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Duisburg, im
Oktober – Im Prinzip ist das eine fröhliche Veranstaltung: Ein
Neujahrsfest wird – mit Verspätung – gefeiert, eine Sängergruppe
steht auf der Bühne, die Damen in weißen Blusen, die Herren in
weißen Hemden über weißem Unterhemd; manchmal fassen zwei alte
Männer – und das ist sehr anrührend – einander vorsichtig an den
Händen, wenn sie ein besonders fröhliches Lied singen.
Er selbst, sagt dann der Hauptredner, hätte eigentlich gerne – auch
am Beispiel der russischen Sänger – von den erfreulichen
Entwicklungen in der jüdischen Gemeinde von
Duisburg/Mühlheim/Oberhausen berichten wollen, zu deren
Jahresempfang er schon vor ein paar Monaten eine Rede versprochen
habe. Aber jetzt, sagt er, sei ihm der Spaß an solchen
Erfolgsgeschichten vergangen, dazu sei in den letzten Wochen und
Monaten zu viel passiert: Seine Zuversicht, was die Demokratie in
Deutschland angehe, sagt er später noch, sei inzwischen „erheblich
gesunken“.
Es verdient sowieso Aufmerksamkeit, wenn ein führender Repräsentant
des deutschen Judentums, wenn der Präsident seines Zentralrats
solche Sätze sagt. Aber besonders bemerkenswert sind sie, weil sie
in diesen Tagen ausgerechnet von Paul Spiegel formuliert werden, bei
vielen Gelegenheiten, an vielen Plätzen: Paul Spiegel ist nämlich,
im Prinzip, ein fröhlicher Mensch, ganz anders, als es der seit
seinen schrecklichen Jahren in Auschwitz tief verletzte Heinz
Galinski gewesen war; ganz anders auch als Ignatz Bubis, der
kämpferische, am Ende seines Lebens immer resignierter gewordene
Moralist. Paul Spiegel ist in vieler Hinsicht ein typisches Kind der
Bundesrepublik; und gerade deshalb ist es so alarmierend, wenn er
neuerdings an deren demokratischer Stabilität zu zweifeln beginnt.
Spiegel ist – im Januar dieses Jahres wurde er als Nachfolger von
Bubis gewählt – noch nicht lange genug im Amt, als dass sehr viele
Deutsche sehr viel über ihn wissen könnten; außerdem ist er ohnehin
keiner, der gerne etwas von sich her machte: Er hat sich halt
erfolgreich durchs Leben geschlagen – und kann davon, jetzt nach
Ende des Neujahrsempfangs, hübsch selbstironisch erzählen; überhaupt
kann er sehr gut mit Leuten umgehen. Mit diesem Talent hat er sich –
nach Erringung der Mittleren Reife – zum Journalisten ausbilden
lassen, war Redakteur bei der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung,
später auch mal Chefredakteur und Verlagsleiter der Zeitschrift Mode
und Wohnen („obwohl ich von Mode gar nichts verstanden habe“), noch
später, und das zwölf Jahre lang, Pressechef des Rheinischen
Sparkassen- und Giroverbands. Drei Tage, nachdem er diesen Job
angetreten hatte, ging die große Kölner Herstatt-Bank spektakulär
pleite, und Paul Spiegel musste den Vorgang im Namen seines
Verbandes kommentieren, obwohl er noch kaum wusste, wie man Herstatt
schrieb.
Moderator bei der Kirmes
Das war aber nicht so schlimm, Paul Spiegel wusste sich zu helfen,
auch als er später sein eigener Herr wurde und eine
Agentur
gründete, mit deren Hilfe er Feuerschlucker vermittelte, Bunte
Abende organisierte und für Gitte oder Otto schöne Aufträge an Land
zog, gegen Provision. Bis zum letzten Jahr hat er die große Kirmes
im westfälischen Herne nicht nur ausgerichtet, sondern noch als
Moderator der Eröffnungsveranstaltung dafür gesorgt, dass die Leute
bei immer mehr Bier auch in Fahrt kamen. (Den Auftrag hat seine
Agentur noch immer, nur dass ihr Chef zur Zeit nicht mehr selbst als
Stimmungskanone agiert; das gehe nun doch nicht so gut zusammen mit
seinem neuen Amt, sagt der Präsident.)
Eine rheinische Frohnatur, wie viele andere auch – nur mit einem
sehr wichtigen Unterschied: Andere Leute, die sich auch wohlfühlen
in dieser Republik, mussten nicht, als sie zwei Jahre alt waren, auf
einen Bauernhof nach Belgien geschafft werden, um vor den SS-Kerlen
versteckt zu werden; anderer Leute Väter hat man nicht ins KZ nach
Dachau verschleppt; anderer Menschen Schwestern sind nicht auf
offener Straße gefangen und später ermordet worden. Diese anderen
Leute waren eben keine Juden gewesen. Als der Krieg vorbei war und
der Vater – ein erfolgreicher Viehhändler – „ganz
selbstverständlich“ wieder nach Warendorf im Münsterland zurück kam,
war zwar einerseits klar, dass Deutschland die Heimat der Spiegels
blieb; aber ebenso klar war, dass das Jüdische nicht ausgeblendet
wurde, jetzt schon gar nicht.
Seit 1967 – da war er gerade dreißig Jahre alt – ist Paul Spiegel
„für das Jüdische tätig gewesen“, wurde Ratsvorsitzender der
Düsseldorfer Gemeinde, dann das Gleiche im ganzen nordrheinischen
Gebiet, endlich Vizepräsident des Zentralrats. Er wäre sich, sagt
er, „ganz einfach schäbig vorgekommen, wenn ich mich da verweigert
hätte“. Als Bubis tot war und nach langen Debatten sich kaum jemand
bereit fand, in die großen Schuhe einer der wichtigsten moralischen
Instanzen des Landes zu steigen, als man dann wenigstens einen
suchte, auf den sich alle einigen konnten, auch weil er sich nie mit
starken Ansichten besonders profiliert hatte, da führte an Paul
Spiegel kein Weg mehr vorbei: Und plötzlich war aus dem
hauptberuflichen Spaßmacher ganz gegen seine Absicht einer geworden,
der Ernst machen musste und dabei zusehends ernst wurde.
Dabei hatte er sich zu Beginn alles ganz anders vorgestellt. Unter
anderem kannte er seine Grenzen: Weder war er ein Intellektueller,
noch ein gelernter Redner, weder ein tief gläubiger Jude, noch war
er, der Parteilose, bis dahin ein sehr politischer Mensch gewesen.
Aber vielleicht war das ja auch alles gar nicht nötig, wenn man
ohnehin keine Kopie eines weithin wirkenden Vorgängers sein wollte
und wenn man die Aufgaben des neuen Amtes pragmatisch genug sah:
Nach innen die 80.000 Juden in Deutschland samt ihren sehr
verschiedenen Strömungen zusammenzuhalten und nach außen ihre Sache
zu vertreten. Diese Sache freilich würde immer sein: den Anfängen zu
wehren, mit Worten, wie sonst.
Dass er „nicht der Moralapostel für Deutschland“ werden wolle, hatte
er schon in seinen ersten Interviews nach der Wahl gesagt, und wenn
er über Ignatz Bubis sprach – den er sehr verehrt hatte –, ließ er
durchblicken, dass er jenes letzte Stern-Interview vom Sommer 1999
nicht verstanden habe, in dem der kranke Präsident gesagt hatte, er
habe „nichts bewirkt“ und fühle sich, „auch was das Verbittertsein
angeht“, heute seinem eigenen Vorgänger Heinz Galinski näher. Solche
Sätze hätten zum sonnigen Gemüt des Paul Spiegel nicht gepasst,
damals. Ein halbes Jahr ist seitdem vergangen – und wenn man heute
wissen will, wie er sich fühlt, dann sagt Paul Spiegel: „Ich kann
Bubis inzwischen viel besser verstehen.“
Ein halbes Jahr kann eben manchmal sehr lang sein, wenn nur viel
genug passiert. Wahrscheinlich muss man erst eine solche Aufgabe wie
Spiegel haben, um präzise mitzubekommen und dann darunter zu leiden,
was alles möglich ist an Gedankenlosigkeiten und
Geschmacklosigkeiten, an Unverschämtheiten und Brutalitäten in
deutscher Politik und Gesellschaft.
Paul Spiegel war – schon wieder – erst drei Tage im Amt, als bekannt
wurde, dass der nordrhein-westfälische Spitzenkandidat der FDP im
Wahlkampf mit einem Hitler-Plakat berühmt werden wollte, dann
dauerte es noch ein paar Wochen, bis die hessische CDU es für eine
gute Idee hielt, ihre Schwarzgelder ausgerechnet mit Vermächtnissen
erfundener jüdischer Spender zu erklären. Wer damals Paul Spiegel
bei einer Rede in Berlin zum ersten Mal erlebte, staunte nicht
schlecht über die klaren und harten Sätze („ich bin wirklich
zornig“) eines verbindlichen Mannes. Die gab es dann noch öfter, aus
unterschiedlichen, aber immer unangenehmen Anlässen.
Einmal planten in Berlin empörte deutsche Hundebesitzer eine
Demonstration, bei der sie ihren entrechteten Kampfhunden einen
Judenstern anheften wollten, dann wieder setzte sich ein weltoffener
CDU-Wahlkämpfer für „Kinder statt Inder“ ein, oder ein bayerischer
Innenminister unterschied Ausländer in nützliche und solche, „die
uns ausnützen“: In all diesen Fällen habe er ja wohl reden müssen,
sagt Paul Spiegel, also hat er auch („ein zweifelhafter Versuch der
Parteienprofilierung“) geredet, als Friedrich Merz schon zwei Jahre
vor dem Termin bekannt gab, das wichtigste Wahlkampfthema werde die
Zuwanderung sein. Erst im Laufe der Zeit, sagt er, sei ihm – der in
seinem Leben schon alle demokratischen Parteien gewählt habe –
aufgefallen, dass er sich fast nur gegen Äußerungen aus der Union
erklären musste.
Biedenkopf ist beleidigt
Vielleicht ist ja alles auch ein Wahrnehmungsproblem: Wahrscheinlich
haben auch jene Deutschen eine prima Einschätzung von sich, die in
diesen Tagen häufig auf Paul Spiegel zugehen und ihm nach der
Einleitungsfloskel „ich bin ja wirklich kein Antisemit“ erläutern,
wie schlimm es sei, was „eure Leute da in Israel machen“. Paul
Spiegel seinerseits, der Wert auf die Tatsache legt, „dass ich nicht
der israelische Botschafter bin“, ist vermutlich schon deshalb über
solche Gesprächspartner wütend, weil er es nicht mag, wenn Leute die
Selbstverständlichkeit auch noch betonen (und sich ihrer rühmen),
dass sie Juden nicht für eine mindere Rasse halten.
Oder auf einer ganz anderen Ebene: Wahrscheinlich fühlte sich Kurt
Biedenkopf wirklich höchst ungerecht behandelt, als ihn Paul Spiegel
öffentlich anging, weil der Ministerpräsident bei seiner großen Rede
zur deutschen Einheit am 3. Oktober in Dresden kein Wort zum
Rechtsradikalismus gesagt hatte. Spiegel wiederum war schon deshalb
darüber gekränkt, weil er bei der Fahrt nach Dresden erfahren hatte,
dass unbekannte Verbrecher versucht hatten, seine sozusagen eigene
Synagoge in Düsseldorf in Brand zu stecken und weil er dies empört
dem von ihm durchaus geschätzten sächsischen Regierungschef vor
dessen Rede gesagt hatte. Das Verhältnis der beiden ist jedenfalls
erst einmal schwer gestört, und es wird vermutlich auch nicht
dadurch besser, dass Biedenkopf, sehr beleidigt, dem Präsidenten des
Zentralrats einen zweiseitigen Brief geschrieben und ihm später am
Telefon erklärt hat, er sehe so schnell keinen Sinn in einem
Vier-Augen-Gespräch. Wie sich Spiegel erinnert, hat Biedenkopf aber
darauf hingewiesen, dass einer seiner wichtigsten akademischen
Lehrer ein Jude gewesen sei.
Nach dem Düsseldorfer Brandanschlag hat dann Paul Spiegel öffentlich
die Frage gestellt, wann man – „was muss noch passieren?“ – als Jude
darüber nachdenken sollte, ob es richtig war, „in Deutschland wieder
jüdische Gemeinden aufzubauen“. Damit hat er großes Aufsehen erregt,
und auch manche Juden in Deutschland haben sich gefragt, ob ihr
Zentralratspräsident in seiner Erregung nicht überreagiert habe.
Auch unabhängig davon könnte man dem neuen Präsidenten vorwerfen,
dass er manchmal nicht weniger ratlos wirkt als die meisten anderen
auch, die sich in diesen Tagen mit dem Rechtsradikalismus befassen.
Manchmal, wenn er über die Möglichkeit des Zusammenlebens von
jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen redet, merkt man nur allzu
deutlich, wie sehr Spiegel – in einem einzigen Rede-Absatz – hin und
hergerissen werden kann zwischen Hoffnung („irgendwann in den
folgenden Generationen“) und dem tiefem Pessimismus, mit dem er dann
sagt, diese Hoffnung habe sich schon einmal als „gefährlicher Traum“
erwiesen. Mag also durchaus sein, dass er sich – er ist ja kein
Politiker – gelegentlich von diesem Pessimismus zu allzu heftigen
Äußerungen hinreißen lässt. Andererseits, sagt die Münchner
Buchhändlerin und Geschwister-Scholl-Preisträgerin Rachel
Salamander, sei einfach wahr, dass Spiegel („er hat sich erstaunlich
gut in sein Amt gefunden“) bei seiner Frage, ob Juden noch in
Deutschland leben könnten, „die Stimme des Volkes war“, nämlich der
Juden in Deutschland.
Vielleicht ist das ständige, diplomatische Abwägen ohnehin das
Letzte, was man verlangen sollte von Leuten, die plötzlich wieder
Grund zur Angst haben: Angst, weil in einem Bahnuntergang
Düsseldorfs – auch das in der Stadt Spiegels – eine Bombe platzt,
von der sechs jüdische Aussiedler zerfetzt werden; Angst, weil mit
einem Mal Gotteshäuser wieder gesichert werden müssen, als seien sie
Hochsicherheitstrakte.
Solche Leute voller Angst und Zweifel brauchen nichts so sehr wie
Zeichen von Zuneigung und Solidarität – und deshalb habe er sich,
sagt Spiegel, so sehr über jenen Anruf des Bundeskanzlers am späten
Abend des 3. Oktober gefreut, bei dem ihn Gerhard Schröder übers
Autotelefon gefragt hat, ob er am nächsten Tag nach Düsseldorf
kommen solle.
Der Beifall der CDU-Leute
Spiegel ist ein gelassener Mann, einer, von dem zum Beispiel
Johannes Rau, der ihn lange kennt, rühmend hervorhebt, dass er gar
nicht erst versuche, Bubis nachzuahmen, dass er „bescheiden“ sei und
gleichzeitig „bestimmt“. Weil Spiegel auch gerecht ist, hebt er im
Gespräch besonders hervor, dass die allermeisten Briefe, die er in
den letzten Wochen zu Hunderten bekommen hat, von Leuten stammen,
die ihm Mut machen und solidarisch sind. Auf solchen Zuspruch stützt
sich sein Optimismus.
Der Pessimismus hat dann wieder damit zu tun, was er den in den
letzten Jahren „offener gewordenen Antisemitismus“ nennt, mit der
Tatsache, dass sich auch Leute aus den besseren Kreisen neuerdings
immer häufiger trauen, ihm und seinesgleichen mit Namen und
Anschrift mitzuteilen, er solle doch verschwinden, wenn es ihm hier
nicht passe. Was ihm genau nicht passt, sagt er vielleicht gerade
deshalb jetzt deutlicher, als er sich das noch vor Wochen getraut
hätte: Seine Zuversicht sei erheblich gesunken, hat er am Donnerstag
letzter Woche – am Tag nach seiner Duisburger Neujahrsrede – auch
den Fraktionen des Landschaftsverbands Rheinland gesagt, die ihn zu
einer Rede eingeladen hatten. Diese Entwicklung habe vor allem mit
den Diskussionen zu tun, die in „manchen Führungskreisen dieses
Landes zum Thema Fremdenfeindlichkeit geführt werden“. Spiegel hat
dann gleich – weil er nicht gerne im Abstrakten bleibt – „die
führenden Politiker dieses Landes“ apostrophiert, die von jungen
Menschen „Geschichtsbewusstsein und Toleranz den Fremden gegenüber
einfordern“ und dann „aus wahltaktischen Gründen eine Kampagne gegen
die doppelte Staatsbürgerschaft initiiert haben“. Und hat am Ende
lang anhaltenden Beifall bekommen auch von den Mitgliedern der
CDU-Fraktion.
Solche Manifestationen schlechten Gewissens müssten dann ja wieder
der Frohnatur des Paul Spiegel Freude machen. Die ist wohl ohnehin
nicht ganz verschütt gegangen in den letzten Monaten, sonst würde er
sich nicht so freuen über sein jüngstes Magazin-Interview, bei dem
erstmals in der Geschichte die Fragen und die Antworten
gleichermaßen von Spiegel gekommen seien. (Er habe den Redakteuren
gesagt, sie sollten froh sein, dass er nicht Focus heiße. ) Noch
erzählt Spiegel diese Geschichte, da piept auch schon sein Handy, an
dem er – seine Seufzer werden immer tiefer – erfährt, dass
inzwischen schon das zweite Mitglied des Zentralrats aus Versehen
der rechtsradikalen Zeitung Junge Freiheit ein Interview gegeben
hat. Aber
im Prinzip ist Paul Spiegel ein fröhlicher Mensch.
SZ / SEITE DREI
Mittwoch, 25. Oktober 2000
haGalil onLine
31-10-2000
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