Das Leben und Schicksal der weltweit ersten Rabbinerin, der Berlinerin Regina
Jonas, blieb bis heute ein Mythos und war lange Zeit vergessen. Ihr
faszinierender und pionierhafter Lebensweg wurde nun erstmals von der Berliner
Journalistin Elisa Klapheck, der Chefredakteurin der Zeitschrift "Jüdisches
Berlin" und Organisatorin der Berliner Tagung europäischer Rabbinerinnen,
Kantorinnen und rabbinisch gelehrter Jüdinnen und Juden "Bet Debora" ausführlich
beschrieben.
Regina Jonas stammte aus einer sehr armen Berliner Familie und verlor früh ihren
Vater. Sie war eine konservative Persönlichkeit und keineswegs eine Feministin.
Sie hielt nichts von der Gleichheit, nur von der Gleichberechtigung der
Geschlechter, sympathisierte weder mit dem Reformjudentum noch mit der Aufhebung
der Mehiza, der Trennung der Geschlechter in den Synagogen.
Von früher Jugend an erfüllte sie, wie Kalpheck schreibt, ein grenzenloser
Enthusiasmus für alles, "das mit dem Judentum zu tun hatte". Daraus entwickelte
sich schon bald ihr explizit geäußerter Berufswunsch, eine Rabbinerin zu werden.
Nach der Reifeprüfung ließ sich Jonas zur Religionslehrerin ausbilden,
unterrichtete an der Reliogionsschule Annenstraße und studierte an der liberalen
Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Sie bekundete ihre Absicht, nach
dem Ende des Studiums die Rabbinatsprüfung abzulegen. Der dafür zuständige
Talmudprofessor Eduard Baneth hegte keine Einwände gegen die Ordination von
Frauen. Dennoch bleibt es Spekulation, ob er Jonas tatsächlich ordiniert hätte,
denn er starb kurz vor ihrer Zulassung zur mündlichen Prüfung im Jahr 1930. Sein
Nachfolger Chanoch Albeck lehnte Jonas' Ordination ab.
Baneth ließ Jonas auch die Abschlußarbeit zum Thema "Kann die Frau das
rabbinische Amt bekleiden?" schreiben, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht in ihrer letzten Fassung erhalten hat. Die 88 Seiten lange Abhandlung ist
laut Klapheck eine Streitschrift, die sich keiner liberalen Argumente bedient,
sondern das weibliche Rabbineramt von der Halacha ausgehend zu begründen
versucht, wobei selbst die neueren amerikanischen Responsen nicht über diese
Schrift hinauszugehen vermochten: "Diese Arbeit blieb nicht nur der historisch
erste, sondern auch der umfassendste Versuch, das weibliche Rabbinat aus der
Tradition des Judentums heraus zu begründen." Nur an einer Stelle kam Jonas auch
auf die modernen soziologischen Umstände zu sprechen, die die Einführung des
Amtes der Rabbinerin unumgänglich machten: "So wie Ärztin und Lehrerin heute vom
psychologischen Standpunkt mit der Zeit eine Notwendigkeit geworden ist, so auch
die Rabbinerin. Gar manche Dinge, die der Mann auf der Kanzel und sonst bei der
Jugend nicht sagen kann, kann sie… Die Welt besteht nun einmal durch G'tt aus
zwei Geschlechtern und kann nicht auf die Dauer nur von einem Geschlecht
gefördert werden."
1935 erklärte sich der Offenbacher Rabbiner Max Dienemann bereit, Jonas im
Auftrag des Liberalen Rabbiner-Verbandes, dessen Geschäftsführer er war, nach
einer mündlichen Prüfung zu ordinieren. Im Rabbinerdiplom bezeugte er, daß Jonas
"fähig ist, Fragen des Religionsgesetzes (der Halacha) zu beantworten und daß
sie dazu geeignet ist, das rabbinische Amt zu bekleiden." Leo Baeck, der Jonas
intern immer unterstützt hatte, nannte sie in seinem Glückwunschschreiben
"Liebes Fräulein Kollegin!"
Jonas hielt fortan Vorträge im Trausaal der Neuen Synagoge in der Oranienburger
Straße, gestaltete den Oneg Schabbat und wurde für die
"rabbinisch-seelsorgerische Betreuung in den Sozialstationen der Gemeinde"
eingesetzt. Aber die Kanzeln der Neuen Synagoge wie die aller anderen großen
liberalen Berliner Synagogen blieben ihr ebenso verwehrt wie sie niemals mit
religionsgesetzlichen Handlungen wie Trauungen oder Scheidungen betraut wurde.
Sie war eine begabte Predigerin und trug bei den G'ttesdiensten Talar und
Barett. Klapheck schrieb über sie: "Mit Leib und Seele identifizierte sich Jonas
jedoch mit den Aufgaben des Rabbiners – als Prediger, Seelsorger, als
Rechtsgelehrter, der religionsgesetzliche Entscheidungen treffen muß, und als
Lehrer seiner Religion."
Spekulation bleibt, ob die Berliner Gemeinde Jonas auch als Rabbinerin hätte
arbeiten lassen, wenn nicht in der NS-Zeit viele Rabbiner emigriert wären, die
nicht ersetzbar waren. Jonas selbst dachte keinen Augenblick lang an
Auswanderung. Sie wollte ihre Mutter nicht allein in Deutschland zurücklassen
und befreundete sich in ihren letzten Lebensjahren mit dem Hamburger Rabbiner
Joseph Norden, der wie sie ein Opfer der Schoah wurde. Nach ihrer Deportation
nach Theresienstadt 1942 arbeitete sie in dem von Viktor E. Frankl geleiteten
Referat für psychische Hygiene und hielt weiterhin religiöse Vorträge. 1944
wurde sie im Alter von 42 Jahren nach Auschwitz deportiert und vergast.
Fräulein Rabbiner Jonas. Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden? Eine
Streitschrift von Regina Jonas. Ediert – kommentiert – eingeleitet von Elisa
Klapheck. Mit einem Vorwort von Hermann Simon. Hentrich & Hentrich, Teetz 1999,
325 S.