Am Sonntag wird Max
Mannheimer, geboren im tschechischen Neutitschein, Auschwitz-Häftling
mit der Nummer 99 728, achtzig Jahre alt. Da möchten viele mit ihm sprechen;
schließlich sind nicht mehr viele übrig, die noch Auskunft aus eigenem
Erleiden geben können. Bald wird dieser Abschnitt in der deutschen
Geschichte ganz den Historikern gehören, nicht mehr den Zeugen.
Mannheimer
hat alles ihm Mögliche getan, dass dieses Kapitel deutscher Geschichte nicht
vergessen wird; er geht in die Schulen, führt Gruppen durch die Gedenkstätte
in Dachau, ist – auf Podien oder als aufmerksamer Beobachter im Publikum –
immer präsent, wenn es um das Thema der Vernichtung des europäischen
Judentums geht, und kümmert sich heute als Präsident der Lagergemeinschaft
Dachau um die Mitüberlebenden und die Tradition der Erinnerung.
Er gibt bereitwillig Auskunft.
Trotzdem: Es ist da doch immer auch eine Scheu, wenn man einem Menschen
gegenübersitzt, in dessen linken Unterarm blauschwarz eine Häftlingsnummer
eingebrannt ist. Also vorsichtiges Herantasten, dezente Fragen. Was er denn
von der Neugestaltung der Gedenkstätte in Dachau halte; wie es der Stiftung
„Erinnerung“ gehe, die die Neuausgabe seines Späten Tagebuchs
unterstützt hat.
„Wissen Sie, was für ein Tag heute
ist?“, fragt er plötzlich. Es ist Mittwoch, der 2. Februar. „Es ist jetzt“,
sagt er und schaut auf seine Uhr, „genau 57 Jahre und zehn Stunden seit dem
ersten Appell in Auschwitz.“ Um Mitternacht war der Transport aus
Theresienstadt in Birkenau angekommen. Nun, noch keine 24 Stunden sind
vergangen, sind sie eingeführt in die Hölle, und die, die an der Rampe nach
rechts gewiesen wurden, sind schon tot. Auch die Eltern Max Mannheimers,
seine Schwester, seine Schwägerin, seine Frau. Das weiß er noch nicht. Er
und die Ausgesuchten treten an zum Appell. „Vordermann! Seitenrichtung!
Sauhaufen! Der Blockälteste schreit. Die Stubendienste schreien. Wir werden
gezählt.“ In hetzendem Staccato hat Mannheimer
in seinem Tagebuch diesen ersten Tag in Auschwitz geschildert. Wie unter
einem gnadenlosen Stroboskop blitzen Szenen und Bilder auf, die sich in
jeder Einzelheit eingebrannt haben ins Gedächtnis. Es sind nackte, grelle
Bilder, festgehalten in mitleid-, in atemlosen Einwortsätzen. Wie
Stockschläge wirken sie und kennzeichnen dieses Tagebuch auch über den
Inhalt hinaus als etwas Besonderes.
Erst spät, 1967, unter dem Eindruck
einer schweren Erkrankung, hat er seine Erinnerungen, die jetzt in
überarbeiteter Form in Ernst Pipers Pendo Verlag neu herausgekommen sind,
für seine Tochter zu Papier gebracht. Zeugnis geben: Das schafft man nicht
gleich. Die Überlebenden mussten erst einmal wieder das Leben lernen.
Mussten das Erlebte aus dem Kopf und dem Herzen drängen, Erinnerung
überleben – oder übermalen, wie Max Mannheimer es
tat.
Als Maler nennt er sich
ben jakov, Sohn des Jakob – Jakob hieß sein Vater. Bis zum 18.
Februar sind Mannheimers Gemälde unter dem Titel „dem Leben wieder Farbe
geben“ im Foyer des Dachauer Rathauses ausgestellt. Und am Montag (19.30
Uhr) wird er das Späte Tagebuch bei einer Veranstaltung des Vereins
„Gegen das Vergessen“ im Literaturhaus vorstellen und daraus vorlesen. Auch
die schwierige Passage mit der guten Tat: als sein kranker Bruder von einem
Mithäftling eine wattierte Jacke bekommt; eine im Überlebenskampf in
Auschwitz-Birkenau überwältigend hohe Tat war das. Sie überwältigt ihn immer
noch. Genauso wie Mitgefühl. Oder Tränen. Da bricht der scheinbar sichere
Damm namens „Zeugenschaft“ auch für Max Mannheimer.
Und deshalb kehren wir jetzt ganz schnell zurück in die Gegenwart, zu alten
und neuen Rechten. Da mischt er sich ein, nimmt die Konfrontation an, als
Zeuge im Prozess gegen einen Herrn Deckert, der frech den Holocaust leugnet,
oder im Gespräch mit Ewald B. Althans, dessen Beruf Neonazi war. Er schont
sich nicht, dieser Max Mannheimer, weder körperlich
noch seelisch.