In der öffentlichen, aber
auch in der wissenschaftlichen Diskussion wird der Begriff "Auschwitz" seit
Jahrzehnten vor allem metaphorisch verwendet: zur Charakterisierung der
Verbrechen des "Dritten Reiches". Während über den größten und bekanntesten
Schauplatz des nationalsozialistischen Massenmords zwar viel gesprochen
wurde, blieb das Wissen darüber auffallend gering.
Die Öffnung der osteuropäischen Archive für westliche Historiker schuf die
empirische Basis für neue Fragestellungen. Unter dem Titel "Darstellungen
und Quellen zur Geschichte von Auschwitz" liegt nun eine vierbändige Reihe
vor, die das Vernichtungsgeschehen in erweiterter politik- und
sozialgeschichtlicher Perspektive behandelt. Initiiert wurden die vom
Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Forschungen von Norbert Frei,
Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.
Das Ziel der Studien ist es, den Massenmord im Konzentrations- und
Vernichtungslager im Kontext der nationalsozialistischen Eroberungs-,
Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im eroberten Polen zu
veranschaulichen. Sybille Steinbacher hat die Geschichte der Stadt Auschwitz
unter deutscher Besatzung erforscht und die Gleichzeitigkeit von
"Germanisierung" und Judenmord in den Mittelpunkt ihres Buches gestellt, das
hier zusammenfassend vorgestellt wird.
Morgens gegen fünf Uhr kreisten am 1. September 1939, einem Freitag, deutsche
Kriegsflugzeuge über den Häusern. Bomben schlugen ein, Gebäude stürzten
zusammen. Auschwitz gehörte zu den Orten Polens, die die Luftwaffe schon am
ersten Kriegstag unter Beschuss nahm. Das deutsche Interesse galt dem
strategisch wichtigen Bahnhof und auch den Kasernen des sechsten polnischen
Reiterbataillons. Die Soldaten, die dort stationiert waren, rückten unter dem
Eindruck des deutschen Angriffs noch am selben Tag ab und verlegten ihren
Stützpunkt in das rund 60 Kilometer östlich gelegene Krakau.
Überstürzt entschlossen sich auch viele Zivilisten zur Flucht. Im Bombenhagel
waren am ersten Kriegstag ein 13-jähriger Junge und eine alte Frau gestorben,
außerdem erlag ein junger Mann seinen Schussverletzungen, und ein anderer, so
steht im Totenbuch der katholischen Pfarrgemeinde, nahm sich "aus Aufregung"
über den Kriegsausbruch das Leben.
Auschwitz zählte im September 1939 etwa 14 000 Bewohner; etwas mehr als die
Hälfte davon waren Juden, die anderen, rund 6000, Katholiken. Vor allem Juden
verließen in den ersten Septembertagen scharenweise die Stadt. Vom Ziel ihres
Exodus hatten sie allerdings nur vage Vorstellungen. Auf Pferdewagen und zu Fuß
zogen sie über schlechte Straßen in Richtung Krakau, wo der Marsch für die
meisten in provisorischen Unterkünften endete. Manche gingen weiter nach Tarnów
und Lemberg, einige steuerten die rumänische, andere die polnisch-sowjetische
Grenze an. Schon nach wenigen Tagen aber begaben sich die, die in Krakau Halt
gemacht hatten, wieder auf den Weg zurück, denn am 6. September marschierte die
Wehrmacht dort ein. Gezeichnet von den Anstrengungen der Flucht und in der
Hoffnung, es zu Hause besser zu haben, kehrten sie um.
Unterdessen hatten die Einheiten der 14. Armee unter dem Befehl von
Generaloberst Wilhelm List den Vormarsch auf Auschwitz begonnen. Hinter den
rückwärtigen Truppen der Wehrmacht marschierten auch die Einsatzgruppe z. b. V.
(zur besonderen Verwendung) unter SS-Obergruppenführer Udo von Woyrsch Richtung
Oswiecim. Himmler hatte die Zusammenstellung der Truppe am Abend des 3.
September eilends telegraphisch angeordnet, damit die Einheit die heftigen
polnischen Abwehrkämpfe im oberschlesischen Industrierevier niederschlage.
Unweit von Auschwitz war eine deutsche Panzerdivision am selben Tag in der Nähe
des Gutes Raisko durch einen polnischen Vorstoß so sehr in Bedrängnis geraten,
dass sie Verstärkung anfordern mussste. In einer Meldung der Heeresgruppe Süd
heißt es: Auschwitz sei nur "unter schweren Kämpfen" erreicht worden. Ein
polnisches Regiment hatte noch versucht durch die deutschen Linien zu brechen,
dabei gelang es den Soldaten, die Brücke über die Sola, den wichtigsten
Verbindungsweg in die Stadt, zu sprengen. Die Eroberer mussten deshalb zuerst
ein hölzernes Provisorium über den Fluss schlagen, ehe sie Auschwitz am 4.
September einnehmen konnten. "Die erforderlichen Maßnahmen zur Befriedung von
Auschwitz" seien getroffen worden, lautete am Tag danach die euphemistische
Meldung der Einsatzgruppe.
Nur eine Woche später hieß der Marktplatz von Oswiecim "Adolf-Hitler-Platz".
Auch der polnische Ortsname (abgeleitet von "swiety", zu deutsch "Heiliger") war
rasch in "Auschwitz" umgewandelt. Den deutschen Namen trug die Stadt zuletzt im
ausgehenden 19. Jahrhundert, als sie zum Habsburgerreich gehört hatte. Dem Haus
Habsburg unterstand Auschwitz (im Königreich Galizien und Lodomerien gelegen)
von 1772, dem Jahr der ersten Teilung Polens, bis zum Zusammenbruch der
Monarchie 1918. Bis zuletzt nannte sich der Kaiser auch "Herzog von Auschwitz".
Wenngleich Straßen, Brücken und Plätze rasch deutsche Namen trugen, stand
wochenlang nicht einmal grundsätzlich fest, ob Auschwitz dem beschleunigt zu
"germanisierenden" und dem Deutschen Reich einzugliedernden Ostteil Schlesiens,
dem so genannten Ostoberschlesien, dem damals noch geplanten "Reichsgau
Beskidenland" oder dem staatsrechtlich nicht definierten Generalgouvernement
zugeschlagen würde. Erst am 26. Oktober 1939 fiel die Entscheidung.
An diesem Tag trat die von der Grenzkommission im Reichsministerium des Innern
erarbeitete Regelung über die Neufestsetzung der Grenze des Deutschen Reiches in
Kraft. Hitler vollzog die territoriale Aufteilung des eroberten Polen dabei
nicht so sehr in der Absicht, die deutschen Ansprüche im Osten bereits endgültig
festzuschreiben. Er traf die Entscheidung vielmehr mit dem Ziel, die
"Germanisierung" der westpolnischen Gebiete (Ostoberschlesien,
Danzig-Westpreußen, Wartheland und Ostpreußen) sowie die ökonomische Ausbeutung
des Generalgouvernements so schnell wie möglich in Gang zu setzen.
Bestrebt, eine neue Raum- und Wirtschaftsordnung festzulegen, vollzog die
Grenzkommission die territoriale Arrondierung des Reiches nach militärischen,
wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Gesichtspunkten. Dem Reich wurden weite
Teile zuvor rein polnischen Terrains von über 90 000 Quadratkilometern
einverleibt - mit vier Fünfteln der polnischen Industrie und insgesamt etwa zehn
Millionen Einwohnern. Weitaus mehr Gebiete, als seit dem Ende des Ersten
Weltkriegs von Deutschland beansprucht worden waren, kamen nun zum Deutschen
Reich.
Von der Eingliederung Westpolens war Auschwitz unmittelbar betroffen: Die Stadt
gehörte damit zum Rechtsraum des Deutschen Reiches - und lag nicht, wie noch
heute vielfach suggeriert wird, im geographisch nebulösen "Osten". Anders
gesagt: Das Auschwitz der "Endlösung" lag - ebenso wie Chelmno im Warthegau -
auf deutschem Boden. Administrativ gehörte Auschwitz fortan zum Landkreis
Bielitz im neu gebildeten Regierungsbezirk Kattowitz, der wie der
Regierungsbezirk Oppeln der Provinz Schlesien zugeschlagen wurde.
Zum Zeitpunkt der Eingliederung in das Deutsche Reich wohnte in Auschwitz
praktisch niemand, der nach nationalsozialistischen Rassenvorstellungen als
Deutscher gelten konnte. Diese Tatsache erhellt schlagartig die Dimension der
"bevölkerungspolitischen" Aufgabe, vor die sich die deutsche Zivilverwaltung und
die SS in Auschwitz gestellt sahen. Historisch überhöht mit dem Hinweis auf die
Ostsiedlungsbewegung des Mittelalters, wurde die programmatisch gewalttätige
"Germanisierungspolitik" überall in den eingegliederten westpolnischen Gebieten
zum ideologischen Programm der Besatzer.
"Germanisierung" bedeutete im Rahmen der nationalsozialistischen "Neuordnung
Europas" die skrupellose "Umschichtung der Völker". Vorgesehen war die radikale
Entnationalisierung und rücksichtslose Verdrängung der einheimischen Bewohner.
Die westpolnischen Territorien sollten so schnell wie möglich zu einem
bevölkerungspolitisch "bereinigten", ethnisch homogenen und - in Verbindung mit
grundlegenden Maßnahmen zur wirtschaftlichen und sozialen Neuordnung - zu einem
ökonomisch leistungsfähigen Terrain umstrukturiert werden.
Diese Planung sah den Aufbau der deutschen Verwaltung ebenso vor wie die
Ansiedlung von "rassisch wertvollen Deutschen". Das Ziel war es, sämtliche Juden
und das Gros der Polen zu vertreiben und, unter strenger Segregierung von den
verbleibenden Polen, Deutsche und Deutschstämmige "anzusetzen".
Himmler war in seiner neuen Funktion als Reichskommissar für die Festigung
deutschen Volkstums im Oktober 1939 von Hitler mit weitreichenden zusätzlichen
Kompetenzen ausgestattet worden, um in den westpolnischen Gebieten die
Ansiedlung von Deutschen und Deutschstämmigen unter gleichzeitiger Aussiedlung
der "rassisch minderwertigen" einheimischen Bevölkerung in die Wege zu leiten.
Auschwitz sollte im Zuge des ersten Umsiedlungsvorhabens, das Himmler plante,
zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der Deutschen aus
Südtirol werden. Die Voraussetzung dafür war, dass Juden und Polen aus der Stadt
"entfernt" würden, eine Forderung, die von der Südostdeutschen
Forschungsgemeinschaft in Wien gestützt wurde. Die dort tätigen Raumplaner,
Architekten, Historiker und Anthropologen waren für die landeskundliche und
kulturwissenschaftliche Begleitforschung der nationalsozialistischen
Umsiedlungspolitik zuständig.
Zentrum der Deutschen
Die Pläne für Auschwitz aber wurden nicht spruchreif, denn nach dem Sieg über
Frankreich favorisierte Himmler Burgund als neuen Siedlungsrayon für die
Südtiroler (später kamen die Untersteiermark und auch die Krim ins Gespräch),
und in der Region um Auschwitz kristallisierte sich heraus, dass die
"Eindeutschung" nicht so problemlos vonstatten ging wie erwartet. Der gesamte
östliche Teil des Regierungsbezirks Kattowitz, "Oststreifen" genannt, erwies
sich wegen seiner nahezu ausschließlich polnischen und jüdischen Bevölkerung als
schwer "einzudeutschen".
Als "Ansatzgebiet" für Deutsche und Deutschstämmige, darin waren sich die
Siedlungsstrategen in Zivilverwaltung und SS rasch einig, war die Region
untauglich. Von den westlichen Landkreisen des Regierungsbezirks durch die so
genannte Polizeigrenze, einen bewachten Wall, abgetrennt, besaß der
"Oststreifen" einen territorialrechtlich zweitrangigen Status. Von der
"Germanisierung" wurde dieses Terrain (zumindest vorläufig) zurückgestellt. Für
die einheimische Bevölkerung von Auschwitz war dies von wichtiger Bedeutung,
denn sie blieb auf Grund der Lage der Stadt im "Oststreifen" vor der Deportation
zunächst bewahrt.
Auschwitz war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in der Mehrzahl von Juden
bewohnt. Im Zuge der Industrialisierung erlebte die Stadt eine kulturelle und
wirtschaftliche Hochblüte. In stolzer Selbstwahrnehmung sprachen die jüdischen
Einwohner deshalb vom "Oswiecimer Jerusalem". Mit Beginn der
nationalsozialistischen Umsiedlungen nahm die Zahl der jüdischen Bewohner nicht
ab, sondern vielmehr zu, denn Auschwitz wurde nun zu einem Sammelbecken für jene
Juden, die aus den beschleunigt "einzudeutschenden" westlichen Teilen des
Regierungsbezirks Kattowitz in den "Oststreifen" deportiert wurden.
Gezwungen, die Menschen unterzubringen und zu versorgen, sah sich der jüdische
Ältestenrat der Stadt bald vor schier unlösbare Probleme gestellt. Im Frühjahr
1940 war Auschwitz zu einer der größten jüdischen Gemeinden im "Oststreifen"
geworden. In den Gassen der Altstadt lebten die Juden eng zusammengepfercht,
isoliert von den übrigen Bewohnern und von deutschen Wachposten streng
kontrolliert.
Unter den Deutschen, die sich allmählich in Auschwitz niederließen, waren
Verwaltungsbeamte, aber auch Geschäftsleute und Treuhänder der jüdischen und
polnischen Unternehmen. Der Umzug in die eingegliederten Ostgebiete eröffnete
ihnen vielfältige Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. In der Phase zwischen
dem Abbruch der Militärverwaltung im Herbst 1939 und der Konsolidierung der
Zivilverwaltung im Frühjahr 1940 herrschten anarchische Zustände.
Im Kompetenzengewirr der zahllosen Ämter und Behörden von Partei und Staat
machte sich Rechtsunsicherheit breit. Korruption war gerade in dieser Zeit - der
"Beuteperiode" der Besatzungsherrschaft - gang und gäbe. Kriegseuphorie,
Siegeszuversicht und Pionierstimmung schlugen sich in moralischer Enthemmung
nieder. Ausgreifende Skrupellosigkeit wurde nun rasch zum Verhaltensmuster der
Deutschen "im Osten".
Von Normen nicht gebunden und einer effektiven Machtkontrolle nicht ausgesetzt,
übten die Funktionsträger ihre Willkür rücksichtslos aus. Im
Herrenmenschengebaren flossen rassenpolitische Weltanschauungsideologie und
persönliche Profitgier zusammen und förderten eine Entwicklung, die schließlich
zum Strukturproblem der deutschen Herrschaft werden sollte: Politischer
Korruption war im eroberten Land, anders als im Altreich, freier Lauf gelassen.
Persönliche Bereicherung entwickelte sich hier rasch zum Gewohnheitsrecht.
Erpressung, Bestechlichkeit, Unterschlagung und viele andere Formen des
Missbrauchs staatlicher Macht grassierten, ohne dass dem entgegenzuwirken
versucht wurde.
Bis auf den letzten Stoffballen plünderten beispielsweise der erste deutsche
Bürgermeister von Auschwitz und sein Nachfolger das Warenlager eines geflohenen
jüdischen Kaufmanns. Auch aus anderen Häusern stahlen sie Mobiliar, Geld und
Schmuck. Aus der Wohnung eines jüdischen Arztes - er war bis zum deutschen
Einmarsch der zweite Bürgermeister gewesen - stahlen sie eine Ledergarnitur,
einen Wandteppich und auch einen Flügel. In einem anderen Haus tönte bei der
Raubaktion aus einem Grammophon "spaßweise", wie einer der Helfershelfer später
sagte, die polnische Nationalhymne.
Keine drei Kilometer von der Altstadt entfernt entstand im Frühjahr 1940 auf
einem leerstehenden Barackengelände, das im Ersten Weltkrieg als Unterkunft für
polnische Saisonarbeiter ("Sachsengänger") gedient hatte, das erste
Konzentrationslager auf polnischem Boden. Die Geländewahl stand im Zusammenhang
mit einer groß angelegten Suche Himmlers nach geeigneten Arealen, um überall in
den Grenzgebieten des Deutschen Reiches Konzentrationslager zur Internierung der
politischen Gegner zu errichten. Wenngleich die Entscheidung für Auschwitz erst
nach mehrmaligen Besichtigungen fiel - die Baracken waren verfallen und das
Areal lag in einem Hochwassergebiet -, überwogen nach Ansicht der zuständigen
SS-Fachleute die Standortvorzüge, denn das ehemalige Saisonarbeiterlager war
infrastrukturell erschlossen und nach außen leicht abzuschotten.
Während das Konzentrationslager entstand, schritt der Aufbau der deutschen
Verwaltung in der Stadt indessen voran, und das Alltagsleben der zuziehenden
deutschen Bewohner - unter ihnen nun auch zahlreiche Angehörige der Lager-SS -
nahm seinen Lauf. Hatte die Stadt aufgrund ihrer "rassischen" Struktur und ihrer
Zugehörigkeit zum territorialrechtlich inferioren "Oststreifen" für die
nationalsozialistische "Germanisierungspolitik" bis dahin nur eine marginale
Rolle gespielt, wandelte sich die Bedeutung von Auschwitz im Siedlungsprogramm
im Frühjahr 1941 mit der Errichtung der IG-Farben-Werke.
Der Fabrikbau war eines der teuersten, größten und ehrgeizigsten
Investitionsprojekte des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg. In
atemberaubendem Tempo setzte nunmehr eine industriegeleitete Städtebaupolitik
ein, in deren Gefolge Auschwitz zur "Musterstadt" der Ostsiedlung wurde, anders
gesagt: zum Modellobjekt bei der "Eindeutschung" des eroberten Lebensraums. Die
IG Farben, das wichtigste deutsche Privatunternehmen und eine der größten
Chemiefabriken Europas, erfüllte mit der Errichtung des Werkes nicht nur ein
vordringliches wirtschaftspolitisches Ziel der Reichsregierung, sondern auch
deren dezidierten bevölkerungspolitischen Auftrag, am Ostrand des Deutschen
Reiches ein "Bollwerk des Deutschtums" zu errichten. Das Leitmotiv der
Firmenpolitik war die profitable Verbindung von rassenideologischen Dogmen und
ökonomischen Interessen.
Die IG Farben ließ sich in der Folgezeit in Auschwitz nicht nur bedenkenlos auf
die Komplizenschaft mit der SS ein und unterhielt mit dem Lager Monowitz das
reichsweit erste von einem privatwirtschaftlichen Unternehmen eingerichtete
Konzentrationslager; die IG Farben initiierte im Dienste der "Germanisierung"
darüber hinaus die gewaltsame "rassische" Neustrukturierung der Einwohnerschaft
von Auschwitz. Die unmittelbare Folge des Fabrikbaus war die Deportation der
jüdischen Bevölkerung.
Am 7. April 1941 feierten Honoratioren aus Politik und Industrie mit einem
Festakt in Kattowitz die Gründung des neuen Werkes. Zur selben Zeit mussten die
Juden von Auschwitz unter Zwang ihre Heimatstadt verlassen. Die polnischen
Bewohner blieben in der Stadt zurück, um als Arbeitskräfte beim Aufbau der
IG-Fabrik zu dienen. Wenn sie ausgedient hätten, so sahen es die Pläne vor,
sollten auch sie "verschwinden". Die mehr als 700-jährige jüdische Tradition von
Auschwitz endete mit dem Bau der IG Farben abrupt; die Juden wurde in die
Großsammelstätten und späteren Ghettos von Sosnowitz und Bendzin (Bendsburg)
gebracht, von wo aus die meisten später zurückkamen: in das Vernichtungslager
vor den Toren ihrer eigenen Stadt.
Auf der Flur des einst von rund 3800 Juden und Polen bewohnten Dorfes Birkenau
entstand im Herbst 1941 ein Lagerkomplex, der das so genannte Stammlager an
Größe bei weitem übertraf. Zunächst als Kriegsgefangenenlager für sowjetische
Soldaten geplant - der Baubefehl erging am 26. September 1941 -, wurde Birkenau
aller Wahrscheinlichkeit nach im Frühsommer 1942 zur Stätte des Massenmords an
den europäischen Juden. Zur selben Zeit war in der Stadt mit Hans Stosberg ein
eigens berufener Chefarchitekt am Werk, um im Zuge der "zivilisatorischen
Erschließung" von Auschwitz gigantische Baumaßnahmen für die künftigen deutschen
Bewohner zu planen: breite Straßenzüge, prächtige Parteibauten, eine "Wohnstadt"
für die "Gefolgschaft" der IG Farben, auch Stadien, Schwimmbäder und Parkanlagen
sollten entstehen. Ganze Stadtviertel wurden neu konzipiert, und auf dem
Reißbrett war vorgesehen, in Auschwitz über kurz oder lang Wohnraum für 70 000
bis 80 000 deutsche Bewohner zu schaffen.
Gerüchte und Vermutungen
Als das Vernichtungsgeschehen im Lager Birkenau 1943 einen ersten Höhepunkt
erreichte, ließen sich in der benachbarten Stadt etwa zur selben Zeit mehrere
tausend Reichsdeutsche nieder. Die meisten waren Mitarbeiter der IG-Farben-Werke
aus Städten, in denen der Konzern Niederlassungen unterhielt, später zogen
Siedler aus allen Teilen des Reiches zu. Die Region um Auschwitz war - wie ganz
Schlesien - auch deshalb attraktiv, weil sie noch als weitgehend sicher vor
Luftangriffen galt.
Über die schließlich rund 7000 deutschen Bewohner von Auschwitz ist wenig
bekannt. Unklar ist, ob und in welcher Weise der IG Konzern ihre Umsiedlung
forcierte. Evident aber ist, dass Reichsdeutsche weitreichende Steuervorteile
genossen, und evident ist auch, dass unter den Zuziehenden zahlreiche junge
Leute waren, die offensichtlich einen Teil ihrer Ausbildung im neuen Werk
absolvieren sollten.
Unter der zivilen deutschen Bevölkerung von Auschwitz kursierten über das Lager
mancherlei Teilinformationen und Gerüchte, auch Ahnungen und Vermutungen. Zudem
gab es ein dumpfes Gefühl, dass der häufig süßliche Gestank verbrannten
Fleisches, der zu penetrant war, um nicht wahrgenommen zu werden, schlimme
Gründe hatte. Wer wollte, konnte dafür jedoch einfache Erklärungen finden:
Beispielsweise jene, wonach es im Lager "selbstverständlich" eine höhere
Sterblichkeit gab und dass die Leichen eingeäschert werden mussten. Mit solchen
Selbstberuhigungen ließen sich kognitive Dissonanzen überwinden, und gewiss trug
auch eine latente Angst dazu bei, dass Nachfragen unterblieben. Indifferenz war
vielfach zu beobachten; wie weit die Zustimmung ging, ist unklar. Protest wurde
jedenfalls nicht laut, signifikant ist vielmehr die Tatenlosigkeit: Man nahm das
Geschehen hin.
Die Aufmerksamkeit der deutschen Bewohner galt vor allem dem Aufbau der
beruflichen und privaten Existenz. Das Lager rückte nur in den Blick, wenn die
SS, wie bspw. am so genannten Tag der Wehrmacht Ende März 1943, zu einem
"Gemeinschaftsessen mit anschließendem großen bunten Nachmittag" auf das
SS-Gelände einlud. Dass das Leben in der Stadt einen ungestörten Gang ging,
zeigt auch das rauschende Fest im "Ratshof" am Markplatz, dem ersten Haus am
Platze, das in der Silvesternacht 1943/44 gefeiert wurde.
Der aus Wuppertal stammende Wirt und Hotelier, der das Gasthaus mit 60
Angestellten betrieb, berichtete einem Freund im Altreich von seinen
Vorbereitungen. Die Eintrittskarten, schrieb er stolz, seien so begehrt "wie in
Berlin der Presseball". 200 Gäste taten sich in der Festnacht an Gänseleber und
Ochsenschwanzsuppe gütlich, an Karpfen blau in Gelee, an Hasenbraten und
Biskuitroulade, an Sekt und Pfannkuchen, und in den Morgenstunden gab es
Heringssalat und Kaffee. Die Feier war fröhlich, es wurde getanzt, ein Ansager
aus Wien führte durch die Neujahrsnacht, eine Tanzkapelle spielte auf, und auch
ein Komiker unterhielt den Saal. Der Wirt verdiente gut in dieser Nacht, und
auch später brachten ihm seine insgesamt drei Häuser, die er in Auschwitz
betrieb, Gewinn ein: Wie aus den überlieferten Listen hervorgeht, übernachteten
1944 in der Stadt mehrere hundert auswärtige Gäste.
Die Nachbarschaft von Stadt und Lager Auschwitz zeigt eines besonders deutlich:
Massenmord und deutscher Aufbau standen nicht im Widerspruch zueinander.
"Germanisierungs-" und Vernichtungspolitik bildeten vielmehr eine
konzeptionelle, räumliche und zeitliche Einheit. Dabei gilt: Der "deutsche
Aufbau" im Osten war ohne das gleichzeitige Programm der Vernichtung gar nicht
denkbar.
Die Stadt Auschwitz wurde trotz der unmittelbaren Nähe zum Konzentrations- und
Vernichtungslager zum Modellobjekt bei der "Eindeutschung" des Ostens. Die
Lebenswelt der deutschen Bewohner blieb vom Konzentrations- und
Vernichtungslager unbeeinträchtigt, anders gesagt: Normalität und Verbrechen
waren eng miteinander verwoben.
Wirtschafts- und sozialstrukturelle Neuordnungsplanungen hatten für die
Legitimierung des Massenmords an den Juden eine wichtige Funktion. Die
wissenschaftlich gestützten Pläne zur sozialen Um- und Neugestaltung der Städte
lieferten im Dienste der "Germanisierung" die sachlich begründete Rechtfertigung
zum radikalen Vorgehen gegen die Juden. Die Modernisierungs- und Neubaukonzepte
waren aber nicht die Ursache des Massenmords. Sie waren vielmehr der situative
Ausdruck und die praktische mörderische Anwendung einer tief internalisierten
rassenideologischen Überzeugung.
Im Zuge weit ausgreifender Städtebauplanungen sollten die Judenviertel der
Städte im "Oststreifen", für die deutschen Besatzer der Inbegriff von
Rückständigkeit und Verwahrlosung, kurzerhand abgerissen werden. Im Dienste der
so genannten Modernisierung forderten Funktionäre bis hinab zu den
Bürgermeistern und Amtskommissaren das "Verschwinden" der Juden. Gerade von
Beamten auf der unteren und mittleren Ebene der Verwaltung gingen weitreichende
Impulse zur Realisierung der Mordpolitik aus.
Räumung
Das Kriegsende im Osten zeichnete sich ab, als sowjetische Truppen im Juli 1944
in Galizien und Südpolen durch die deutschen Linien brachen. Im Herbst begann
die SS in Auschwitz mit der Räumung des Lagers; die Krematorien wurden
stillgelegt, das letzte im Januar 1945 gesprengt.
In Sonderzügen verließ die deutsche Zivilbevölkerung die Stadt. "Als geschlagene
Krieger", bilanzierte ein Mitarbeiter der IG Farben Anfang Februar 1945, "sind
wir aus Auschwitz zurückgekehrt."
Aus einer Bevölkerungsstatistik geht hervor, dass in der Stadt, die nun wieder
"Oswiecim" hieß, im September 1945 rund 7300 Einwohner lebten. Fast 5000 davon
waren Polen; 186 Juden lebten wieder in der Stadt und darüber hinaus etwa 2000
so genannte Volksdeutsche. Dies waren vermutlich jene Einheimischen, die sich
unter deutscher Besatzung in die Deutsche Volksliste eintragen mussten. Weitere
Deutsche kamen in der Statistik nicht mehr vor.
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2000
Erscheinungsdatum 29.08.2000
haGalil onLine
01-09-2000
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