Ein jüdisch-feministischer Midrasch zu
den Jamim Noraim:
Für eine Versöhnung mit Lilith
von Marianne Wallach-Faller
Jüdische Feministinnen verwenden gern die
alte Form des Midrasch, um ihre Anliegen zu formulieren. Besonders um die
Gestalt Liliths, der ersten Frau Adams (nach einer Interpretation des ersten
Schöpfungsberichts), kreisen solche neuen Midraschim gern. Der folgende
Midrasch übernimmt Elemente der alten Erzählungen um Lilith. Er schreibt
aber auch den bekanntesten feministischen Midrasch weiter, Judith Plaskows
"Das Kommen Liliths".
Am Anfang schuf Gott Adam und Lilith aus dem Staub
der Erde und blies ihnen den Lebensatem ein. Da sie beide gleich erschaffen
worden waren, waren sie einander in jeder Hinsicht gleichgestellt. Adam, als
Mann, passte dies nicht, und er verlangte von Lilith, dass sie sich ihm
unterordne. Lilith weigerte sich, rief Gottes heiligen Namen an und flog weg.
Sofort beklagte sich Adam darüber bei Gott. Gott schickte drei Boten zu Lilith,
um sie zur Rückkehr zu Adam aufzufordern. Sonst werde sie bestraft. Lilith aber
wollte nicht mit einem Mann zusammenleben, der sie nicht als Gleichgestellte
behandelte, und sie beschloss, dort zu bleiben, wo sie war.
Als Ersatz für Lilith „baute" (banah, 1. Mose 2. 22) Gott für Adam eine zweite
Frau aus Adams Seite: Eva, die nun nicht mehr gleich wie Adam „erschaffen"
(jazar, 1. Mose 2. 7), sondern als „eine Hilfe ihm gegenüber" „gebaut" wurde.
Während des Schöpfungsprozesses wurde so, entgegen Gottes ursprünglichem
Schöpfungsplan, die Frau verkleinert – so wie dies auch beim Mond gegenüber der
Sonne geschehen war (Chullin 60 b).
Adam und Eva waren zunächst glücklich miteinander. Mit der Zeit aber verspürte
Eva gelegentlich Fähigkeiten in sich, die unentwickelt blieben, und Adam begann
sich mit der angepassten Eva zu langweilen. Immer häufiger träumte er von
Lilith, und eines Tages überstieg Adam, als Eva gerade am Kochen war, die Mauer
des Gartens Eden, um Lilith zu suchen. Er dachte, ihr fehle sicher der Mann,
sodass er sie leicht zu seiner Nebenfrau machen könnte. Als er Lilith fand, war
sie gerade mit dem Studium der Tora beschäftigt – nicht unserer Tora aus Tinte
und Pergament, sondern der mit schwarzem Feuer auf weisses Feuer geschriebenen
Ur-Tora, die auf Gottes Knie ruht. Auch Adam studierte gelegentlich die Ur-Tora,
und er gab vom Gelernten an Eva das weiter, was ihn für sie gut dünkte und ihm
nützte. Lilith freute sich über Adams Besuch, da sie hoffte, mit ihm zusammen
die Tora studieren zu können. Aber es störte Adam, dass sie gleich viel oder
teilweise noch mehr wusste als er, und er weigerte sich, mit ihr zu lernen.
Statt dessen versuchte er, Lilith zu seiner Nebenfrau zu machen. Als ihm dies
nicht gelang, kehrte er zu Eva zurück. Nun begann er immer intensiver von
Liliths unerreichbarer Schönheit zu träumen. Eva aber erzählte er (indem er die
Situation umkehrte), dass Lilith nachts zu ihm geflogen komme, um ihn zu
verführen. Sie sei eine Dämonin und mit dem Satan liiert.
In Wahrheit aber interessierte sich der Satan weniger für die starke und
gelehrte Lilith als für die angepasste und frustrierte Eva, der er Schlechtes
über Lilith erzählte. Auch plante er die Vertreibung Adams und Evas aus dem
Garten Eden. Eva war empfänglich für das Böse, das der Satan von Lilith
erzählte, und sie glaubte auch Adams verdrehte Geschichten über Lilith.
Inzwischen machte Lilith, die völlig allein war, hin und wieder den Versuch, in
die menschliche Gemeinschaft im Garten zurückzukehren. Nach ihrem ersten
vergeblichen Versuch, die Mauern slotsmob zu durchbrechen, verstärkte Adam die Mauer, und
Eva half ihm sogar noch dabei. Dabei erhaschte Eva einen Schimmer von Lilith und
sah, dass sie eine Frau war wie sie.
Jetzt hätten bei Eva eigentlich Zweifel aufkommen sollen, ob die Geschichten
Adams und des Satans, Lilith sei eine Dämonin, wirklich stimmten. Sie hätte sich
eigentlich bemühen sollen, Lilith als andere Frau, als Schwester wirklich
kennenzulernen. Eva und Lilith hätten so gemeinsam die Verkleinerung der Frau
wieder rückgängig machen, damit den ursprünglichen Schöpfungsplan verwirklichen
und die Erlösung herbeiführen können. Sie hätten dabei die Unterstützung Gottes
gehabt, da Gott wachsende Probleme mit Adam hatte, der sich mehr und mehr mit
Gott identifizierte und immer mächtiger wurde.
Doch das Gift, das Adam und der Satan Eva eingespritzt hatten, war stärker.
Statt sich zu fragen, was sie in ihrem Leben und in ihrer Beziehung zu Adam
ändern müsste, um aus ihrer Unzufriedenheit herauszufinden, stilisierte sie sich
(zumal sie inzwischen einen Sohn geboren hatte) zu einer Art rundum glücklichen
Muttergöttin hoch, wozu Adam sie auch noch ermunterte. Gleichzeitig blickte sie
voll Verachtung auf die gelehrte Lilith, die Gleichstellung mit Adam wollte. Sie
dichtete Lilith alles Böse an, das sie in sich selbst verspürte und das dem
strahlenden Bild, das sie sich von sich selbst machte, widersprach.
Als Eva eines Tages der Gartenmauer entlangspazierte, sah sie einen jungen
Apfelbaum, den sie und Adam einst gepflanzt hatten und dessen Zweige über die
Mauer hinüberhingen. Sie kletterte hinauf und schaute über die Mauer. Drüben
hatte Lilith auf diesen Augenblick gewartet und kam voll Freude zu Eva, in der
Hoffnung, in ihr eine Schwester zu finden. Eva jedoch wollte nur die Gelegenheit
benützen, um alles Dunkle in sich auf Lilith zu laden und sie damit in die Wüste
zu schicken. Sie warf Lilith alle Verleumdungen an den Kopf, die ihr Adam und
der Satan über Lilith eingeflüstert hatten, und beschimpfte sie als ehrgeizige
Egoistin, die nicht bereit sei, sich für Adam aufzuopfern, und die nicht
geduldig warten konnte, bis Adam ihr gewisse Dinge zu tun erlaubte. Lilith
wandte Eva enttäuscht den Rücken zu und ging weg.
Seither wartet Lilith jedes Jahr, wenn die Zeit von Rosch Haschana, dem
Geburtstag der Schöpfung, und von Jom Kippur, dem Versöhnungstag, herannaht,
darauf, dass Adam und Eva zu ihr kommen, um sich mit ihr zu versöhnen, damit sie
gemeinsam die Verkleinerung der Frau rückgängig machen und so den ursprünglichen
Schöpfungsplan verwirklichen und die Erlösung herbeiführen können. Die Söhne
Adams und die Töchter Evas und Liliths tragen den Zwiespalt zwischen den ersten
Menschen bis in unsere Zeit weiter. Bis heute werden Liliths Töchter weiter
ausgegrenzt. Die Zeit von Rosch Haschana und Jom Kippur wäre ein guter
Zeitpunkt, um dies zu überdenken und sich zu versöhnen – und um den
ursprünglichen Schöpfungsplan endlich zu verwirklichen.
Marianne Wallach-Faller (1942-1997) hat
in Deutschland und in der Schweiz mit ihren Vorträgen immer grössere Beachtung
gefunden. Ihre Texte nehmen orthodoxe jüdische Traditionen auf und bringen sie
mit feministischen Fragestellungen ins Gespräch. Der hier publizierte Midrasch
stammt aus dem im Oktober 2000 erscheinenden Buch "die Frau im Tallit - Judentum
feministisch gelesen" herausgegeben von Doris Brodbeck. Wir bedanken uns
für die freundliche Erlaubnis der Herausgeberin.
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29-09-2000
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