Heute vor 62 Jahren wurden in ganz Deutschland Synagogen und Gebetshäuser
angezündet und geschändet, jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert, es gab
zahlreiche Verhaftungen, mindestens 91 Menschen wurden ermordet. Diese Nacht war
das offizielle Signal zum größten und schlimmsten Völkermord in der Geschichte
der Menschheit.Am 9. November 1989 wurde nur wenige Meter von hier die
von einem anderen Unrechtsregime errichtete Mauer endlich aufgebrochen. Aus
diesem Grund ist dieses Datum für alle Deutschen auch ein Tag der Freude. Es
darf aber niemals das Gedenken an den 9. November 1938 - an den staatlich
organisierten Pogrom - verdrängen und schon gar nicht zu einem "Feiertag,
9. November" führen. Denn Volksfeststimmung mit Würstchenbuden und Bierzelten,
die der Freude über die Niederreißung der Mauer angemessen sind, taugen nicht
zum Gedenken an die Millionen von Toten des Nazi-Terrors.
Die Erinnerungen an die Geschehnisse von damals werden spontan
gegenwärtig wenn wir die Bilder der letzten Wochen und Monate sehen:
Wenn Synagogen angegriffen und geschändet werden, wie etwa in
Lübeck, Erfurt, in meiner Heimatstadt Düsseldorf und auch hier in
Berlin. Wir sehen voll Zorn und Verbitterung die Bilder, wenn
Menschen durch die Straßen gejagt werden, wenn sie öffentlich
geschlagen, immer öfter auch getötet werden.
Können Sie sich vorstellen, welche Erinnerungen diese Verbrechen
in uns Juden auslösen, auslösen müssen? Und dabei meine ich nicht
nur meine Generation, die die Hölle des Holocaust mitmachen musste.
Ich meine auch unsere Kinder und Enkelkinder. Können Sie sich
vorstellen, was in uns vorgeht, wenn wir erleben müssen, wie schon
wieder deutsche Menschen unsere Synagogen anzünden, unsere Friedhöfe
schänden, uns Mord- und Bombendrohungen ins Haus schicken? Können
Sie erahnen, was in uns vorgeht, wenn wir sehen, wie ein
Schwarzafrikaner durch deutsche Straßen gehetzt und ermordet wird?
"Wehret den Anfängen" heißt es oft, wenn es um den Kampf gegen
Rechtsextremismus geht. Doch wir sind längst über dieses Stadium
hinaus. Was wir fast täglich erleben, hat nichts mehr mit "Anfängen"
zu tun. Wir befinden uns bereits mittendrin im Kampf gegen Rechts.
Bundeskanzler Schröder forderte vor einigen Wochen einen "Aufstand
der Anständigen", er forderte mehr Zivilcourage – aber was bedeutet
das konkret und für den Einzelnen? Was kann und muss jeder von uns
tun?
Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit in diesem Land
Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit ablehnt.
Aber diese Mehrheit darf nicht länger schweigen, sie darf nicht
länger wegschauen, sie darf nicht länger die Vorgänge in unserem
Land verharmlosen. Das Deutschland des Jahres 2000 ist nicht das
Deutschland des Jahres 1938. Die "Berliner Republik" ist nicht die
"Weimarer Republik". Aber wird dieser Staat in zehn Jahren immer
noch eine demokratische, eine offene, eine liberale Republik sein,
wie es die "Bonner Republik" war?
Juden in Deutschland haben trotz all der schrecklichen
Vorkommnisse in den letzten Wochen Vertrauen in dieses Land, zu den
verantwortlichen Politikern und zu seinen Bewohnern. Unsere Eltern
haben sich nach dem schrecklichen Leiden trotz der weltweit
verbreiteten Meinung entschlossen, hier wieder zu leben und jüdische
Gemeinden zu gründen. Wir sind nach wie vor der festen Überzeugung,
dass dieser Entschluss richtig und wichtig war. Wir wollen und
dürfen nicht Hitler und seinen Mitverbrechern im Nachhinein zum
Erfolg verhelfen, Deutschland judenrein zu machen. Wir brauchen aber
deutliche Signale, dass die nichtjüdische Bevölkerung in ihrer
Mehrheit uns und unsere jüdischen Gemeinden in diesem Lande haben
wollen.
Wir erinnern uns heute an die Ereignisse am Abend des 9. November
1938, als die Nazis ihrem Hass auf die Juden für alle sichtbar
freien Lauf ließen. Es war eine staatlich gesteuerte Aktion, die
sich auf offener Straße abspielte, und das deutsche Volk wurde
Zeuge, wie die Menschenrechte und die Menschenwürde im wahrsten
Sinne des Wortes mit Füßen getreten wurden. Unter den Gaffern waren
jubelnde und johlende Zeugen, andere haben schweigend oder
gleichgültig hingenommen, was geschah. Die Juden wurden in dieser
Nacht nahezu allein gelassen. Bis auf wenige Ausnahmen, darunter
mutige Kirchenmänner wie Bernhard Lichtenberg, hat kaum jemand
seinen Unmut, sein Entsetzen öffentlich zum Ausdruck gebracht. Mir
ist bis heute unerklärlich, wie die nicht-jüdische Bevölkerung nach
dieser Nacht in ihrem normalen Alltag weiterleben konnte.
Nur wenige sind Helden. Nur wenige haben den Mut einzugreifen,
wenn sie Zeuge werden, wie Skinheads einen wehrlosen Mann, eine
wehrlose Frau und – ja auch das mittlerweile - wehrlose Kinder auf
offener Straße überfallen und zusammenschlagen. Aber jeder von uns
ist in der Lage, die Polizei zu rufen. Und jeder von uns ist in der
Lage, bereits im Kleinen einzuschreiten, in seinem Lebensumfeld.
Wenn am Stammtisch abfällige Witze über Juden, Türken, Farbige oder
Schwule erzählt werden. Wenn am Arbeitsplatz ein Fremder
benachteiligt, schlecht behandelt wird. Reden Sie mit Ihren Freunden
und Arbeitskollegen, wenn sie dies tun! Reden Sie mit dem
Betriebsrat und demonstrieren Sie somit immer wieder Ihre
Opposition! Straßen und Stammtische dürfen nicht dem braunen Pöbel
überlassen werden.
Ich freue mich, dass es so viele sind, die der rechtsextremen
Gewalt auf unseren Straßen mit dieser Demonstration sagen: "Schluss
jetzt! Es ist genug! Wir lassen es uns nicht mehr gefallen, dass
hierzulande Menschen wieder Angst haben müssen!"
Wir dürfen bei der Bekämpfung von Rechtsradikalismus,
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht inne halten. Denn es
geht nicht allein um uns Juden, um Türken, um Schwarze, um
Obdachlose, um Schwule. Es geht um dieses Land, es geht um die
Zukunft jedes einzelnen Menschen in diesem Land. Wollen Sie eines
Tages von Glatzköpfen und deren Vordenkern regiert werden? Das ist
die Frage, um die es wirklich geht. Nicht wie viele Ausländer dieses
Land verträgt.
Machen Sie Ihre demokratisch gewählten Politiker
mitverantwortlich für das, was hier geschieht. Was nützt es, in
einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages nach den Attentaten
auf die Synagogen in Düsseldorf und Berlin in wohlklingenden Reden
den Antisemitimus zu verdammen, wenn einige Politiker am nächsten
Tag Worte wählen, die missverstanden werden können? Wenn sie die
Zuwanderungsfrage heute aus taktischen Gründen zum Wahlkampfthema
machen wollen, von so genannten "nützlichen" und "unnützen"
Ausländern faseln.
Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche
Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu
töten? Geht es um Kultur oder um die Wertvorstellungen der
westlich-demokratischen Zivilisation, die wir in unserem Grundgesetz
fest verankert haben? In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: "Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist die Aufgabe
staatlicher Gewalt." Die Würde des Menschen – aller Menschen ist
unantastbar, nicht nur die des mitteleuropäischen Christen!
Wenn dieses Prinzip als deutsche Leitkultur verstanden wird, dann
kann ich das nur befürworten. Dann aber möchte ich alle Politiker in
die Pflicht nehmen, sie auffordern, ihre populistische Sprache zu
zügeln und zunächst einmal dafür zu sorgen, dass dieser Artikel 1
des Grundgesetzes auch umgesetzt und ernst genommen wird. Politik,
Justiz und Polizei sind gefordert, alles – wirklich alles! – zu
unternehmen, um die Würde aller Menschen in diesem Land zu schützen.
Meine Damen und Herren Politiker: Überlegen Sie, was Sie sagen,
und hören Sie auf, verbal zu zündeln! Schützen Sie die Menschen in
diesem Land und schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit wir alle
gemeinsam leben können. Nur so werden Sie allen
Bürgern, nichtjüdischen und jüdischen, sich selbst und der ganzen
Welt beweisen können, dass dieses Deutschland im Jahr 2000 wirklich
eine demokratische Zukunft hat.
Wir alle sind jeden Tag - an einem Tag wie heute ganz besonders –
aufgefordert, endlich ernst zu machen mit dem Schutz der
Menschenwürde. Nur wenn wir dies auch ernst nehmen, werden
Gedenkveranstaltungen wie die heutige nicht zu inhaltlosen, lästigen
Ritualen oder Inszenierungen, sondern sind sinnvolle Zeichen einer
lebendigen und starken Demokratie.
Gedenken heißt immer auch Erinnern. Wir in der jüdischen
Gemeinschaft haben von Kindheit an gelernt, dass Erinnern ein
wichtiger Bestandteil unserer Geschichte ist. Der Talmud sagt: "Das
Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Wir sind es den Opfern der
Shoa schuldig, sie und ihre Leiden niemals zu vergessen! Wer diese
Opfer vergisst, tötet sie noch einmal!