Als ich mich nach einjährigem
Gedenkdienst von den MitarbeiterInnen der Forschungsabteilung des U.S. Holocaust
Memorial Museums im Oktober 1994 mit der Ankündigung verabschiedete, für ein
Holocaust Museum in Österreich einzutreten, war ich nicht der erste und – wie
ich angesichts der öffentlichen bzw. veröffentlichten Debatte seit mehr als
einem Jahr feststelle – nicht der letzte, der sich mit der Frage der Darstellung
des Nationalsozialismus in Österreich bzw. des österreichischen
Nationalsozialismus bzw. des österreichischen Anteils am Nationalsozialismus im
Deutschen Reich beschäftigt hat. Die Enquete der Wiener Zeitgeschichtler ist mir
ein willkommener Anlass für ein Resümee in Thesen und Aufstellen einer
Alternative.
1. These: die akademischen
ZeithistorikerInnen Österreichs sind in der Defensive. Nicht-Historiker und
Außenseiter wurden vor einem Jahr zu Machbarkeitsstudien eingeladen: das
Institut für Konfliktforschung (Anton Pelinka) vom SP-Wissenschaftsminister
Einem, das Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung (Stefan Karner)
von VP-Unterrichtsministerin Gehrer. Die honorigen – und durchwegs um die Sache
verdienten – Professoren wurden links bzw. rechts liegen gelassen. Nebenthese:
es geht (auch) ums Geld. Während in den beauftragten Gutachten in Millionenhöhe
kalkuliert wird (Schilling 23,084.701,64 für zwei Jahre Vorarbeiten bei Pelinka
bzw. "rund Schilling 500 Millionen – exklusive Mehrwertsteuer" bis 2009 bei
Karner/Rauchensteiner), wurde praktisch gleichzeitig die Einsparung – Schließung
– von Zeitgeschichte-Instituten diskutiert.
2. These: die österreichische
Zeitgeschichte ist nicht nur parteipolitisch determiniert. Wie das ganze Land
unterliegen auch die Zeithistoriker dem Riss von 1934 ff und der dem Tabu nie
wirklich entwachsenen und mittlerweile versiegten Diskussion um den –
anhaltenden – "österreichischen Bürgerkrieg". So sind sich beispielsweise in
Österreich Nationalsozialisten und Sozialdemokraten schon allein durch die
gemeinsame Verfolgungsgeschichte 1934 bis 1938 nahegekommen und saßen nicht
selten in der gleichen Gefängniszelle. Viele der noch vor 1938 ins Exil
geflüchteten Sozialdemokraten haben diese Erfahrung internalisiert: für sie
waren die Christlich-Sozialen die ersten politischen Feinde – und nicht die
Nationalsozialisten.
3. These: in Politik und Gesellschaft
sind österreichische Geschichte im Allgemeinen und der österreichische Anteil am
Nationalsozialismus im Besonderen kaum bewusster Teil der österreichischen
Identität, auch wenn Karl Stuhlpfarrer von der Klagenfurter Zeitgeschichte ein
Bedürfnis nach Geschichte konstatiert. Anstelle des Wissens um Fakten und
Zusammenhänge sind Mythen und Verklärungen entstanden, die selbst der Diktatur
des Nationalsozialismus positive Eigenschaften zuschreiben lassen (etwa die
"Beschäftigungspolitik").
4. These: Geschichte wird nicht (nur) im
akademischen Elfenbeinturm geschrieben. Die Geschichtsforschung steht vor der
Entscheidung, ob sie sich auf methodische Diskussionen und auf Diskussionen auf
Metaebene beschränken will, quasi als Aufsichtsräte der Geschichte, was als
Arbeitsfeld durchaus ausreichend und berechtigt wäre, oder ob sie sich (auch)
auf eine erstens interdisziplinäre und zweitens nicht-akademische Ebene
einlassen will. Derzeit irrt die Zeitgeschichte auf allen drei Ebenen umher –
und wird doch nicht ernst genommen. In der letzten halben Stunde der
beobachteten Enquete sind die – zugegebenermaßen wenigen verbliebenen –
Zeithistoriker auf die Provokation der Filmemacherin Ruth Beckermann
hereingefallen, als sie – ausgehend von allen bis dahin diskutierten
inhaltsleeren Konzepten – einen möglichen Inhalt erfand und zugleich Art und Ort
festlegte: ein Museum des Antisemitismus in Wien.
5. These: Geschichte muss greifbar sein,
darin ist der auf die Bedeutung der Gedenkstätten an vormaligen Orten des
Verbrechens verweisenden Wortmeldung von DÖW-Leiter Wolfgang Neugebauer
zuzustimmen. Ausschließlich virtuell dargestellte Geschichte, wie vom Grazer
Helmut Konrad vorgeschlagen, ist wie ein Furz: intensiv, aber kurzlebig – nicht
(an)greifbar, auch beliebig, nicht in Gruppenerfahrung und nicht für alle
Generationen gleichermaßen zugänglich.
6. These: Geschichte ist dynamisch.
Gerhard Jagschitz hat recht, wenn er auf die generationsspezifische
Geschichtsschreibung hinweist. Eine monumentale Verewigung von Geschichte in
Form eines Gebäudes, das auch die architektonische Interpretation dieser
Momentaufnahme beinhaltet, widerspricht diesem Gedanken – außer es besteht von
vornherein die Absicht, alle 15, 20 Jahre ein neues Gebäude zu bauen. Wenn
monumental, dann auf alle Fälle neu: als eine demokratische Anti-These zu den
zahllosen vordemokratisch erbauten Museen und Einrichtungen in Österreich, deren
periodische physische Restauration(en) nicht ohne Rückkoppelung auf die
intellektuelle Entfaltung geblieben sind.
7. These: Geschichte kann nicht anders
als empathisch und selbstreflexiv geschrieben werden. Empathische,
anteilnehmende Geschichtsforschung hat die Frage nach den Betroffenen zu stellen
und systemische, interaktive Beziehungen zu diskutieren – das gilt sowohl für
die Opfer als auch die Täter des Nationalsozialismus. Selbstreflexion betrifft
den Historiker als handelndes Subjekt, seine eigene Familiengeschichte, seine
Weltanschauung (Partei- bzw. Lager-zugehörigkeit, und -abhängigkeit).
8. These: Geschichtswissenschafter müssen
Stellung – auch zu politischen Fragen – beziehen; die Abstinenzforderung des
Berliner Historikers Götz Aly an die HistorikerInnen in seiner Wortmeldung ist
nicht mehr als eine romantisierende Illusion. Dass die aktuelle Diskussion um
die Darstellung der österreichischen Holocaust-Geschichte bisher geführt wurde,
ohne dass auf die noch immer nicht abgeschlossene Restitution von unrechtmäßig
enteignetem Vermögen hingewiesen wurde, ist erstaunlich. Selbst in der
Resolution der akademischen HistorikerInnen, in der sie sich gegen die Art des
Zustandekommens der Machbarkeitsstudien wenden, fehlt die Forderung nach
Rückgabe allen enteigneten Vermögens und nach Entschädigung allen Unrechts (wie
etwa der Zwangsarbeit).
9. These: Identitätsstiftende Geschichte
wird vor Ort geschrieben. Staatsakte als Geschichtsdeterminanten treten in
entwickelten Demokratien ebenso in den Hintergrund wie nationale – verordnete –
Geschichtsschreibung. Gelungene Beispiele für regionale Geschichtsschreibung
sind die Projekte einiger Schulen, wie in Wien das Gymnasium in der Vereinsgasse
oder das Döblinger Gymnasium, in denen sich Lehrer und Schüler auf die Suche
nach jenen Lehrern und Schülern gemacht haben, die von den Nationalsozialisten
von der Schule vertrieben worden waren. Die Projekte mündeten jeweils in
Einladungen der Vertriebenen, Anbringung von Gedenktafeln an und in der Schule
sowie Buchpublikationen.
10. These – zugleich der
Alternativvorschlag zur Musealisierung von Geschichte: ein Museum auf Rädern,
das – von Ort zu Ort wandernd – ein Grundgerüst nationaler Geschichte zur Schau
stellt, das von bestehenden oder neuen lokalen Initiativen ergänzt wird. Eine
mobile Geschichtsschau, die lokale Geschichtsschreibung anregt, begünstigt (mit
geistigen wie finanziellen Mitteln), und nicht zuletzt sammelt und
veröffentlicht (in der Ausstellung, in Büchern und virtuell im Internet) – kurz:
ein mobiles, allgemein zugängliches, interaktives Museum. Ein "Museum auf
Rädern" ist ob der Synthese von "Anregung von Außen" und basisdemokratischer
Struktur eine Herausforderung – für die akademische Wissenschaft, für das
Establishment vor Ort (Bürgermeister, Pfarrer, Industrielle) – und ein
Störfaktor der jeweiligen ländlichen oder städtischen Gemütlichkeit. Zu den
ersten Stationen könnte etwa Rechnitz im Burgenland zählen, zu den ersten
Anregungen die Thematisierung des dortigen verdrängten Massengrabes erschossener
jüdischer Zwangsarbeiter, dann Kematen, ebenfalls im Burgenland zur
Thematisierung des Schicksal der Roma, dann die Wiener Leopoldstadt zum
Schicksal der jüdischen Bevölkerung und ihres Eigentums, das Tirolerische
Jenbach zur Aufklärung des "Freitodes" der dortigen jüdischen
Industriellenfamilie usw.
Anton Legerer, Jr. -
anton@hagalil.com
Illustrierte Neue Welt
Nr. 1/2 Jänner/Februar 2000