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Der Tagesspiegel
vom 22. April 2000

Gertrud Rikus:
Die Geliebte Erich Honeckers


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Sie ist eine alte Dirne, das Berliner Scheunenviertel war und ist ihr Leben. Das junge, schicke Kneipenpublikum hört die Geschichten gern: über das KZ und ihre Geliebten

von Kerstin Kohlenberg

Ihre Jacke legt sie so gut wie nie ab. Wie ein Cowboy seinen Hut. Grün und gesteppt, soll sie die Kälte vertreiben. Der Kopf mit den weißen Haaren neigt sich Richtung Brustkorb, so dass der ganze Körper auf der samtbezogenen Bank baumelt, ein müder Cowboy auf dem Sattel. Runter rutscht der Körper jedoch nicht. Denn die Beine stecken in einer schwarzen Strick-Leggins mit silbernen Fädchen, und bei diesem Material sträuben sich dem roten Samt die Härchen. Gegen die Rutschrichtung. Gertrud Rikus hängt fest. Vor ihr ein Averna und ein Orangensaft, hinter ihr die warme Heizung und um sie herum das Publikum der neuen Berliner Mitte.

Gertrud Rikus sitzt im "Cantamaggio". Alte Schönhauser Straße, mitten drin in dem, was einst das Scheunenviertel - die Gegend rund um den Rosa-Luxemburg-Platz - war. Es ist laut, voll, verraucht. Lebendig. Gertrud Rikus sitzt direkt am Eingang. Da sitzt sie immer - wenn nicht alle Tische reserviert sind - und beobachtet das junge Publikum. Mit ihr ins Gespräch zu kommen, ist leicht, denn sie schaut jedem, der reinkommt, ins Gesicht. Es kennt sie auch fast jeder hier. Wer sie nicht kennt, ist von ihrer Direktheit irritiert.

Die Geschichte der Kneipen und Restaurants im Scheunenviertel, das ist die Geschichte von Gertrud Rikus. Die Lokale haben sie 81 Jahre lang ständig begleitet. In den Kneipen der Mulackstraße hat sie gearbeitet. Eine ihrer Chefinnen wurde hier ermordet - ein eifersüchtiger Freier, munkelte man. Barfrauen haben ihr im Krieg Unterschlupf gewährt. Hier lernte sie auch den Mann kennen, der später eine steile, politische Karriere in der DDR machen sollte, der quasi zum Symbol für die DDR wurde. Und viele andere Männer vor ihm.

Das Scheunenviertel und die Straßen, die links und rechts von der Alten Schönhauser Straße abgehen, waren um die Jahrhundertwende der ärmste Teil des Bezirks Mitte. Gertrud Rikus hat dieses Quartier in ihrer Jugend als Getto für Arbeiter, Ganoven und verarmte osteuropäische Juden kennen gelernt. Danach als grenznahen DDR-Bezirk. Und jetzt als Viertel, in dem sich die Wende-Gewinner zum italienischen Essen im Cantamaggio treffen. Ein Stück Geschichte, in die sie eigentlich nicht mehr hineingehört.

Wer früher, in den 30er Jahren, in ein Restaurant ging, erzählt sie, der ließ sich entweder aushalten oder hatte Geld. Billiger war es in der Kneipe. Dort traf man sich, wenn man von der Arbeit kam - und erst recht, wenn man keine Arbeit hatte. In den Kneipen der Mulackstraße besprachen die Ganoven ihre Geschäfte, und die Freier guckten sich ihre Mädchen aus. Das Vergnügen war billig und schmuddelig, nicht zu vergleichen mit dem Vergnügen von heute. Es ist Gertrud Rikus ein Rätsel, woher all diese jungen Leute heute das viele Geld haben, das sie Abend für Abend in Mitte ausgeben. Aber sie ist froh, dass sie da sind. Sehr froh.

In den 30er Jahren, da kannte sie die Spielregeln des Viertels und beherrschte sie aus dem Effeff. "Wenn ich die Friedrichstraße runterging mit meinen langen schwarzen Haaren und 'nem kurzen Rock, da haben die Männer aber geguckt." Sie zieht an ihrer Zigarette, die Augen fangen an zu leuchten, und ihre Wangenmuskeln - der einzige Körperteil, den Gertrud Rikus noch flink bewegen kann - lassen die Bäckchen hüpfen. "Süß sah ick aus. Wie 'ne Puppe. Für 30 Mark hab' ick die Männer jebumst." Etwas verwundert verfolgt man die aufgekratzte Schilderung ihrer schönsten Zeit. Es wird aber verständlich, wenn man weiß, was danach kam.

"Zur goldenen Nuss", Dorotheenstraße Ecke Friedrichstraße, da hat sie als junges Mädchen mit 14 Jahren angefangen, direkt nach der Schule. Als Thekenkraft. Über ihren schwarzen Haaren musste sie ein weißes Häubchen tragen, damit die Haare nicht so in der Luft herumflogen. Und jeden Tag gab es eine frisch gestärkte Schürze. Denn in die Lokale der Friedrichstraße kamen nur die teuren Huren. Und die schicken Männer. Da gab es viel Trinkgeld. Mit vier oder fünf Mark ging sie nach zehn Stunden Arbeit nach Hause. Wenn es mal ein bisschen mehr sein sollte, musste sie über Nacht bleiben. Das machten alle Mädchen so. Auf diese Weise kam Gertrud Rikus zu ihren ersten Freiern. So, wie die Mädchen in Wilmersdorf Steno lernten, lernte Gertrud Rikus mit 14 Jahren den Umgang mit Männern. Für sie war es das Normalste von der Welt. Den Eltern hat sie aber doch lieber erzählt, sie schlafe bei einer Freundin. Denn sie wohnte ja noch zu Hause. In der Wohnung am Weinbergsweg, im zweiten Hinterhof. Vater: Gärtner, Protestant. Mutter: Näherin, Jüdin. Die Wohnung war groß und die Mama eine gute Köchin. Das waren gute Zeiten.

In der Regel wechselt Gertrud Rikus in ihren Erzählungen von damals direkt in die Jetztzeit. Denn unangenehme Erinnerungen blendet sie gerne aus. Sie springt dann im Erzählen in ihre heutige Wohnung, die zwar auch einen Herd hat, den sie aber so gut wie nie benutzt. Höchstens mal zum Wasser-heiß-machen. Alte Leute haben nicht mehr so viel Hunger. Wenn der kleine Hunger aber kommt, dann geht sie zum "Chef" in die "Zille". Ebenfalls Alte Schönhauser. "Da hab' ich eine Seniorenkarte und krieg' alles für die Hälfte. Wenn der Jägermeister drei Mark kostet, bezahl' ich eins fünfzig."

So schöne, kleine Italiener

Bis vor ein paar Monaten machte die Zille früh um sieben Uhr auf. Ein Glücksfall für Gertrud Rikus. Da konnte sie ihrer Wohnung schon um sieben Uhr den Rücken kehren. Alte Leute brauchen auch nicht mehr so viel Schlaf. Dann wurde renoviert. Und die Zille war geschlossen. Für Gertrud Rikus war das ein herber Schlag. Denn die anderen Lokale öffnen erst gegen Mittag. Wohin also, wenn sich das Leben nur noch in einem Radius von 500 Metern um das eigene Bett herum ausbreitet? Aber der "Chef" der Zille hatte ein Herz: Jetzt trinkt Gertrud Rikus jeden Morgen ihren Kaffee in seinem Büro. "Ganz privat." Ihr Rücken streckt sich ein wenig auf der Samtbank, und sie schaut plötzlich ganz fest und unverwundbar aus den Augen. Dann sinkt der Kopf wieder Richtung Brustkorb. "Ohne den Chef wäre ich verloren."

Der "Chef", das ist Carsten Dreger, in den Dreißigern und auf dem besten Weg, ein Mitte-Gewinner zu werden. Ihm gehören die "Zille" und das angrenzende Jugendhotel. "Ich kenne so viele Spinner, die mir am Tresen die wildesten Geschichten erzählen. Heute sind die der Kaiser von China und morgen der Sohn eines Millionärs." Aber Gertrud sei anders. "Die bleibt bei ihren Geschichten." Aus diesem Grund sei sie ihm aufgefallen.

Nach der Zille geht Gertrud Rikus zwei Häuser weiter ins "Blaue Band". Gegen zwei Uhr in ihre Wohnung - um ihre Katzen zu füttern - danach wieder ins Blaue Band. Oder zum Türken am Rosa-Luxemburg-Platz. Abends sitzt sie im Cantamaggio. Auch wenn hier der Averna fünf Mark kostet. Aber hier steht die weiche, samtene Sitzbank direkt vor der Heizung. Das tut ihrem krummen Rücken gut, und außerdem gibt es im Cantamaggio so schöne, kleine Italiener.

Honecker, ein gut aussehender Mann

Sich mit Gertrud Rikus zu verabreden, ist unmöglich. Sie trifft man zufällig. Schwer ist das allerdings nicht. An manchen Tagen ist es nur schwer, einen roten Faden in ihre Erinnerungen zu bringen. Die Jahreszahlen verschwimmen ihr, Namen verblassen. Die dunklen Zeiten sollen auch weiterhin dunkel bleiben, denn für Gertrud Rikus lohnt sich das Erinnern nicht. Erlebt und für schlecht befunden, daran möchte sie so wenig wie möglich rütteln. Wenn sie keine Lust mehr zum Reden hat, dann ruft sie nach dem Kellner, zahlt, steht auf und geht. Sich zu wehren gegen Aufdringlichkeiten, das hat sie in ihrem Leben gelernt.

Ein tolles Ding, erzählt sie, war ihre Reise nach Wien. Das einzige Mal, dass sie im Ausland war. 1938. Da war sie 20 Jahre. Da ist sie einfach von zu Hause ausgebüchst, rein in den Zug, Augen zu und durch. "Ich war schon 'ne Marke. Hatte ja kein Geld. Da hab' ich mich einfach auf dem Scheißhaus versteckt." Nein, Angst hat sie nicht gehabt, "damals war ich ja noch nicht im KZ". An diesem Abend ist es schwer, Gertrud Rikus zum Bleiben zu bewegen. "Ach Mädchen, im Alter will das Gedächnis nicht mehr so gut. Wie viel Uhr haben wir denn?"

Der evangelische Vater hatte sich frühzeitig Ende der 30er Jahre von Mutter und Tochter abgesetzt. Die Schwester wanderte darauf nach Amerika aus. "Ich hätte mal lieber mitgehen sollen." 1942 wurde Gertrud Rikus, geborene Hinsdorf, mit ihrer Mutter, geborene Rosenhahn, in das Frauenlager Ravensbrück gebracht. "Meine Mutter ist dort gestorben. Ich selbst hatte Riesenglück. Ich wurde nur sterilisiert." Wie auf so viele, erzählt Gertrud Rikus, hatte auch auf sie ein SS-Mann ein Auge geworfen. "Ick hab ihm jefallen, und er hat mir gefallen, da haben wir eben jebumst. Jenau wie draußen." Ein Jahr war sie im Lager. "Dann hat er mir 300 Mark in die Hand jedrückt und jesacht: Wenn du mich verscheißerst, dann erschieß ick dir, und ick hab jesacht, wieso verscheißern, ick lieb dir doch. Da hat er das Tor aufjemacht, und ick bin jerannt. Ick hätte dem die Beene küssen können." Wie er hieß, daran erinnert sie sich nicht mehr. "Muss een Berliner jewesen sein, der hatte dieselbe Schnauze wie icke."

Ob es denn nicht komisch gewesen sei, dass sie ausgerechnet einer von denen rettete, die den Tod der Mutter auf dem Gewissen hatten? "Naja", sie zieht die Schultern hoch, "so ist halt das Leben. Ich wollte doch überleben." Per Anhalter ist sie dann zurück nach Berlin und dort für den Rest des Krieges bei den Huren in der Mulackstraße untergekommen. Für die 300 Mark vom SS-Mann. "Die Nutten waren das Beste, was mir passieren konnte. Ick hab oben jekocht, und die haben unten jevögelt."

Heute stehen die Huren in der Oranienburger Straße. Irgendwie scheinen sie nicht mehr hierher zu passen. Manchmal geht Gertrud Rikus in die Oranienburger. Nur um zu gucken, und immer nur bis zum Anfang, weiter wäre zu anstrengend. "Bei so einer Oma werden die auch nicht kiebig. Sind alles nette Mädchen." Und die Tricks seien auch noch dieselben. "Wenn der Tag mal schlecht war", Gertrud Rikus' Augen fangen wieder an zu leuchten, "dann klaust du auch schon mal 'ne Brieftasche." Ein paar Sachen scheinen doch beim Alten geblieben zu sein.

An diesem Abend im Blauen Band erzählt sie ausführlich und schwungvoll von ihrem Leben. Einmal, sagt sie - wann genau, wisse sie nicht mehr - da habe sie auf dem Alex den Erich Honecker gesehen. Irgendwann vor dem Bau der Mauer muss es gewesen sein. Den habe sie einfach an der Jacke gezogen, denn der habe ihr gefallen. "War doch ein jut aussehender Mann!" Nö, Sicherheitsleute seien da nicht dabei gewesen. Bei den anderen Treffen auch nicht. Bei den anderen Treffen? "Na, ich war ein Jahr lang die Geliebte vom Honecker."

Gertrud Rikus und Erich Honecker! Gertrud und Erich? Trotz des plötzlich schwankenden Bodens muss jetzt einfach gefragt werden: Und hat der auch bezahlt? "Am Anfang, da nicht. Aber irgendwann hab' ich mal gesagt, ich hab' auch einen Mund und muss was essen. Da hat der dann ab und zu 50 oder 100 Mark dagelassen." Getroffen hätten sie sich in ihrer Wohnung. Über Politik, nee, da sei nie ein Wort gefallen. Aber irgendwann kam er einfach nicht mehr. "Ja Herrgott, so ist das mit den Männern."

Wie kommt Gertrud Rikus zu Erich Honecker, oder muss man fragen, wie kommt sie zu der Geschichte? Ist er es, den sie vermisst, oder ist es sein fürsorglicher Staat? Sie hat nie viel besessen, aber unter Erich in der DDR scheint sie sich sicher gefühlt zu haben. Es war eine Welt, in der sie als Opfer des Faschismus sogar Privilegien besaß. Eine Welt, in der Erfolg und Erfolgsdruck so gut wie keine Rolle spielten. Ihr gab diese geschlossene Gesellschaft den Halt, den sie brauchte. Und mittendrin Honecker, das Symbol dieser Welt, die sie liebte, mit deren Tempo sie Schritt halten konnte. Ein Idol, das sie gerne als Geliebten gehabt hätte? Ein Bekannter Honeckers sagt dazu, dass er Gertrud Rikus' Geschichte nicht für unwahrscheinlich hält. "Seine Moralgeschichte war ja etwas undurchsichtig." Aber so richtig zugetraut hätte er es dem kleinen Erich doch nicht. Denn mutig sei der nicht gewesen. Aber gönnen würde er es ihm.

"Bald kommt wieder ein Krieg"

Geld zum Leben hat Gertrud Rikus heute genug. Sie ist "ODF", Opfer des Faschismus. Das heißt, sie bekommt eine etwas höhere Rente. Deshalb kann sie sich ihr Kneipenleben im teuren Mitte leisten, denn raus muss sie einfach, unter Leute. So ist sie es ihr Leben lang gewohnt gewesen. Zu Hause hält sie es nicht aus. Sie kann auch nicht verstehen, wie die Alten in ihrem Haus sich vor den Fernseher setzen und dort den ganzen Tag verbringen können. Einmal hat sie ihre Nachbarin mit in die Kneipe genommen. Aber die war das Trinken nicht gewöhnt und deshalb so schnell blau, dass Gertrud Rikus dieses Experiment nicht mehr wiederholt hat. Ihren eigenen Fernseher hat sie verschenkt. Auch das Radio und den Kühlschrank. "Ich bin ja sowieso nie da drin. Wozu brauch' ich 'nen Kühlschrank?"

Sie hasst ihr Zuhause, das sie verächtlich nur "das da drüben" nennt. Alle Kneipen und Lokale, die Gertrud Rikus zu Fuß und ohne Mühe erreichen kann, liegen von ihrer Wohnung aus gesehen in einer einzigen Richtung: im Westen. Für andere Menschen ist die Wohnung tabu. Seit sieben Jahren wohnt sie nun "da drüben". Im Seniorenwohnhaus des Sozialamts. Am Anfang habe sie nur geweint. Als sie aus ihrer alten Wohnung in der Fehrbelliner Straße raus musste und rein in die Dragonerstraße, die mittlerweile Max-Beer-Straße heißt. Wegen "Reko", Rekonst-ruktion. 120 Quadratmeter hatte sie in der Fehrbelliner und hohe Decken. Jetzt wohnt sie in einem Plattenbau. 30 Quadratmeter. "Da halt' ich es einfach nicht aus. Seit dem KZ habe ich Platzangst. Ich werde verrückt da drin." Außerdem sei es "da drüben" immer "pupskalt". Als die Heizungen wieder mal kalt waren, ist sie in die Redaktion des "Berliner Kuriers" gegangen. Daraufhin gab es einen kleinen Artikel, und die Heizung wurde wärmer. Nicht für lange, aber immerhin. Seitdem liest sie den "Kurier".

Der "Kurier" ist neben dem 500-Meter-Radius um ihr Bett das zweite Abbild der neuen Berliner Wirklichkeit. Beide Bilder zusammen ergeben in Gertrud Rikus' Kopf ein Berlin mit jungen Reichen, armen Alten, viel Kriminalität und ohne Jobs. "Wissen Sie, ich glaub', bald kommt wieder ein Krieg. Das ist nämlich genauso wie damals, als der Hitler kam."

1960, als sie ihren Mann kennen lernte, war Schluss mit dem Strich. "Obwohl ich da dicke von gelebt hab'." Und obwohl sie nie einen Beruf erlernt hatte - eine Arbeit hat sie immer gefunden. Sie hat als Leichenwäscherin im Hedwig-Krankenhaus gearbeitet, auf dem Friedhof und immer wieder in Kneipen. 65 Mark hat die Wohnung in der Fehrbelliner Straße gekostet. Und schön warm war sie. Nach dem Tod ihres Mannes 1973 hat sie zwei Zimmer Studenten gegeben. Dafür haben sie ihr die schweren Sachen hochgetragen. Die Kohlen haben ihr die zwei Schwulen aus dem Hinterhof gebracht. Dafür hat sie auf deren Hund aufgepasst. Eine Hand wusch die andere. Mit der neuen Wohnung ist ihre alte Welt durcheinander geraten. Die Nische Nachbarschaft ist ihr abhanden gekommen.

Man sieht die zierliche, gebückte Gestalt schon von weitem die Alte Schönhauser Straße hinuntergehen. Mit der grünen Jacke, den weißen, kinnlangen Haaren, die ein immer noch niedliches Gesicht umranden, und der Plastiktüte in der Hand. Je später der Tag wird, desto unsicherer schleicht die Gestalt von einer Kneipe in die andere. "Früher habe ick die Säufer verachtet, aber jetzt? Man muss nicht so viel grübeln, und man schläft so jut mit vollem Koppe." Sie greift in ihre Plastiktüte und fischt eine Kindermilchschnitte heraus. Dabei fallen Medikamente, ein Schlüpfer und ein BH heraus. "Hab' ich immer dabei, falls ich nochmal nachts besoffen auf der Straße umfalle. Dann hab' ich alles fürs Krankenhaus dabei."

Seit einem halben Jahr trinkt sie. Richtig. Acht Averna oder Jägermeister über den Tag verteilt verträgt Gertrud Rikus mittlerweile. Sind es mal ein paar mehr, dann haut das so einen kleinen Körper schon mal um. Sie hat einfach keine Lust mehr.

Plötzlich, ganz unvermittelt, fangen ihre Augen wieder an zu leuchten. "Zahlen bitte", ruft sie erstaunlich energisch ins Cantamaggio. "Nee, du nicht", raunzt sie die Kellnerin an, "der Kleine, Süße soll kommen von vorhin. Wo isser denn?" Der Kleine, Süße ist das schon gewohnt und lächelt Gertrud Rikus mit sagenhaft italienischem Charme an. Er klimpert mit dem Auge und sagt irgendetwas, das im Getöse zwar untergeht, aber unglaublich nett klingt. Gertrud Rikus schaut ihn an, wie einen Engel, drückt die Zigarette aus und zahlt. "Mit Männern konnte ick immer schon am besten."

© 2000 Tagesspiegel

haGalil onLine 28-07-2000

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