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Iris Weiss macht seit
1993 mit Touristen und interessierten Einheimischen Spaziergänge zur
Sozial-, Kultur- und Religionsgeschichte Berliner Juden: zu Juden in
Charlottenburg, zu jüdischen Frauen, zu russischen Einwanderern oder zu
neuen Entwicklungen jüdischen Lebens in der Stadt. Wir haben sie auf
einem ihrer Rundgänge begleitet.
»Bei der hatte ich Unterricht«,
sagt die Frau hinter uns plötzlich. Sie war stehengeblieben, gerade als
Iris Weiss bei ihrer Führung zur Emanzipationsgeschichte Berliner
Jüdinnen auf die Rabbinerin
ReginaJonas
zu sprechen gekommen war. Das, was sie uns eben erzählt hatte, wird für
einen Moment »anfassbar«. Die alte Dame mit der undurchdringlichen
Sonnenbrille wird zu dem kleinen Schulmädchen, dassie war, als sie
diesen Ort vor 57 Jahren zum letzten Mal gesehen hat.
»Nice to meet you«, verabschiedet sie sich, und sie sei froh, daß sich
junge Leute für die »Geschichte« interessieren. Zumindest Iris Weiss
scheint ein wandelndes Lexikon in jüdischen Fragen zu sein und hier
jeden Stein zu kennen.
Nachdem sie uns nach Regina
Jonas auch Recha Freier, die heute fast vergessene Mitbegründerin der
Jugend-Aliya, vorgestellt hat, verlassen wir also die Oranienburger
Straße mit ihren schrillquietschenden Straßenbahnen und Falafel kauenden
Touristen und schwenken in die Seitenstraßen ab, vorbei an
Schickimicki-Cafès und maroden Häusern.
In der Auguststraße ist quasi jedes Haus mit jüdischer und vor allem
jüdischer Frauen-Geschichte angefüllt: das erste jüdische Krankenhaus,
die erste jüdische Krankenpflegeschule, die »Ahawa«, das Jüdische
Arbeiterfürsorgeamt und und und. Hier hat die Lyrikerin Mascha Kaléko
als junges Mädchen eine Ausbildung als Kontoristin gemacht und den Ort
in einem ihrer Gedichte verewigt. Iris Weiss liest die Passage vor, und
sie zeigt uns in der Gipsstraße das Haus, in dem sich einer der
jüdischer Kindergärten befand. Dort arbeiteten Sala Kochmann aus der
Herbert-Baum-Gruppe und die Psychoanalytikerin Nelly Wolffheim, und Iris
Weiss hat auch Anekdoten über die ehemaligen Zöglinge auf Lager, die
sich bis heute nicht ganz über die Zahl der damals auf dem Dachgarten
befindlichen Palmen einigen können.
In der Gormannstraße stehen wir
dann vor der Baulücke, in der einst das Israelitische Heimathaus stand,
mit Volksküche, Frauengruppen, Kochschule. Eine Unzahl engagierter
Frauen war hier zugange, aber auch der Richter Jakob Teitel hatte in dem
Gebäude, wie zuvor bereits in Rußland, einen Kinderklub eingerichtet.
Frauen wie Hannah Karminski wiederum waren bei der Jüdischen
Bahnhofshilfe ak-tiv. Als Teil des Jüdischen Frauenbundes hatte diese
ihr Domizil am Monbijouplatz und kämpfte gegen die Mädchenhändler, die
in Berlin ankommende junge Frauen aus Osteuropa mit falschen
Versprechungen in die Prostitution lockten.
Vor dem einstigen Sitz der
Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur in der Neuen Schönhauser
Straße erzählt uns unser Guide dann von Jeanette Schwerin, der Mentorin
Alice Salomons, die noch im vorigen Jahrhunderts das erste Archiv für
soziale und pädagogische Institutionen eingerichtet hatte. In dem Haus
gab es aber auch eine öffentliche Volksküche und eine jedem
zugänglicheLesehalle, in der eine Frau namens Bona Peiser schon damals
Bibliothekarinnen aus-bildete und thematische Literaturnachmittage für
Kinder veranstaltete. Das Haus ist restauriert und auch die Aufschrift
»Volks-, Kaffee- und Speise-Hallen-Gesellschaft« hat man wieder
angebracht. Aber das ist eben doch nur Fassade. Der soziale und offene
Geist, der hier einst herrschte, scheint mit den neuen Besitzern nicht
zurückgekehrt zu sein. Der Yuppi, der uns rabiat aus dem Hausflur drängt
und uns mit »Jetzt ist Marktwirtschaft, nicht mehr Sozialismus« die Tür
vor der Nase zuschlägt, verkündet, es sei ihm »wurscht«, was hier früher
mal gewesen sei: »Wenn Sie hier was wollen, gehen Sie in mein
Restaurant«. Anderthalb Stunden zuvor hatte Regina Jonas’ Schülerin noch
vom Interesse der »neuen Generation« für die Geschichte gesprochen.
Judith Kessler in "Jüdisches Berlin", Nr. 9 / 1999
Termine: So 26. März 14.00 h ;
Fr 21. April 16.30 h , Mo 1. Mai 14.00 h , Fr 9. Juni 16.30 h
Start: Leo Baeck Haus, Tucholsky Str. 9, Berlin-Mitte; Dauer ca. 2 Std.
Weitere Rundgänge zur
jüdischen Frauengeschichte:
Sa 22. April 14.30 h:
literarische S-Bahn-Tour: Mascha Kaléko - Vom
Scheunenvierte nach Charlottenburg; mit Gedichten zu Lebensorten
Start: Volksbühne Rosa-Luxemburg-Platz
Fr 28. April 16.30 h und Fr 16.
Juni 16.30 h:
Zwischen Abschiebung, Illegalität und Prostitution: Ostjüdische
Frauen im Scheunenviertel
Start: Neue Synagoge / Oranienburger Str. 28
Info:
email
weitere Führungen
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Bet Debora Berlin
haGalil onLine
26-03-2000
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