Aus Furcht vor eskalierenden
Gewalttätigkeiten wurde selbst der harmlose Prophet Elijah gezwungen,
endgültig seinen Koffer mit der Aufschrift »Jesus Is My Lord« zu packen.
Jahrelang residierte der Gottesmann in einem Traveller-Hostel in der
Altstadt, wanderte tagsüber mit knorrigem Stock durch die Gassen und
predigte den vorbeiziehenden Massen. Für 1999 sagte er etwa eine große
Trockenheit voraus, als Strafe dafür, dass Israel Gottes Wort missachtet und
das dem Volke Israel verheißene Land an die Palästinenser abgetreten habe.
Unermüdlich rief er zu Buße und Einkehr auf, dann werde auch das ersehnte
Wasser - nach Hesekiel, 47 - unter dem
Tempelplatz
hervorbrechen, ein Ereignis das nach
Mitteilung
verschiedener - am Rande der 'Entrückung' balancierender Wirrköpfe bereits
begonnen habe.
Selbst die Intervention des
Sonderbeauftragten einer israelischen Menschenrechtsorganisation für
Propheten in Abschiebehaft half nicht. Dabei ist der rauschebärtige Elijah
vermutlich ein ungefährlicher Spinner, der ohne das Millennium-Problem bis
zu seinem Lebensabend durch die Gassen Jerusalems gegeistert wäre.
Im Fall von Elijah war das, was
Spezialisten das »Jerusalem-Syndrom«
nennen, zu einem Dauerzustand geworden. Leute besuchen eine der heiligen
Stätten und fühlen sich hinterher urplötzlich als Reinkarnation
irgendwelcher historischer Propheten oder Heiliger. »In der Regel tragen sie
dann weiße togaähnliche Gewänder und singen religiöse Hymnen«, so beschreibt
der im Herzog Memorial Hospital tätige Psychiater Dr. Bar-El den
pathologischen Befund. »Das vergeht in der Regel nach spätestens einer
Woche, dann ist es den Patienten meist ziemlich peinlich.«
Für härtere Fälle stehen seit langem
Spezialkliniken zur Verfügung, jede monotheistische Religion hat eine, aber
Christen treffe das Syndrom am häufigsten, so Bar-El. Sein Kollege Professor
Eliezer Witzum befürchtet, dass vor dem Millennium-Bug die Zahl der vom
Jerusalem-Syndrom Betroffenen rapide ansteigen werde, die »normalen« Fälle
seien üblicherweise aber nicht gefährlich und vergleichsweise schnell
kurierbar.
Unter
www.jerusalemsyndrome.com
haben besorgte Israelis eine eigene Homepage eingerichtet, in der über das
Millennium, die Weltreligionen und den Messianismus aufgeklärt werden soll.
Ihr Motto lautet: »We do not believe the apocalypse is imminent. Become
informed and stop the potential for violence in Jerusalem.«
Gegen Gewalt ist auch der »Chronist«,
wie er sich selber nennt. Erst bei Anbruch der Dunkelheit erscheint er auf
dem Ölberg, um von dort die Heilige Stadt zu überblicken. Schließlich ist es
in dieser Zeit angeraten, sich als Apokalyptiker nicht zu häufig in der
Öffentlichkeit sehen zu lassen, immerhin droht die Gefahr einer Ausweisung.
Der Chronist verachtet Sekten, die an Mord, Totschlag, Krieg und Selbstmord
glauben, sie hingen einer falschen Lehre an. Und dann schildert uns der
Holländer - mit Blick auf die goldene Kuppel des Felsendomes - seine Version
des kommenden Millenniums. Jesus nämlich sei gar nicht am Kreuz gestorben,
die Überlieferung sei falsch; in Wirklichkeit habe man ihn nur an einen
Schandpfahl gebunden.
Ohne zu wissen, dass er der
Auserwählte sei, habe Jesus seitdem ein ganz normales Leben als Erdenbürger
geführt. Erst jetzt, genauer: vor acht Jahren, wurde er von einer
Geheimgesellschaft in Kenntnis gesetzt, dass er der Messias sei und am 25.
Dezember in Jerusalem die Welt erlösen solle. Diese Geheimgesellschaft, als
deren »Chronist« der Mann auf dem Ölberg sich bezeichnet, bestehe aus 20 000
bis 30 000 Menschen, den »Eingeweihten«, die übers Internet miteinander
kommunizierten und die messianische Zeit der Erlösung vorbereiteten.
Überhaupt, Computer und Flugzeuge
sind Geschenke Gottes an die Menschheit, damit diese Auserwählten, die über
die ganze Welt verstreut leben, den Tag X vorbereiten können. Denn längst
hätten sie alle notwendigen Programme und Maßnahmen für eine perfekte und
gottgewollte Regierung ausgearbeitet, unter anderem sei die Einführung eines
Renten-, Gesundheits- und Sozialsystems vorbereitet worden, das alles Elend
abschaffen werde. Dies alles liegt nun vor und wartet auf den Tag seiner
Umsetzung. Zudem habe diese Gruppe den Film »Die Truman Show« in Auftrag
gegeben, in dem die Situation des Messias geschildert wird, auf den, ohne
sein Wissen, die Blicke der Welt gerichtet seien.
Der 25. Dezember, und nicht, wie
andere annehmen, der 24. Dezember, wird der Tag sein, an dem der Messias von
den Eingeweihten nach Jerusalem gebracht und öffentlich geprüft werde, um
der Menschheit zu zeigen, dass er ER sei. »Und dann?« fragen wir. »Wenn die
Menschheit sich vom Messias überzeugen lässt, dann kommt das Goldene
Zeitalter, eine ewig währende Zeit ohne Not, Kriege, Hunger, aber voller
Liebe.« Und wenn sich die Menschheit, stur und verblendet, wie sie sich die
letzten 2.000 Jahre gezeigt hat, nicht überzeugen lässt? Dann, ja, dann
geschehe nichts und alles gehe seinen gewohnten schlechten Gang weiter. Dann
könne man nichts machen, aber er hoffe, dass alles sich zum Guten wende.
Im Internet-Café allerdings scheitert
ein Versuch, Kontakt mit den Eingeweihten aufzunehmen, um ein weiteres
Interview zu führen; sie agieren ganz im Geheimen und sind mit keiner
Suchmaschine auffindbar. Stattdessen finden wir einen »Millennial Prophecy
Report«, der selbst Kommunisten nicht ohne Bewegung lässt und ebenfalls ein
ganz unblutiges Ende dieser verkommenen Welt verspricht: »The central idea
of the millennium legend is that the Earth will be transformed into what it
was in the beginning: a place of perfect harmony and justice, free from all
suffering and strife. Often this involves the return of a hero, who
established things the way they are in The First Place. Since that time,
things have gone awry, to the extent that the world is so corrupt, poisoned,
unjust, and full of suffering that it is no longer fit to live in. It must
be restored.«
Am Ort des zukünftigen Geschehens, in
den Basar-Gassen bei der Grabeskirche, geht vorerst alles seinen gewohnten
Gang. Pausenlos werden einem 3-D-Bildchen mit dem Gekreuzigten angeboten,
auf denen dieser die Augen leidvoll öffnet und wieder schließt. Von den
Händlern hier fürchtet sich niemand so richtig vor dem Jahrtausend-Wechsel.
Ja, man erwarte viele Touristen, das sei gut fürs Geschäft, und man habe
vorgesorgt, Verkaufsengpässe fürchte man nicht, die Lager seien voll. Nur
ein älterer Bazari wird weltanschaulich: »So schlimm, wie die Weltlage
momentan ist, auch der viele Verkehr und außerdem die Umweltverschmutzung -
da könnte schon allerhand passieren am Millennium.« Wundern würde es ihn
nicht. Was allerdings passieren könnte, wisse er nicht.
Schlaflose Nächte bereitet den
meisten Leuten der Jahrtausendwechsel offensichtlich nicht. Ausnahme:
Michael Dor vom israelischen Gesundheitsministerium. In der Zeitschrift
Jerusalem Report klagte er, dass er schon seit längerem an Schlaflosigkeit
leide. Und jeder hier dürfte das nachvollziehen können, denn der Mann hat
keinen leichten Job. Er ist für die Sicherheit der Christen in den Heiligen
Stätten verantwortlich. Bis zu 20.000 Gläubige werden pro Gottesdienst in
der Grabeskirche erwartet, einem Gemäuer, das schon bei 1.000 Besuchern
völlig überfüllt wirkt. Da ein großer Teil der Inneneinrichtung dieser
heiligsten Stätte des Christentums vertäfelt ist und Christen an ihren
Feiertagen eine besondere Affinität zu Kerzen haben, fürchtet Dor den
Ausbruch von Bränden.
Ein zusätzliches Problem ist der
fehlende Notausgang. Seit mindestens 500 Jahren währt ein Streit zwischen
den Konfessionen, die sich die Grabeskirche teilen, also
Griechisch-Orthodoxe, Katholiken, Armenier, Kopten und Äthiopier, über den
Bau eines Notausgangs in dem Gebäude. Bis heute konnte keine Lösung gefunden
werden und wird wohl bis zum nächsten Millennium auch nicht mehr gefunden,
sodass die Kirche lediglich einen Zugang hat, der zudem noch auf einen engen
Hof führt. Sollte ein Feuer oder eine Panik ausbrechen, »trampeln sich die
Leute da tot«, fürchtet Dor. Überhaupt sei völlig unklar, wie die Altstadt
und andere Ziele des Millenniums-Tourismus, z.B. Nazareth und Beth-Lehem,
solche Menschenmassen verkraften sollen.
Eine Zeitungskommentatorin bezweifelt
grundsätzlich, ob sich die zuständigen palästinensischen und israelischen
Behörden ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt haben. Zwar scheint in
Jesus' Geburtsort die halbe Bevölkerung ununterbrochen zu mauern, zu pinseln
und zu putzen, während Jungs, die so aussehen, als wäre vor einigen Jahren
noch die Intensivierung der Intifada ihre Hauptbeschäftigung gewesen, vor
der Geburtskiche manierlich Steinplatten verlegen. Aber schon bei der
Zufahrt nach Bethlehem hapert es.
An der israelisch-palästinensischen
»Grenze« kommen die Bauarbeiten, die offensichtlich unter dem Motto: »Unser
Checkpoint soll schöner werden« stehen, nicht so recht voran. In Ha'aretz
wurde deshalb schon der Verdacht ausgesprochen, dass die bisherige
Bauleistung der Israelis - eine einspurige staubige Behelfs-Piste, über die
sich der Verkehr momentan quält - wohl zum millenniaren Dauerzustand werde.
Da in Nazareth schon an für die Christenheit nicht weiter bedeutenden Tagen
ein unvorstellbares Verkehrschaos herrscht und man in der Regel eine halbe
Stunde Stau einrechnen sollte, um in die Innenstadt zu gelangen, ist völlig
unklar, ob und wie Hunderttausende eigentlich das Ziel ihrer Wallfahrt
erreichen wollen. Aber das sind Probleme, über die man angesichts so
heiliger Tage besser nicht nachdenkt.