Juden leben mit anonymen Anrufen und
Drohungen:
Wie alltäglich ist der Anti-Semitismus?
v. Iris Brennberger und Marlies Emmerich
Isaak Behar öffnet zu Hause
niemandem, der sich nicht vorher angemeldet hat. Auch seine Telefonnummer
hat der 76-jährige Jude in den vergangenen Jahren schon zweimal
gewechselt. Andere Juden lassen sich die Gemeindezeitschrift "Jüdisches
Berlin" in einem neutralen Umschlag schicken oder holen sie persönlich
ab, erzählen die Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde. Und manche, wie die
Leiterin der Jüdischen Volkshochschule, Nicola Galliner, verschweigen
Fremden gegenüber zunächst einmal, wo sie arbeiten - "schon um lange
Diskussionen zu vermeiden", wie sie sagt. Normal findet sie das nicht -
aber ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust sei für viele Juden in
Berlin das "Unnormale normal".
Dazu gehört auch, dass viele der
12.000 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde den alltäglichen Antisemitismus
nicht hoch spielen möchten. Irene Runge, die Vorsitzende des Jüdischen
Kulturvereins, findet es beispielsweise schon positiv, dass der
Davidstern am Eingang des Kulturvereins noch nicht geschändet worden sei.
Dieser Optimismus gerät allerdings ins Wanken, wenn wieder einmal
antisemitische Vorfälle gemeldet werden. Wie im Oktober, als
Rechtsradikale auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee über 100
Grabsteine umstürzten. Oder Ende Februar, als der Jüdische Friedhof in
Potsdam geschändet wurde. Auch die Meldung, dass am Dienstag Kinder einer
Schule in Weißensee den orthodoxen Rabbiner Jitzhak Ehrenberg mit Steinen
beworfen haben, erregte Aufsehen. Am Mittwoch stellte sich dann heraus,
dass die Kinder "keine Rechtsradikalen sind", wie Rita Hermanns von der
Schulsenatsverwaltung sagte - die lern- und verhaltensgestörten Schüler
hätten nicht gewusst, wer vor ihnen stand. Zunächst hatte die Gemeinde
beim Schulsenator protestiert, den Staatsschutz eingeschaltet und Anzeige
erstattet.
An den Staatsschutz wendet sich auch Irene Runge, wenn wieder einmal
mitten in der Nacht ein Fax oder Anruf eingeht. "Solche Drohungen sind
oft völlig wirren Inhalts", sagt sie und selbstverständlich anonym. In
letzter Zeit habe es weniger davon gegeben, erzählt Irene Runge. Angst
habe sie nicht, eher findet sie die Faxe und Anrufe "lästig". Sie glaubt,
dass das Positive im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in der
Stadt überwiege. Zu Veranstaltungen des Jüdischen Kulturvereins würden
häufig nichtjüdische Besucher kommen.
Isaak Behar, Überlebender des Holocaust, dessen Eltern und zwei
Schwestern während des NS-Regimes vermutlich in Riga ermordet worden
sind, sieht die Situation besorgter: "Der Antisemitismus im
,pluralistisch-demokratischen Spektrum'" sei wieder salonfähig geworden.
Behar ist eigentlich kein ängstlicher Mensch. Er hält regelmäßig
Vorträge in Schulen, bei der Bundeswehr und der Polizei. "Aber wenn ich
alle so genannten kleinen antisemitischen Vorfälle sehe, bedrückt mich
das", sagt der 76-Jährige. Schließlich wisse er, dass solche kleinen
Vorfälle die Vorboten für Schlimmeres sein könnten.
Wie Irene Runge hat auch Behar schon Faxe von Rechtsradikalen
erhalten: "Halt's Maul, sonst stopfen wir es dir", stand darauf
beispielsweise zu lesen. Das ist nun zwei Jahre her. Trotz des
eingeschalteten Staatsschutzes fehlt bis jetzt jede Spur. Bei einer
ähnlichen schriftlichen Drohung habe die Polizei herausgefunden, dass es
sich um eine Frauenhandschrift handele. Mehr nicht.
Parallel zu antisemitischem Verhalten beobachtet Nicola Galliner
häufig auch das Gegenteil: "Philosemiten", Deutsche, die zu Juden
grundsätzlich besonders freundlich seien. Normal findet sie auch das
nicht. "Es wird lange dauern, bis sich die Beziehungen zwischen
Nichtjuden und Juden normalisiert haben", sagt Nicola Galliner.
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