|
|
|
|
|
|
Sie ist eine alte Dirne, das
Berliner Scheunenviertel war und ist ihr Leben. Das junge, schicke
Kneipenpublikum hört die Geschichten gern: über das KZ und ihre
Geliebten
von Kerstin Kohlenberg
Ihre Jacke legt sie so gut wie nie ab. Wie ein Cowboy seinen Hut.
Grün und gesteppt, soll sie die Kälte vertreiben. Der Kopf mit den
weißen Haaren neigt sich Richtung Brustkorb, so dass der ganze
Körper auf der samtbezogenen Bank baumelt, ein müder Cowboy auf dem
Sattel. Runter rutscht der Körper jedoch nicht. Denn die Beine
stecken in einer schwarzen Strick-Leggins mit silbernen Fädchen, und
bei diesem Material sträuben sich dem roten Samt die Härchen. Gegen
die Rutschrichtung. Gertrud Rikus hängt fest. Vor ihr ein Averna und
ein Orangensaft, hinter ihr die warme Heizung und um sie herum das
Publikum der neuen Berliner Mitte.
Gertrud Rikus sitzt im "Cantamaggio". Alte Schönhauser Straße,
mitten drin in dem, was einst das Scheunenviertel - die Gegend rund
um den Rosa-Luxemburg-Platz - war. Es ist laut, voll, verraucht.
Lebendig. Gertrud Rikus sitzt direkt am Eingang. Da sitzt sie immer
- wenn nicht alle Tische reserviert sind - und beobachtet das junge
Publikum. Mit ihr ins Gespräch zu kommen, ist leicht, denn sie
schaut jedem, der reinkommt, ins Gesicht. Es kennt sie auch fast
jeder hier. Wer sie nicht kennt, ist von ihrer Direktheit irritiert.
Die Geschichte der Kneipen und Restaurants im Scheunenviertel, das
ist die Geschichte von Gertrud Rikus. Die Lokale haben sie 81 Jahre
lang ständig begleitet. In den Kneipen der Mulackstraße hat sie
gearbeitet. Eine ihrer Chefinnen wurde hier ermordet - ein
eifersüchtiger Freier, munkelte man. Barfrauen haben ihr im Krieg
Unterschlupf gewährt. Hier lernte sie auch den Mann kennen, der
später eine steile, politische Karriere in der DDR machen sollte,
der quasi zum Symbol für die DDR wurde. Und viele andere Männer vor
ihm.
Das Scheunenviertel und die Straßen, die links und rechts von der
Alten Schönhauser Straße abgehen, waren um die Jahrhundertwende der
ärmste Teil des Bezirks Mitte. Gertrud Rikus hat dieses Quartier in
ihrer Jugend als Getto für Arbeiter, Ganoven und verarmte
osteuropäische Juden kennen gelernt. Danach als grenznahen
DDR-Bezirk. Und jetzt als Viertel, in dem sich die Wende-Gewinner
zum italienischen Essen im Cantamaggio treffen. Ein Stück
Geschichte, in die sie eigentlich nicht mehr hineingehört.
Wer früher, in den 30er Jahren, in ein Restaurant ging, erzählt sie,
der ließ sich entweder aushalten oder hatte Geld. Billiger war es in
der Kneipe. Dort traf man sich, wenn man von der Arbeit kam - und
erst recht, wenn man keine Arbeit hatte. In den Kneipen der
Mulackstraße besprachen die Ganoven ihre Geschäfte, und die Freier
guckten sich ihre Mädchen aus. Das Vergnügen war billig und
schmuddelig, nicht zu vergleichen mit dem Vergnügen von heute. Es
ist Gertrud Rikus ein Rätsel, woher all diese jungen Leute heute das
viele Geld haben, das sie Abend für Abend in Mitte ausgeben. Aber
sie ist froh, dass sie da sind. Sehr froh.
In den 30er Jahren, da kannte sie die Spielregeln des Viertels und
beherrschte sie aus dem Effeff. "Wenn ich die Friedrichstraße
runterging mit meinen langen schwarzen Haaren und 'nem kurzen Rock,
da haben die Männer aber geguckt." Sie zieht an ihrer Zigarette, die
Augen fangen an zu leuchten, und ihre Wangenmuskeln - der einzige
Körperteil, den Gertrud Rikus noch flink bewegen kann - lassen die
Bäckchen hüpfen. "Süß sah ick aus. Wie 'ne Puppe. Für 30 Mark hab'
ick die Männer jebumst." Etwas verwundert verfolgt man die
aufgekratzte Schilderung ihrer schönsten Zeit. Es wird aber
verständlich, wenn man weiß, was danach kam.
"Zur goldenen Nuss", Dorotheenstraße Ecke Friedrichstraße, da hat
sie als junges Mädchen mit 14 Jahren angefangen, direkt nach der
Schule. Als Thekenkraft. Über ihren schwarzen Haaren musste sie ein
weißes Häubchen tragen, damit die Haare nicht so in der Luft
herumflogen. Und jeden Tag gab es eine frisch gestärkte Schürze.
Denn in die Lokale der Friedrichstraße kamen nur die teuren Huren.
Und die schicken Männer. Da gab es viel Trinkgeld. Mit vier oder
fünf Mark ging sie nach zehn Stunden Arbeit nach Hause. Wenn es mal
ein bisschen mehr sein sollte, musste sie über Nacht bleiben. Das
machten alle Mädchen so. Auf diese Weise kam Gertrud Rikus zu ihren
ersten Freiern. So, wie die Mädchen in Wilmersdorf Steno lernten,
lernte Gertrud Rikus mit 14 Jahren den Umgang mit Männern. Für sie
war es das Normalste von der Welt. Den Eltern hat sie aber doch
lieber erzählt, sie schlafe bei einer Freundin. Denn sie wohnte ja
noch zu Hause. In der Wohnung am Weinbergsweg, im zweiten Hinterhof.
Vater: Gärtner, Protestant. Mutter: Näherin, Jüdin. Die Wohnung war
groß und die Mama eine gute Köchin. Das waren gute Zeiten.
In der Regel wechselt Gertrud Rikus in ihren Erzählungen von damals
direkt in die Jetztzeit. Denn unangenehme Erinnerungen blendet sie
gerne aus. Sie springt dann im Erzählen in ihre heutige Wohnung, die
zwar auch einen Herd hat, den sie aber so gut wie nie benutzt.
Höchstens mal zum Wasser-heiß-machen. Alte Leute haben nicht mehr so
viel Hunger. Wenn der kleine Hunger aber kommt, dann geht sie zum
"Chef" in die "Zille". Ebenfalls Alte Schönhauser. "Da hab' ich eine
Seniorenkarte und krieg' alles für die Hälfte. Wenn der Jägermeister
drei Mark kostet, bezahl' ich eins fünfzig."
So schöne, kleine Italiener
Bis vor ein paar Monaten machte die Zille früh um sieben Uhr auf.
Ein Glücksfall für Gertrud Rikus. Da konnte sie ihrer Wohnung schon
um sieben Uhr den Rücken kehren. Alte Leute brauchen auch nicht mehr
so viel Schlaf. Dann wurde renoviert. Und die Zille war geschlossen.
Für Gertrud Rikus war das ein herber Schlag. Denn die anderen Lokale
öffnen erst gegen Mittag. Wohin also, wenn sich das Leben nur noch
in einem Radius von 500 Metern um das eigene Bett herum ausbreitet?
Aber der "Chef" der Zille hatte ein Herz: Jetzt trinkt Gertrud Rikus
jeden Morgen ihren Kaffee in seinem Büro. "Ganz privat." Ihr Rücken
streckt sich ein wenig auf der Samtbank, und sie schaut plötzlich
ganz fest und unverwundbar aus den Augen. Dann sinkt der Kopf wieder
Richtung Brustkorb. "Ohne den Chef wäre ich verloren."
Der "Chef", das ist Carsten Dreger, in den Dreißigern und auf dem
besten Weg, ein Mitte-Gewinner zu werden. Ihm gehören die "Zille"
und das angrenzende Jugendhotel. "Ich kenne so viele Spinner, die
mir am Tresen die wildesten Geschichten erzählen. Heute sind die der
Kaiser von China und morgen der Sohn eines Millionärs." Aber Gertrud
sei anders. "Die bleibt bei ihren Geschichten." Aus diesem Grund sei
sie ihm aufgefallen.
Nach der Zille geht Gertrud Rikus zwei Häuser weiter ins "Blaue
Band". Gegen zwei Uhr in ihre Wohnung - um ihre Katzen zu füttern -
danach wieder ins Blaue Band. Oder zum Türken am
Rosa-Luxemburg-Platz. Abends sitzt sie im Cantamaggio. Auch wenn
hier der Averna fünf Mark kostet. Aber hier steht die weiche,
samtene Sitzbank direkt vor der Heizung. Das tut ihrem krummen
Rücken gut, und außerdem gibt es im Cantamaggio so schöne, kleine
Italiener.
Honecker, ein gut aussehender Mann
Sich mit Gertrud Rikus zu verabreden, ist unmöglich. Sie trifft man
zufällig. Schwer ist das allerdings nicht. An manchen Tagen ist es
nur schwer, einen roten Faden in ihre Erinnerungen zu bringen. Die
Jahreszahlen verschwimmen ihr, Namen verblassen. Die dunklen Zeiten
sollen auch weiterhin dunkel bleiben, denn für Gertrud Rikus lohnt
sich das Erinnern nicht. Erlebt und für schlecht befunden, daran
möchte sie so wenig wie möglich rütteln. Wenn sie keine Lust mehr
zum Reden hat, dann ruft sie nach dem Kellner, zahlt, steht auf und
geht. Sich zu wehren gegen Aufdringlichkeiten, das hat sie in ihrem
Leben gelernt.
Ein tolles Ding, erzählt sie, war ihre Reise nach Wien. Das einzige
Mal, dass sie im Ausland war. 1938. Da war sie 20 Jahre. Da ist sie
einfach von zu Hause ausgebüchst, rein in den Zug, Augen zu und
durch. "Ich war schon 'ne Marke. Hatte ja kein Geld. Da hab' ich
mich einfach auf dem Scheißhaus versteckt." Nein, Angst hat sie
nicht gehabt, "damals war ich ja noch nicht im KZ". An diesem Abend
ist es schwer, Gertrud Rikus zum Bleiben zu bewegen. "Ach Mädchen,
im Alter will das Gedächnis nicht mehr so gut. Wie viel Uhr haben
wir denn?"
Der evangelische Vater hatte sich frühzeitig Ende der 30er Jahre von
Mutter und Tochter abgesetzt. Die Schwester wanderte darauf nach
Amerika aus. "Ich hätte mal lieber mitgehen sollen." 1942 wurde
Gertrud Rikus, geborene Hinsdorf, mit ihrer Mutter, geborene
Rosenhahn, in das Frauenlager Ravensbrück gebracht. "Meine Mutter
ist dort gestorben. Ich selbst hatte Riesenglück. Ich wurde nur
sterilisiert." Wie auf so viele, erzählt Gertrud Rikus, hatte auch
auf sie ein SS-Mann ein Auge geworfen. "Ick hab ihm jefallen, und er
hat mir gefallen, da haben wir eben jebumst. Jenau wie draußen." Ein
Jahr war sie im Lager. "Dann hat er mir 300 Mark in die Hand
jedrückt und jesacht: Wenn du mich verscheißerst, dann erschieß ick
dir, und ick hab jesacht, wieso verscheißern, ick lieb dir doch. Da
hat er das Tor aufjemacht, und ick bin jerannt. Ick hätte dem die
Beene küssen können." Wie er hieß, daran erinnert sie sich nicht
mehr. "Muss een Berliner jewesen sein, der hatte dieselbe Schnauze
wie icke."
Ob es denn nicht komisch gewesen sei, dass sie ausgerechnet einer
von denen rettete, die den Tod der Mutter auf dem Gewissen hatten?
"Naja", sie zieht die Schultern hoch, "so ist halt das Leben. Ich
wollte doch überleben." Per Anhalter ist sie dann zurück nach Berlin
und dort für den Rest des Krieges bei den Huren in der Mulackstraße
untergekommen. Für die 300 Mark vom SS-Mann. "Die Nutten waren das
Beste, was mir passieren konnte. Ick hab oben jekocht, und die haben
unten jevögelt."
Heute stehen die Huren in der Oranienburger Straße. Irgendwie
scheinen sie nicht mehr hierher zu passen. Manchmal geht Gertrud
Rikus in die Oranienburger. Nur um zu gucken, und immer nur bis zum
Anfang, weiter wäre zu anstrengend. "Bei so einer Oma werden die
auch nicht kiebig. Sind alles nette Mädchen." Und die Tricks seien
auch noch dieselben. "Wenn der Tag mal schlecht war", Gertrud Rikus'
Augen fangen wieder an zu leuchten, "dann klaust du auch schon mal
'ne Brieftasche." Ein paar Sachen scheinen doch beim Alten geblieben
zu sein.
An diesem Abend im Blauen Band erzählt sie ausführlich und
schwungvoll von ihrem Leben. Einmal, sagt sie - wann genau, wisse
sie nicht mehr - da habe sie auf dem Alex den Erich Honecker
gesehen. Irgendwann vor dem Bau der Mauer muss es gewesen sein. Den
habe sie einfach an der Jacke gezogen, denn der habe ihr gefallen.
"War doch ein jut aussehender Mann!" Nö, Sicherheitsleute seien da
nicht dabei gewesen. Bei den anderen Treffen auch nicht. Bei den
anderen Treffen? "Na, ich war ein Jahr lang die Geliebte vom
Honecker."
Gertrud Rikus und Erich Honecker! Gertrud und Erich? Trotz des
plötzlich schwankenden Bodens muss jetzt einfach gefragt werden: Und
hat der auch bezahlt? "Am Anfang, da nicht. Aber irgendwann hab' ich
mal gesagt, ich hab' auch einen Mund und muss was essen. Da hat der
dann ab und zu 50 oder 100 Mark dagelassen." Getroffen hätten sie
sich in ihrer Wohnung. Über Politik, nee, da sei nie ein Wort
gefallen. Aber irgendwann kam er einfach nicht mehr. "Ja Herrgott,
so ist das mit den Männern."
Wie kommt Gertrud Rikus zu Erich Honecker, oder muss man fragen, wie
kommt sie zu der Geschichte? Ist er es, den sie vermisst, oder ist
es sein fürsorglicher Staat? Sie hat nie viel besessen, aber unter
Erich in der DDR scheint sie sich sicher gefühlt zu haben. Es war
eine Welt, in der sie als Opfer des Faschismus sogar Privilegien
besaß. Eine Welt, in der Erfolg und Erfolgsdruck so gut wie keine
Rolle spielten. Ihr gab diese geschlossene Gesellschaft den Halt,
den sie brauchte. Und mittendrin Honecker, das Symbol dieser Welt,
die sie liebte, mit deren Tempo sie Schritt halten konnte. Ein Idol,
das sie gerne als Geliebten gehabt hätte? Ein Bekannter Honeckers
sagt dazu, dass er Gertrud Rikus' Geschichte nicht für
unwahrscheinlich hält. "Seine Moralgeschichte war ja etwas
undurchsichtig." Aber so richtig zugetraut hätte er es dem kleinen
Erich doch nicht. Denn mutig sei der nicht gewesen. Aber gönnen
würde er es ihm.
"Bald kommt wieder ein Krieg"
Geld zum Leben hat Gertrud Rikus heute genug. Sie ist "ODF", Opfer
des Faschismus. Das heißt, sie bekommt eine etwas höhere Rente.
Deshalb kann sie sich ihr Kneipenleben im teuren Mitte leisten, denn
raus muss sie einfach, unter Leute. So ist sie es ihr Leben lang
gewohnt gewesen. Zu Hause hält sie es nicht aus. Sie kann auch nicht
verstehen, wie die Alten in ihrem Haus sich vor den Fernseher setzen
und dort den ganzen Tag verbringen können. Einmal hat sie ihre
Nachbarin mit in die Kneipe genommen. Aber die war das Trinken nicht
gewöhnt und deshalb so schnell blau, dass Gertrud Rikus dieses
Experiment nicht mehr wiederholt hat. Ihren eigenen Fernseher hat
sie verschenkt. Auch das Radio und den Kühlschrank. "Ich bin ja
sowieso nie da drin. Wozu brauch' ich 'nen Kühlschrank?"
Sie hasst ihr Zuhause, das sie verächtlich nur "das da drüben"
nennt. Alle Kneipen und Lokale, die Gertrud Rikus zu Fuß und ohne
Mühe erreichen kann, liegen von ihrer Wohnung aus gesehen in einer
einzigen Richtung: im Westen. Für andere Menschen ist die Wohnung
tabu. Seit sieben Jahren wohnt sie nun "da drüben". Im
Seniorenwohnhaus des Sozialamts. Am Anfang habe sie nur geweint. Als
sie aus ihrer alten Wohnung in der Fehrbelliner Straße raus musste
und rein in die Dragonerstraße, die mittlerweile Max-Beer-Straße
heißt. Wegen "Reko", Rekonst-ruktion. 120 Quadratmeter hatte sie in
der Fehrbelliner und hohe Decken. Jetzt wohnt sie in einem
Plattenbau. 30 Quadratmeter. "Da halt' ich es einfach nicht aus.
Seit dem KZ habe ich Platzangst. Ich werde verrückt da drin."
Außerdem sei es "da drüben" immer "pupskalt". Als die Heizungen
wieder mal kalt waren, ist sie in die Redaktion des "Berliner
Kuriers" gegangen. Daraufhin gab es einen kleinen Artikel, und die
Heizung wurde wärmer. Nicht für lange, aber immerhin. Seitdem liest
sie den "Kurier".
Der "Kurier" ist neben dem 500-Meter-Radius um ihr Bett das zweite
Abbild der neuen Berliner Wirklichkeit. Beide Bilder zusammen
ergeben in Gertrud Rikus' Kopf ein Berlin mit jungen Reichen, armen
Alten, viel Kriminalität und ohne Jobs. "Wissen Sie, ich glaub',
bald kommt wieder ein Krieg. Das ist nämlich genauso wie damals, als
der Hitler kam."
1960, als sie ihren Mann kennen lernte, war Schluss mit dem Strich.
"Obwohl ich da dicke von gelebt hab'." Und obwohl sie nie einen
Beruf erlernt hatte - eine Arbeit hat sie immer gefunden. Sie hat
als Leichenwäscherin im Hedwig-Krankenhaus gearbeitet, auf dem
Friedhof und immer wieder in Kneipen. 65 Mark hat die Wohnung in der
Fehrbelliner Straße gekostet. Und schön warm war sie. Nach dem Tod
ihres Mannes 1973 hat sie zwei Zimmer Studenten gegeben. Dafür haben
sie ihr die schweren Sachen hochgetragen. Die Kohlen haben ihr die
zwei Schwulen aus dem Hinterhof gebracht. Dafür hat sie auf deren
Hund aufgepasst. Eine Hand wusch die andere. Mit der neuen Wohnung
ist ihre alte Welt durcheinander geraten. Die Nische Nachbarschaft
ist ihr abhanden gekommen.
Man sieht die zierliche, gebückte Gestalt schon von weitem die Alte
Schönhauser Straße hinuntergehen. Mit der grünen Jacke, den weißen,
kinnlangen Haaren, die ein immer noch niedliches Gesicht umranden,
und der Plastiktüte in der Hand. Je später der Tag wird, desto
unsicherer schleicht die Gestalt von einer Kneipe in die andere.
"Früher habe ick die Säufer verachtet, aber jetzt? Man muss nicht so
viel grübeln, und man schläft so jut mit vollem Koppe." Sie greift
in ihre Plastiktüte und fischt eine Kindermilchschnitte heraus.
Dabei fallen Medikamente, ein Schlüpfer und ein BH heraus. "Hab' ich
immer dabei, falls ich nochmal nachts besoffen auf der Straße
umfalle. Dann hab' ich alles fürs Krankenhaus dabei."
Seit einem halben Jahr trinkt sie. Richtig. Acht Averna oder
Jägermeister über den Tag verteilt verträgt Gertrud Rikus
mittlerweile. Sind es mal ein paar mehr, dann haut das so einen
kleinen Körper schon mal um. Sie hat einfach keine Lust mehr.
Plötzlich, ganz unvermittelt, fangen ihre Augen wieder an zu
leuchten. "Zahlen bitte", ruft sie erstaunlich energisch ins
Cantamaggio. "Nee, du nicht", raunzt sie die Kellnerin an, "der
Kleine, Süße soll kommen von vorhin. Wo isser denn?" Der Kleine,
Süße ist das schon gewohnt und lächelt Gertrud Rikus mit sagenhaft
italienischem Charme an. Er klimpert mit dem Auge und sagt
irgendetwas, das im Getöse zwar untergeht, aber unglaublich nett
klingt. Gertrud Rikus schaut ihn an, wie einen Engel, drückt die
Zigarette aus und zahlt. "Mit Männern konnte ick immer schon am
besten."
© 2000
Tagesspiegel
haGalil onLine
28-07-2000 |