für andere wissenschaftliche Objekte
gewonnen werden könnten, andererseits sei das Judentum ja auch ein
noch lebender, integrierter Bestandteil der Gegenwart.
Die Mitglieder des "Vereins für Cultur und Wissenschaft der
Juden" waren akademisch gebildet und suchten in historischen Studien nach der
Quintessenz des Judentums, mit der sie sich identifizieren konnten. Durch das
Studium an deutschen Universitäten kamen sie in Kontakt mit der historischen
Kritik, der Romantik und dem philosophischen Idealismus. Viele ihrer jüdischen
Zeitgenossen hielten diese neuen Ideale für unvereinbar mit dem Judentum, traten
daher zum Christentum über oder vernachlässigten ihre Religion. Der Berliner
Kulturverein versuchte sie dagegen mit dem Judentum zu verbinden und damit eine
Reflexion über das Wesen des Judentums und seinen Platz im intellektuellen
Kontext Europas anstoßen. Das Judentum sollte vor der Auflösung gerettet werden,
durch den Beweis, daß es ebenfalls eine historische Erscheinung und Teil der
allgemeinen Kultur sei.
Die herrschende Umorientierung vom ahistorischen
Aufklärungsrationalismus zur Hegelschen Philosophie und zur Wissenschaftslehre
beeinflußte auch die Wissenschaft des Judentums. Die Hegelsche Lehre sah die
Geschichte als Prozeß, der die verschiedenen Schichten und Stände in Europa
vereinigte. Der erste Vorsitzende des Vereins, Eduard Gans, hielt auch das
Judentum für eine dieser separaten Schichten, "die dazu bestimmt ist, mit der
allgemeinen europäischen Einheit zu verschmelzen. (...) Die Stunde der
Vereinigung naht, und Hetze und Ausschreitungen sind Teile dieses Prozesses -
sozusagen Geburtswehen der neuen Epoche." (5) Die Gründer des Vereins sahen in
der Wissenschaft das Hauptmerkmal der modernen Zeit und versuchten daher,
jüdische Identität und Wissenschaft zu verbinden, um ein Fortbestehen in der
Moderne zu sichern . Sie waren überzeugt, daß der Beweis, daß auch das Judentum
wissenschaftlich erforschbar sei und die Verlegung auf Wissenschaft und Bildung
im Allgemeinen den Judenhaß beenden würde.
Der Verein wurde im Gefolge der "Hep-Hep"-Krawalle gegründet
und führte sehr junge, akkulturierte Juden zusammen, die alle auf der Suche nach
einer jüdischen Identität waren, die es wert wäre, nach außen hin verteidigt zu
werden. Der Einfluß des Antisemitismus auf die Identitätsbildung wurde gerade in
dieser Zeit besonders sichtbar. Der Wunsch nach völliger Emanzipation weckte
Feindseligkeiten, die durch scharfe antisemitische Polemik von Intellektuellen
und Akademikern angestachelt wurden. Hatten die deutschen Juden außerdem auf
Anerkennung ihrer Beteiligung an den Befreiungskriegen gegen Napoleon gehofft,
erfuhren sie ab 1815 lediglich neue Einschränkungen und Gewaltausbrüche
einhergehend mit massiver antijüdischer Propaganda. Die Konversionen zum
Christentum erreichten in dieser Zeit neue Höhepunkte. Noch beängstigender als
diese physischen Angriffe waren jedoch Überlegungen existentieller Natur. Wie
würde das Judentum auch in Zukunft eine bedeutungsvolle Rolle spielen können,
gerade in einer aufgeklärten Welt, wo religiöse Unterschiede nicht mehr von
Bedeutung sein sollten? Die jungen Wissenschaftler versuchten daher, "das
Angsterlebnis der Progromtage in einen entscheidenden Faktor für ihre
Bestrebungen zu verwandeln." (6) Die jüdische Gemeinschaft sollte so umgeformt
werden, daß derartige Auseinandersetzungen in Zukunft nicht mehr vorkommen
würden. Dazu mußten die deutschen Juden dem Bildungsstand und der
Lebensauffassung des übrigen aufgeklärten Europa angepaßt werden. Der Verein
wollte als Elite-Gruppe die Basis für diesen Wandel stellen. Gleichzeitig sollte
jedoch das Judentum gewahrt werden, Konversion sollte nicht die Lösung sein. Der
Verein hatte daher auch das Ziel, der Jugend ein Vorbild zu geben und ein
Bollwerk gegen den Übertritt zum Christentum zu stellen. Nicht alle Mitglieder
hielten sich an diesen Vorsatz, Eduard Gans konvertierte nach der Ernüchterung
über den Erfolg des Vereins 1825 zum Christentum.
Der Beginn der jüdischen Geschichtsschreibung fiel damit in
eine Zeit, in der die jüdische Gesellschaft einen tiefen Bruch erfuhr, wodurch
auch der Verfall des gemeinsamen Gruppengedächtnisses drohte. Die
Historiographie wurde in diesem Zuge zu einer Art Ersatzreligion, zum Glauben
für säkularisierte Juden. Nicht mehr die heiligen Texte, sondern die Geschichte
wurde zur Berufungsinstanz. Die jüdische Historiographie ist damit ein Produkt
der Emanzipation, ihre Existenz verdankt sie weniger dem wissenschaftlichen
Erkenntsnisdrang, als vielmehr der Ideologie der Zeit. Die Geschichtsschreibung
entsprang einem "unwiderstehliche(n) Trieb zur Selbsterprobung" (7), wie Graetz
es nannte. Die Befreiung von der Vergangenheit sollte durch Erkenntnis der
Vergangenheit erreicht werden. Die Geschichte mußte nun nicht mehr ihren Wert
für die jüdische Gesellschaft beweisen, vielmehr sollte das Judentum seinen Wert
für die allgemeine Geschichte beweisen. "Die wissenschaftliche Kunde des
Judenthums muß über den Werth oder Unwerth der Juden, über ihre Fähigkeit oder
Unfähigkeit, andern Bürgern gleich geachtet und gleich gestellt zu werden,
entscheiden." (8)
Heinrich Graetz, dessen Werk später den Höhepunkt der
Wissenschaft des Judentums bilden sollte, sprach über 50 Jahre nach dessen
Gründung dem Verein zwar den Verdienst zu, die Wissenschaft des Judentums
gefördert zu haben, was er nicht nur für ein lobenswertes Unternehmen, sondern
auch für ein dringendes Bedürfnis hielt, dennoch sah er die Mitglieder viel zu
sehr im Banne Hegels, sie wüßten selbst nicht genau, was sie wollten und hatten
schließlich zu hoch gesteckte Ziele. Die Artikel in der Vereinszeitschrift
"enthalten zumeist unverdauliches Hegelianisches Kauderwelsch oder
Gelehrtenkram" (9)und waren daher nur für einen äußerst kleinen Kreis nutzbar.
"Und wenn der Kulturverein, der so hochstrebend begann und so kläglich endete,
auch nur dieses eine bewirkt hätte, die Liebe zur Wissenschaft des Judentums zu
erwecken, so ist sein Träumen und Treiben doch nicht vergeblich gewesen." (10)
Dies ist der Ausgangspunkt der
Entwicklung judaistischer Wissenschaft in Deutschland. Im Laufe des
19. und 20 Jahrhunderts entwickelte sich daraus eine breitgefächerte
Disziplin, die Aufnahme in den Kanon der etablierten akademischen
Fächern konnte jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt
werden. Erst nach der Vertreibung und Vernichtung des europäischen
Judentums konnte die Wissenschaft vom Judentum in die Universitäten
einziehen. Die
Grundvoraussetzung sind daher vollkommen anders. Die Entwicklung der
akademischen Diszipline und eine aktuelle Bestandsaufnahme dazu sind nun
in einem neuerschienenem Sammelband zusammengefaßt.
Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der
Ludwigs-Maximilians-Universität München, und Stefan Rohrbacher, bieten
mit der Auswahl der Aufsätze auch sehr guten Einblick in die
kontroversen Einschätzungen der gegenwärtigen Situation.
Der Band gibt zunächst, anhand von Aufsätzen von Ismar Schorsch,
Christhard Hoffmann und Michael Brenner, einen Überblick über die
historische Entwicklung der "Jüdischen Studien". Die Perspektiven von
Forschung und Lehre werden unter anderem durch Aufsätze von Joseph Dan,
Margarete Schlüter und Wolfgang Benz dargestellt.
Sehr unterschiedliche gestalten sich schließlich die Bilanzen der
einzelnen Fachgebiete, beispielweise von Giuseppe Veltri über Jüdische
Philosophie, Stefan Rohrbacher über Jüdische Geschichte, Hannelore
Künzel über Jüdische Kunst und Dieter Lamping über Jüdische Literatur.
Der Sammelband ist nicht nur für Studierende der entsprechenden Fächer
lesenswert, er richtet sich vielmehr an alle diejenigen, die sich für
die Vorgeschichte und Etablierung dieser in der Nachkriegssituation
paradox erscheinenden Disziplin interessieren!
Michael Brenner, Stefan Rohrbacher (Hg.), Wissenschaft vom Judentum.
Annäherungen nach dem Holocaust
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000
ISBN 3-525-20807-3
Euro 34,00 Anmerkungen:
(1) M. Brenner, S. Rohrbacher (Hg.): Wissenschaft vom Judentum.
Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000, S. 7.
(2) Yosef Hayim
Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches
Gedächtnis, Berlin 1996, S. 87.
(3) Immanuel Wolf,
Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, in:
Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, Band 1, 1923
(Nachdruck),
S. 16.
(4) Ebenda, S. 18.
(5) Jacob Katz,
Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819, Berlin 1994 (Dokumente,
Texte, Materialien 8 - Veröffentlicht vom Zentrum für
Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin),
S. 84.
(6) Ebenda, S. 82.
(7) Heinrich Graetz,
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart,
Band 11, Leipzig 1853-1876,
S. 420
(8)Wolf, S. 23.
(9)Graetz, S. 413.
(10) Ebenda, S. 417.
hagalil onLine 03-12-2000 |