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Die viel beschworene 
deutsch-jüdische Symbiose 
ist bloß ein Mythos

Von Salomon Korn

Das nationalsozialistische Jahrhundertverbrechen 
ist nicht wirklich Teil einer nationalen deutschen Identität geworden

Salomon Korn trug seine von der FR zum Auftakt einer neuen 
Debatte um die Rezeption von Auschwitz dokumentierten Thesen 
bei den Römerberggesprächen Ende Mai vor.

Jüdische Buchhandlung Morascha - Zürich - Bücher zum Judentum, Ritualia...

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Mit der Vertreibung und Vernichtung der Juden ging dem kollektiven Bewusstsein der Deutschen "nicht wirklich etwas verloren". Zumindest sieht das Salomon Korn so. Korn selbst, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, spricht von einem "ungeheuerlichen Eingeständnis". Dieses abzuwehren, darauf ziele das zu einem Mythos geronnene Gerede von einer "deutsch-jüdischen Symbiose". 

Berlin, 5. September 1866: In der Oranienburger Straße wird das größte und prächtigste jüdische Gotteshaus in Deutschland eingeweiht. Damit scheint die Emanzipation der deutschen Juden ihren höchsten baukünstlerischen Ausdruck gefunden zu haben. Doch das öffentliche Lob, etwa der National Zeitung, es sei ein märchenhaftes Bauwerk, das in die fantastischen Wunder einer modernen Alhambra mit all dem tausendfältigen Zauber des maurischen Stils einführe, verweist auf ein Dilemma, dessen tiefgreifende Folgen erst im Nachhinein sichtbar werden.

Tatsächlich hatte die Berliner Jüdische Gemeinde mit dieser im verschwenderisch neo-islamischen Stil erbauten Synagoge nichts anderes bewirkt, als die gesellschaftliche "Fremdheit" der Juden für jedermann erkennbar in Marmor zu meißeln und in Blattgold zu ziselieren. Damit symbolisierte dieses mit der Kuppel einer Moschee gekrönte, prachtvollste Bauwerk der deutschen Juden unversehens deren tatsächliche Stellung in der Gesellschaft: trotz gesetzlicher Gleichstellung und trotz ihres uneingeschränkten Bekenntnisses zum deutschen Vaterland waren sie als gesellschaftlich-religiöse Minderheit Fremde geblieben. (. . .)

Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen waren Juden lange Zeit das schlechthin andere, das beispielhafte Gegenbild des eigenen Selbst, des eigenen Kollektivs. Diese Grundhaltung hat die deutsch-jüdische Geschichte über Jahrhunderte hinweg bestimmt - bis heute.

Die im 19. Jahrhundert vollzogene Emanzipation der Juden in Deutschland war nie Ausdruck des Willens einer Bevölkerungsmehrheit, sondern stets eine hoheitlich verfügte, von den meisten Deutschen eher als Übel denn als Fortschritt empfundene Anordnung. Dies umso mehr, als die gesetzliche Gleichstellung der deutschen Juden nicht von Deutschland, sondern von Frankreich ausging.

Nachdem dort die jüdische Minderheit 1791 uneingeschränkt emanzipiert worden war, erreichte diese Neuerung Deutschland erst mit dem Einmarsch napoleonischer Truppen und der Konstituierung des Königreiches Westfalen im Jahre 1807 durch Napoleon und dessen Bruder Jerôme. (. . .)

Die gesetzliche Gleichstellung wurde den deutschen Juden nur schrittweise gewährt: von Staat zu Staat zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Rechten ausgestattet: eine Emanzipation, die, als sie 1871 für das gesamte Deutsche Reich vollzogen war, eher einem gesetzlichen Flickenteppich als einem einheitlichen Regelwerk glich. Und auch nach 1871 galt sie in den meisten deutschen Staaten nur mit Einschränkungen und unter Vorbehalt ihres Widerrufes. (. . .)

Doch das drohende Aufgehen der nunmehr gesetzlich gleich gestellten Juden ins deutsche Volk erzeugte auf Seiten vieler christlicher Deutscher Ängste und Phobien, deren Folgen einer wirklichen Integration der Juden in den deutschen Nationalstaat entgegenstanden, ja, die Entfremdung zwischen christlichen und jüdischen Deutschen zunehmend vertieften.

Äußerer Schein

Langlebige Vorurteile beziehen ihre Dauerhaftigkeit vor allem aus dem Bereich des Mythischen oder des Religiösen. Und so war die im 19. Jahrhundert gegen allen äußeren Schein gesetzlicher Gleichstellung zu beobachtende Entfremdung zwischen Deutschen und Juden zunächst christlich motiviert gewesen. Schon die Rückbesinnung der Romantik auf ein idealisiertes christliches Mittelalter schloss Juden von der Teilhabe an der deutschen Geschichte und damit von den konstitutiven Bestandteilen des aufkeimenden Nationalstaates aus. Und wo das christliche Bekenntnis die Zugehörigkeit zu Staat, Volk und Vaterland bestimmte, mussten lange tradierte, vom christlichen Antijudaismus gespeiste Vorurteile und Mythen einer Aufnahme von Juden in die deutsche Volksgemeinschaft entgegenstehen. Denn für die christliche Kirche, katholische wie evangelische gleichermaßen, waren Juden seit Jahrhunderten eine stetige Herausforderung des eigenen Glaubens gewesen.

Der Sozialpsychologe Gerhard Vinnai sieht im christlichen Antijudaismus eine Reaktion von Christen auf untergründige Zweifel an fundamentalen kirchlichen Glaubenslehren - vor allem an jener Lehre, sie seien, angesichts des offensichtlich unvollkommenen Zustandes dieser Welt, durch den Messias in Gestalt Jesus Christus bereits erlöst. "Die Intoleranz von Christen", so Gerhard Vinnai, "hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sie ihren eigenen, auf die anderen verschobenen Unglauben an diesen bekämpfen. Die anderen haben die eigenen verpönten Glaubenszweifel zu repräsentieren, die am eigenen Selbst nicht toleriert werden." (. . .)

Von den ersten Kreuzzügen bis zum nationalsozialistischen Massenmord waren Juden nicht nur religiös verfolgte Minderheit, sondern auch entlastende Projektionsfläche für die dunkleren Seiten der deutschen Volksseele. Ohnmachtsgefühle aus erfahrener Unterdrückung, geheime Ängste, Neid, verbotene Begierde - kurz: alles, was der christliche Untertan an sich selbst hasste oder angesichts seiner mächtigen Unterdrücker verdrängen musste, übertrug er auf die gesellschaftlich weit unter ihm stehenden Juden. Deren Emanzipation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts löste bei vielen Deutschen die Angst aus, Juden könnten jetzt durch Assimilation im deutschen "Volkskörper" unerkannt aufgehen.

Denn ein durch die Geschichte in seiner nationalen Identität stets gefährdetes Volk wie die Deutschen bedurfte - auf der Suche nach einem Nationalbewusstsein - kompensatorisch der selbstüberhöhenden Abgrenzung gegenüber Fremden. Der daraus folgenden Stigmatisierung als "fremdartige Rasse" versuchten die deutschen Juden vehement die Errungenschaften der Aufklärung entgegenzusetzen. Vergeblich: Die Aufklärung selbst wurde den Juden als "jüdisch-zersetzend", die Grundwerte der deutschen Volksgemeinschaft auflösend entgegengehalten. Ausdrücklich auf Börne und Heine gemünzt wetterte Heinrich von Treitschke: "Wir wollen nicht, dass auf die Jahrhunderte germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge (. . .), denn wir haben schon einmal bitter genug erfahren, daß der neujüdische Geist (. . .) unser Volk auf Abwege führt."

Während viele deutsche Juden geistig bereits die Grenzen des Ghettos und schließlich die der Länder gesprengt hatten, verengte sich für die Mehrheit der Deutschen eine ursprünglich europäisch geprägte Aufklärung immer stärker hin zu einem die "fremden" Juden ausgrenzenden ethnisch-völkisch geprägten Nationalbewusstsein. In dieser gegenläufigen Bewegung wurde jene gemeinsame aufklärerische Grundlage, auf der ein Zusammenleben zwischen christlichen und jüdischen Deutschen hätte gedeihen können, allmählich untergraben.

Und auch die vermeintlich säkulare Seite der deutschen Kultur, von der viele Juden erhofften, sie könnten sie unabhängig von der jeweiligen Religionszugehörigkeit mit allen gebildeten deutschen Menschen, vornehmlich dem Bildungsbürgertum, teilen, erwies sich ebenfalls als trügerische Grundlage. Die "mörderische Verwandlung des deutschen Idealismus und der Identitätsphilosophie", so Geoffrey Hartman, sei in der Idee der harmonischen Persönlichkeit angelegt: Sie weise alles Fremde von sich ab. Dieses Prinzip der Identität werde von der deutschen Romantik auf die Idee des Nationalstaates übertragen, der schließlich die gewünschte und nie erreichte Geschlossenheit durch die Auslöschung von Minderheiten doch noch zu erreichen hoffte. An der Verkennung dieses alles Fremde ausschließenden Charakters des deutschen Idealismus, vor allem an dessen weiterhin wirksamen christlichen Wurzeln, scheiterte schließlich auch die vom Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch angestrebte Verbindung des Judentums mit Teilen der deutschen Kultur. Der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Juden und Christen hatte sich in den weit folgenreicheren zwischen Juden und Deutschen gewandelt.

Schwarzes Loch

Ein wirkliches Aufgehen ins deutsche Volk war für Juden in der Regel nur unter Aufgabe ihres Judentums möglich - und auch das nur vorübergehend: Der biologistisch begründete Rasse-Antisemitismus beendete auch diese Option, nachdem er zur nationalsozialistischen Staatsdoktrin erhoben worden war. Der Kommandant der 6. Armee, Walter von Reichenau, machte im Oktober 1941 den deutschen Soldaten unmissverständlich klar, welcher Krieg gegen die Juden geführt werde.

Nicht den ehernen Regeln der Kriegskunst gelte es zu folgen, sondern einer unerbittlichen völkischen Idee, die am jüdischen Untermenschentum zu vollziehen sei (zitiert nach Dan Diner). Spätestens in den Gaskammern der nationalsozialistischen Vernichtungslager wurden die nicht mehr ins rettende Exil entkommenen deutschen Juden endgültig aus dem "deutschen Volkskörper" ausgeschieden, vernichtet als Teil jener sechs Millionen europäischer Juden, denen das Existenzrecht als menschliche Wesen von "deutschen Herrenmenschen" aberkannt worden war.

Blickt man zurück auf das 20. Jahrhundert, so erscheinen die Jahre zwischen 1939 und 1945 wie ein schwarzes Loch, das die deutsche und europäische Geschichte dieses Jahrhunderts in sich aufsaugt - ein Sog, den wir bis in unsere Gegenwart allenthalben registrieren. Denk' ich an Deutschland? Ja, und selbst wenn ich es nicht wollte: Die Abkömmlinge jenes großen schwarzen Loches, die vielen schwarzen Löcher in den Seelen der überlebenden Opfer und deren Nachkommen, aber auch in denen der Nachkommen der ehemaligen Täter, Profiteure und Mitläufer, auf die ich immer wieder stoße, sie sind es, die die gleichen Fragen stets neu beleben: Warum? Warum ist es geschehen? Wie war es möglich?

Die häufig verwendete Bezeichnung "Zivilisationsbruch" für das vom nationalsozialistischen Deutschland in Europa angerichtete Inferno scheint mir die Dimension des Jahrhundertverbrechens nur teilweise zu treffen. Seine Ursachen sind auch im vermeintlich zivilisatorischen Fortschritt, in der Aufklärung selbst angelegt, wie Adorno, Horkheimer, Zygmunt Bauman und andere dies ausführlich dargelegt haben. Das Wachsen wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Zeit der Aufklärung und danach ging keineswegs immer mit der Zunahme gesellschaftlicher Humanisierung einher. Hier sei nur ein harmlos scheinendes Beispiel erwähnt, das in seinen Folgen die Kehrseite der Aufklärung, ihre vielzitierte Dialektik bezeugt:

Linnés Klassifizierung und Katalogisierung der Arten von den niedrigsten Lebensformen bis hin zum höchsten Lebewesen, dem homo sapiens, war zunächst nichts anderes als der Versuch, ein Ordnungssystem der Natur zu erstellen. Doch aus einem mit dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit erstellten Klassifizierungssystem wurde im Laufe der Zeit ein Bewertungssystem, an dessen Spitze schließlich nicht mehr der Mensch, sondern der arische Mensch, die arische Rasse stand. Die in diesem System postulierten Unterschiede zwischen den teils willkürlich definierten Rassen - nichts anderes als wertende Zuschreibungen - waren scheinbar naturgesetzlich gegeben und somit vermeintlich gegen rational begründete Kritik gefeit.

Der auf dieser Grundlage von den Nationalsozialisten pervertierte, auf menschliche Gesellschaften übertragene Sozial-Darwinismus mit seiner naturgestützten These vom Überleben der Tüchtigsten fiel nicht nur um Jahrhunderte hinter die ursprünglichen Absichten der Aufklärung, der Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zurück, sondern um drei Jahrtausende: hinter die am Sinai verkündete Lehre.

Mit dem Dekalog, mit dem Gebot der Nächstenliebe und demjenigen, auch den Fremden darin einzubeziehen, konnte der Mensch zum ersten Mal an Hand kodifizierter Bestimmungen die Gesetze der Natur bewusst überschreiten. Mit dem Setzen moralischer und ethischer Normen hat der Mensch seine in ihm angelegten Fähigkeiten genutzt, aus dem Reiz-Reaktionsschema der Natur auszubrechen und sich eine zweite, über der ersten stehende "Natur" zu erschaffen, um auf diese Weise nicht von der "Willkür" naturverhafteter Kreatürlichkeit beherrscht zu werden, sondern sie seinerseits zu beherrschen - zum Wohle aller, auch der Schwächeren. Biologismus, Rassismus und Antisemitismus sind demnach vor allem Rückfälle in die Vorzeit des Menschen und des menschlichen Geistes. (. . .) Die Nationalsozialisten haben nicht nur einen unüberbrückbaren Graben zwischen ihrer Weltanschauung und der am Sinai verkündeten universellen Lehre von der Nächsten- und Fremdenliebe errichtet und nicht nur die als "Volksschädlinge" stigmatisierten Juden radikal und nachhaltig aus der "deutschen Volksgemeinschaft" ausgeschlossen. Indem sie damit gleichzeitig auch wesentliche Grundlagen der christlichen Lehre - etwa das von Jesus verkündete, uneingeschränkt geltende Liebesgebot - abschafften, hat sich ein Großteil der Deutschen den religiösen und humanistischen Traditionen der eigenen Kultur und damit Teilen der eigenen Geschichte entfremdet.

Und weil die Juden und der mit ihnen verbundene Mythos für das religiöse christliche Gedächtnis gleichsam konstitutiv sind, will es Dan Diner scheinen, "dass mit der Ausrottung der Juden nicht allein jüdische Menschen zu Tode gebracht wurden, sondern auch das christliche oder zumindest christlich eingefärbte Selbst zutiefst in Mitleidenschaft gezogen wurde. Den besonderen Ritualen der Erinnerung an die jüdischen Opfer des Holocaust kommt womöglich auch die Bedeutung zu, sich verlorengegangene christliche Traditionsanteile wieder anzueignen."

Die Entfremdung der Deutschen von sich selbst ist Folge einer beispiellosen kulturellen und zivilisatorischen Selbstamputation. Deren fatale Wirkung traf und trifft noch immer vor allem die nationale Identität der Deutschen. Mit etwas identisch sein, heißt ja nichts anderes als mit etwas eins sein, mindestens aber ganz oder teilweise damit übereinzustimmen.

Fatale Wirkung

Wie aber war es möglich, sich als Deutscher mit dem dunkelsten Teil der eigenen Geschichte zu identifizieren, mit ihr eins zu werden? Weil Identifizierung qua Definition nur mit positiven Inhalten möglich ist, musste "negative Identifizierung" und daraus folgend "negative Identität" ein Widerspruch in sich bleiben. Dennoch ist Auschwitz, gewollt oder ungewollt, Teil deutscher Geschichte und damit Teil nationaler deutscher Identität. Die Dimension des Verbrechens aber verhindert eine - vermutlich nicht leistbare - Integration der ungeheuerlichen Tatsachen in das individuelle und kollektive Bewusstsein der Deutschen.

Um das Ausmaß des Verbrechens, sofern man sich ihm überhaupt stellt, ansatzweise ertragen zu können, muss es gefühlsmäßig auf Distanz gehalten werden. Das hat Folgen für die individuelle Erinnerung, sei sie authentisch, sei sie angeeignet. Deren Qualität ist nicht in erster Linie abhängig vom Umfang der im Gedächtnis gespeicherten Informationen, sondern von den mit den erinnerten Vorstellungen und Bildern verknüpften Gefühlsanteilen, den Affekten. Erst sie geben der Erinnerung Gewicht, Wert und Dauerhaftigkeit.

Positiv assoziierte Affekte helfen Erinnerung stärker zu verankern, weil sie nicht nur als neutrale Information im Gedächtnis gespeichert, sondern parallel dazu mit dem Gefühlshaushalt gekoppelt ist. Negative Affekte verstärken die Neigung, die mit ihnen verknüpften Erinnerungen abzuwehren, zu beschönigen, zu verdrängen und schließlich zu leugnen.

Vermutlich konnte und kann Auschwitz, wenn überhaupt, nur dann Teil einer nationalen Identität der Deutschen werden, wenn der Affekt, der Gefühlsanteil der Erinnerung, von der Assoziation, dem Informationsanteil dieser Erinnerung, weitgehend getrennt bleibt. Dies ist ein labiler, partiell auch traumatischer Erinnerungszustand, der wegen seiner negativen Affektanteile stets von Abwehr, Leugnung und Verdrängung bedroht bleibt. Ihnen zu widerstehen, bedarf eines ständigen Willensaktes, einer bewussten Erinnerungsleistung gegen die mit ihr verknüpften negativen Affekte.

Dem steht immer wieder das in jedem Menschen aus Gründen der Selbstachtung wirkende Legitimationsbedürfnis entgegen. Es lässt nicht einfach von der lustvollen Aufrechterhaltung des eigenen seelischen Gleichgewichtes und der eigenen biografischen Legende ab - wie ein Sonntagsredner an dieser Stelle beispielhaft gezeigt hat. Dass Adolf Hitler zwischen 1933 und 1940 zum unbestritten beliebtesten Staatsoberhaupt der Welt wurde, wie Ian Kershaw feststellt, konnte nach 1945 für das Rechtfertigungsbedürfnis vieler Deutscher nicht ohne Folgen bleiben.

Ein Teil der Deutschen, nach dem Krieg immerhin knapp zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung, heute etwa 15 Prozent, hat auf die eine oder andere Weise am Nationalsozialismus festgehalten. (. . .)

Die Mehrheit der Deutschen, ob frühere Mitläufer, Gleichgültige oder Unbeteiligte, standen vor den Trümmern der eigenen Geschichte, unfähig, sie in die eigene Biografie zu integrieren. So blieben seelische Leerstellen, schwarze Löcher, zivilisatorische Hohlräume zurück, deren Abkömmlinge Spuren in den Seelen auch der zweiten und dritten Generation hinterlassen haben. Wegen einer nach dem traumatisierenden Krieg vermutlich unumgänglich notwendigen "Latenzzeit des Schweigens" sind sie der Öffentlichkeit lange verborgen geblieben.

Denn, so Tilmann Moser: "Je mehr die ‚Aufarbeitung der Vergangenhei t ' politisch im Vordergrund stand als ein öffentliches Thema zwischen Forderung und Vorwurf, desto geringer war die Chance einer psychologischen oder familiären Aufarbeitung. Die Themen polarisierten sich zwischen öffentlich und privat: das Private war delegiert an die öffentliche Proklamation. Die Öffnung des einen Raumes zog fast automatisch die Schließung des anderen Raumes nach sich."

Die Entfremdung von der eigenen Geschichte, deren lange abgewehrte oder blockierte Aufarbeitung auf individueller Ebene ist zwar in Deutschland allenthalben zu spüren, wie die großen öffentlichen Debatten der letzten Jahre zeigen, kaum jedoch das Bewusstsein einer zwischen 1933 und 1945 verursachten tiefgreifenden kulturellen und zivilisatorischen Selbstamputation. Dazu hätte es eines Unrechtsbewusstseins der Deutschen nach Kriegsende bedurft. Dass ein solches überwiegend nicht vorhanden war, belegen neben Meinungsumfragen aus der Nachkriegszeit die zahlreichen 1944-45 mit Deutschen geführten Interviews des amerikanischen Oberstleutnants Saul K. Padower. Stattdessen zeigen diese befragten "Muss-Nazis", so Padower, ein ungeheures Maß an Larmoyanz, ein ausgeprägtes rassistisches Feindbild und ein mangelndes Bewusstsein darüber, was Deutsche anderen angetan haben.

Im kollektiven Gedächtnis der meisten Deutschen hatten Juden vor 1933 nie wirklich zur deutschen Volksgemeinschaft gezählt und nach 1933 schon gar nicht. Was den Juden widerfuhr, so Saul Friedländer, lag in weiten Kreisen der Bevölkerung "im Bereich eines stillschweigenden Einverständnisses oder einer mehr oder weniger ausgeprägten Willfährigkeit". Woher sollte demnach bei der Mehrheit der Deutschen nach 1945 das Gefühl erwachsen, mit Vertreibung und Ermordung des jüdischen Bevölkerungsanteils hätten die Deutschen etwas verloren, gar einen Teil ihrer selbst? Nichts davon!

Warum dann wurde gegen jede historische Realität der Mythos von der als gesellschaftliches Phänomen nie existenten "deutsch-jüdischen Symbiose" in die Welt gesetzt? Die nachgängige kulturelle und gesellschaftliche Einverleibung der deutschen Juden in das Volk, dem sie stets fremd geblieben waren, geschah, um eben dies nicht eingestehen zu müssen. Denn Gefühle des Verlustes stellen sich nur dort ein, wo der einst vorhandene Mensch, die einst vorhandene Gruppe früher einmal Bedeutung für das Individuum oder das Kollektiv hatte.

Der Mythos von der "deutsch-jüdischen Symbiose" aber ist die permanente Abwehr des ungeheuerlichen Eingeständnisses, dass mit Vertreibung und Vernichtung der Juden im kollektiven Bewusstsein der Deutschen nicht wirklich etwas verloren ging, das Gefühle des Verlustes oder gar der Trauer hätte auslösen können. So musste der Anlass künstlich geschaffen werden, sei es aus im Einzelfall aufrichtig empfundener Scham, sei es, um aus politischem Kalkül auf dem moralischen Welttheater als Deutscher wieder eine glaubwürdige Rolle spielen zu dürfen.

Wir werden damit leben müssen: Die Erinnerung an das nationalsozialistische Jahrhundertverbrechen ist nicht wirklich Teil einer nationalen deutschen Identität geworden. Wegen der nicht bewältigbaren Dimension des Verbrechens findet sie sich eher fragmentarisch als ganzheitlich in einer solchen eingelagert. Es war stets die Hoffnung der überlebenden Opfer und deren Nachkommen, die Wucht der mit dem Schreckensnamen Auschwitz verbundenen Affekte könne vor Rückfällen in Antisemitismus und Rassismus schützen. Wegen der Ausschließlichkeit von Identität und Negativität und der nahezu unüberwindlichen Schwierigkeit, Erinnerung durch negative Affekte zu stützen, ist dies eine Hoffnung, um nicht zu sagen eine Illusion geblieben.

Denk ich an Deutschland? Ja! In der Nacht? Gelegentlich! Bin ich dann um den Schlaf gebracht? Nein, und ich kann auch noch im Unterschied zu Heinrich Heine die Augen schließen und keine heißen Tränen fließen. Und doch lassen mich einige immer wiederkehrende Gedanken nicht los: Auch wenn im kollektiven Gedächtnis der Deutschen die Juden als reale Personen oder als Mythos das grundsätzliche Andere repräsentieren, dann müssen sich eben deshalb in diesem Anderen Ähnlichkeiten wiederfinden, die zum lustvollen, hoch affektiven Projizieren der eigenen dunkleren Seelenanteile geradezu auffordern. Denn seit Sigmund Freud wissen wir: Das Ähnliche ist das Unheimliche - am ausgeprägtesten im Doppelgänger.

"Der Charakter des Unheimlichen", so Freud, "kann doch nur daher rühren, dass der Doppelgänger eine den überwundenen seelischen Urzeiten angehörige Bildung ist, die damals allerdings einen freundlicheren Sinn hatte. Der Doppelgänger ist zum Schreckbild geworden, wie die Götter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden."

Erst wenn Juden im kollektiven Gedächtnis der Deutschen die Funktion verloren haben, "das gänzlich Andere" sein zu müssen und es tendenziell gleichgültig ist, ob Juden in der gesellschaftlichen Mehrheit aufgehen oder bewusst religiöse Minderheit bleiben wollen, erst dann kann vom Beginn einer wie immer gearteten pragmatischen "Normalität" die Rede sein. Dazu aber müssen die Deutschen in ihrer Mehrheit erst einmal zu sich selbst finden. Dieser beschwerliche Weg führt von einem nicht gänzlich überwundenen ethnisch geprägten deutschen Nationalbewusstsein über die Ortung noch vorhandener schwarzer Löcher in der eigenen Seele zu einem Nationalbewusstsein deutsch-europäischer Prägung - also dorthin, wo Teile der deutschen Juden vor 150 Jahren bereits waren.

Kürzlich habe ich einen bekannten Mann aus der deutschen Wirtschaft gefragt, wie lange es gedauert habe, bis er das Wort "Jude" ohne Herzklopfen aussprechen konnte. Seine Antwort: "Ehrlich gesagt, ich kann es heute noch nicht."

Wieder einmal hat mir dieses sympathisch offene Eingeständnis gezeigt, wie langlebig Mythen und wie hartnäckig Vorurteile sind, wenn sie sich erst einmal als festgefügte Bilder oder sprachliche Stereotype in die Volksseele eingenistet haben.

Und wer meint, so etwas habe sich im Zeitalter Europas und der Globalisierung längst überholt, der schaue sich die bisher über 350 Homepages im Internet an, die bei wachsender Zahl in ihrem Antisemitismus zunehmend aggressiver werden und belegen, dass Globalisierung aus Angst vor zunehmender Unübersichtlichkeit auch die Gefahr des Gegentrends der geistigen Tribialisierung in sich trägt.

Nein, schon aus therapeutischen Überlegungen müssten in den Medien stets verwendete Bezeichnungen wie "jüdischer Abstammung", "jüdischer Herkunft" oder "jüdische Mitbürger" gemieden werden und an ihre Stelle einfach das Wort "Jude" treten, was sicherlich alles andere als einfach ist. Eben deshalb sollten Deutsche es im jeweiligen Zusammenhang bewusst verwenden - nicht etwa um zu prüfen, welche Beklemmungen ihr Verhältnis zur jüdischen Minderheit immer noch bestimmen mögen, sondern in welcher Beziehung sie zu sich selbst, zu den vorurteilsbehafteten Teilen ihrer Traditionslinien stehen.

Das verworrene Verhältnis vieler Deutscher zu sich selbst, was in historischer Verwobenheit auch durch das komplizierte und komplexe Verhältnis zu den Juden repräsentiert wird, könnte so in einem ersten Schritt entworren werden - zugegeben: ohne das Problem zunächst wirklich an der Wurzel zu packen. Aber allein, indem das Wort "Jude" durch Alltagsgebrauch seine historisch aufgeladene Stigmatisierung und damit seinen Schmähanteil verlöre, könnte vielleicht ein Stück weit aus Mythos Alltag oder um mit Freud zu sprechen: aus "Es" "Ich" werden.

Die im Krieg zerstörte Synagoge in der Oranienburger Straße wurde noch zu DDR-Zeiten teilrekonstruiert und in Teilbereichen wieder aufgebaut. Von der Straße aus erkennt man die prächtige Zweiturm-Fassade mit ihrer weithin glänzenden, goldgerippten Kuppel - ein Bild wie vor der Zerstörung. Im Hinterhof steht an Stelle des abgebrochenen Synagogenhauptraumes ein Gerüst, das als dessen Kontur sichtbar eine Leerstelle markiert.

Über ein Jahrhundert nach ihrer Erbauung ist dieses Gotteshaus unversehens erneut zum Symbol der gesellschaftlichen Stellung der Juden in Deutschland geworden, indem es gleichzeitig Verlust und Hoffnung, historischen Schein und gegenwärtige Wirklichkeit bezeugt. Hinter der Fassade symbolisiert die geisterhaft anmutende Raumkontur den endgültigen Verlust des deutschen Judentums, die Fassade selbst wirkt nach wie vor befremdlich, wie die jüdische Minderheit in Deutschland heute auf die eine oder andere Weise der Mehrheit der Deutschen immer noch erscheint.

Vielleicht kommt ja der Tag, an dem Besucher diese nach wie vor exotisch anmutende Synagoge nur noch als das Denkmal eines zweifach überwundenen historischen Zustandes und damit als Denkmal seiner selbst wahrnehmen. Es wird der Tag sein, an dem Deutschland ganz in Europa angekommen und Heinrich Heines Besorgnis um Deutschland nur noch reine Poesie ist. Bei aller zweifelsfreien demokratischen Verfasstheit des neuvereinigten Deutschland: der Weg dahin bleibt beschwerlich.

Historische Dünung

Hinter uns liegt das blutigste Jahrhundert der Geschichte; seine untergründige historische Dünung jedoch wird sich als Erbschaft der Nachgeborenen weit ins nächste Jahrhundert hinein fortsetzen. Zwar verlassen wir jetzt das 20. Jahrhundert, doch das 20. Jahrhundert wird uns nicht verlassen - auf lange Zeit hinaus!

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2000
Dokument erstellt am 14.06.2000 um 21:10:31 Uhr
Erscheinungsdatum 15.06.2000

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