Der antisemitische Komplex
Eine selbstkritische Konzeption des
Feindes: Zur Doppelgestalt von Judenhass und Araberhass
Von Etienne Balibar
Die verschiedenen Formen des Hasses haben
ihre Geschichte. Damit gilt es sich auseinander zu setzen, anstatt
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus weiterhin so zu
behandeln, als wären sie ihrem Wesen nach für immer identisch. So glaube
ich, dass es wichtig ist, einen Unterschied zu machen zwischen dem, was man
im allgemeinen als Rassismus bezeichnet, und dem Antisemitismus. Dieser hat
der rassistischen Ideologie einen neuen Zuschnitt gegeben, er wurde
innerhalb des Paradigmas der Rassenkämpfe und der rassischen Ungleichheiten
hinzugezogen. Aber er enthält zugleich einen Kern irreduzibler Bedeutung,
und das noch dort, wo er am vollständigsten säkularisiert ist.
Der Anti-Judaismus beziehungsweise der Judenhass stellt nicht mehr die
einzige Form des Antisemitismus dar, wenn das überhaupt je der Fall war. Er
ist zum einen Teil eines Begriffspaares geworden, das auf anderen Grundlagen
den semitischen Mythos des 19. Jahrhunderts neu errichtet. Dessen anderer
Teil ist der Araberhass beziehungsweise die Islamfeindlichkeit. Die
gewalttätige Abneigung, die der Nahost-Konflikt nährt und die ihn ihrerseits
nährt, indem sie Effekte einer auf Identität basierenden Polarisierung
hervorbringt, spricht nicht gegen diese Interpretation. Sie hat vielmehr den
Zweck, deren Modalitäten miteinbeziehen zu können. Dieser Antagonismus gibt
Dritten neue Mittel an die Hand, um sich ihrer Überlegenheit versichern zu
können und ihren Abscheu zu rechtfertigen. Indem ich die Dinge so darstelle,
versuche ich zugleich, Phänomene zu erfassen, die einige dazu verleitet
haben, von einem neuen Judenhass zu sprechen, und zu korrigieren, was daran
einseitig, selbstgefällig und insofern mystifizierend ist.
Zum ersten Punkt fasse ich mich kurz, auch wenn man ihn nicht vom folgenden
trennen kann (dass Judenhass und Araberhass sich gerade auf Grund ihres
Unterschiedes zusammenrechnen lassen, liegt vor allem daran, dass sie sich
zusammen vom rassistischen Paradigma absondern), und konzentriere mich auf
den zweiten, um sowohl zu erwähnen, was er erklärt, wie auch, welche
Probleme er aufwirft. Es ist bekannt, dass die umfangreiche Literatur zum
Rassismus und zum Antisemitismus fortwährend oszillierte zwischen der These
von der herausragenden Identität der zwei Phänomene (weil der Antisemitismus
als eine typische Form oder besser als Extrem des Rassismus erscheint) und
der ihrer Heterogenität (weil sich der Antisemitismus, der sich auf der
Basis einer säkularisierten Theologie entwickelt, nicht nur auf eine
lediglich phantasmatische "Rasse" mit widersprüchlichen Eigenschaften
bezieht, sondern auch eine im Wesentlichen innere Alterität als Objekt
seiner Phobie wählt, die nicht isoliert werden kann).
Über alles das kann man diskutieren. Sind wir aber sicher, dass die zwei
Möglichkeiten einander ausschließen? Was, wenn sie in der absurden
Rationalisierung des Hasses des Anderen und des Selbsthasses komplementär
werden könnten. Auf jeden Fall sollte man zu einer radikalen Historisierung
der Probleme übergehen, wobei die Frage der Worte und ihres Gebrauchs
fortwährend neu bewertet werden muss.
Der Antisemitismus hat sich im diskursiven Raum des Rassenkampfes zwischen
dem 16. und dem 20. Jahrhundert geäußert. Im Gegenzug hat er dazu
beigetragen, diesem eine eschatologische Bedeutung zu geben, wobei die
Stigmen des Ursprünglichen und die "End"-Lösungen sich verbinden. Er kann
nicht abgetrennt werden von den Umsetzungen und den fortwährenden
Auswirkungen des genealogischen Phantasmas (Rassenzuordnung des Anderen,
Rassenzuordnung des eigenen Selbst). Aber zwei tatsächliche Ereignisse, die
irreversibel und gleichwohl nicht notwendig waren, haben den Antisemitismus
im 20. Jahrhundert grundlegend verändert. Das eine ist die Vernichtung der
europäischen Juden durch die Nazis und ihre Kollaborateure, mit den
Wirkungen der verdrängten Schuld und den Wiederholungszwängen, die sie nach
sich zog. Das andere ist die Schaffung (von der man sagen könnte, dass sie
auf grundlegende Weise unabgeschlossen ist) des Staates Israel, der die
tausendjährigen Verzweigungen des "Volks der Überlebenden" versammelt und es
zumindest idealiter aus der Verfassung eines Volks ohne Vaterland
herausreißt, es aber auch tief gehend in die inneren und äußeren Juden
teilt.
Postkoloniale Gesellschaften
Es ist für unsere Vorstellungen des Rassismus grundlegend, dass diese
Ereignisse ihre Auswirkungen im Kontext einer Entkolonialisierung haben, die
ebenfalls unabgeschlossen ist oder auf vielfältige Weisen (wie im
Mittelmeerraum) konterkariert wird, die aus den Gesellschaften des Nordens
wie aus denen des Südens postkoloniale Gesellschaften macht. Der
arabisch-islamische Komplex nimmt hier offenkundig eine äußerst empfindliche
Scharnierfunktion ein. Er wird seinerseits das Ziel und die Quelle der
Diskurse, in denen es um Konflikte zwischen den dominierenden und den
dominierten Identitäten geht. Auch wenn sie der Präzisierungen und
Richtigstellungen bedarf, kann uns als Ausgangspunkt einer Analyse die
Selbstdarstellung dienen, die die Palästinenser für ihre Situation anbieten
- mal auf humoristische Weise: "Wir sind ein wenig wie die Juden, oder?"
(Elia Suleiman beim Festival in Cannes), mal auf tragische Weise, die auf
die unheilvolle Ironie der Opfer, die Täter geworden sind, verweist ("Wir
sind die Juden der Juden").
Über den singulären Fall hinaus, und das ist es, was aus der Situation der
Palästinenser einen Hort der Identifikationen und der
Solidaritätsbekundungen, aber auch der imaginären Ersetzungen und der
Stellvertreterkämpfe macht, gibt es die Verallgemeinerung des Status der
(mit Hannah Arendt gesprochen) Parias, den zahlreiche Gemeinschaften
arabisch-muslimischen Ursprungs teilen - wenn auch in unterschiedlichem
Ausmaß und in jedes Mal spezifischer Ausformung.
Aber dieses Schema der Umkehrung hat zum Nachteil, dass es die Fortdauer des
judenfeindlichen Antisemitismus im Dunklen lässt (wenn nicht gar qua Prinzip
ausschließt) und selbst dessen Erneuerung auf der Grundlage des
Nahost-Konflikts und der phantasmatischen Globalisierung, die er
hervorbringt. Diese paradoxalen Überdeterminierungen gilt es zu denken. Der
gleiche Nachteil betrifft zu einem geringeren Grad (denn er vermeidet es
sorgfältig, eine Juden-Zentrierung in eine Araber-Zentrierung umzuwandeln)
das Schema der Übertragung, das Edward Said am Ende von Der Orientalismus
skizziert, einem Werk, das auf grundlegende Weise unsere Wahrnehmung der
Kategorisierungen erneuert hat, mittels derer der Okzident sein
Selbstbewusstsein konstruiert hat, indem er die Figur des Anderen entwarf.
Mit Einschränkungen vertritt Said die These, dass der Orientale (im
Wesentlichen der arabisch-islamische) heute mit Vorliebe den Platz der
inneren, unheilvollen und sich schnell ausbreitenden Alterität besetzt, der
zuvor derjenige des Juden war. Er ermöglicht es so, die Hälfte, die in den
meisten Geschichtsschreibungen des semitischen Mythos fehlt,
wiederherzustellen und das symbolische Funktionieren der zugleich rassischen
(der Andere als Araber) wie spirituellen (der islamische Andere) Bezeichnung
zu begreifen, die befremdlicher Weise zur Parallele der doppelten Figur des
jüdischen Volkes als einer zugleich spirituellen und zeitlichen, staatlichen
und sich in der Diaspora befindenden Gemeinschaft geworden ist.
Ich denke jedoch, dass wir von einer Überlegung in Analogien zur Analyse
eines ideologischen und historischen Komplexes übergehen müssen. In diesem
singulären Komplex liegt die Neuheit und vielleicht das Ereignis. Die
diskursiven Analogien (Zirkulation der antisemitischen Stereotypen), die
empirischen Verbindungen (hoher Grad der statistischen Übereinstimmung von
Judenhass und Araberhass in der französischen Bevölkerung, wie Nonna Mayer
feststellt), die symbolischen Symmetrien (der Wettbewerb des Juden und des
Arabers um den Platz des inneren Feindes, der die Möglichkeit einer
vereinten nationalen Gemeinschaft infrage stellt) machen erst einen Sinn,
wenn man die Existenz eines Komplexes zugibt, der seine eigene Logik hat und
sich gerade aus seinen Widersprüchen nährt.
Als Basis dieses Komplexes muss man immer noch eine theologische Spur
setzen, wobei man darauf achten muss, dass man nicht das Theologische mit
dem Religiösen verwechselt. Das Theologische verschwindet keineswegs mit der
Säkularisierung unserer Gesellschaften, mit dem Niedergang der Gläubigkeit
und der religiösen Praktiken. Ebenso wenig wird es in den unterschiedlichen
Phänomenen einer Rückkehr des Religiösen wiedergeboren. Es hat noch nicht
einmal etwas mit dem zu tun, was man die Konkurrenz der drei Monotheismen
nennt, die sich auf die einzigartige Authentizität ihrer Beziehung zu Gott
berufen. Es verweist vielmehr, wie Freud es erklärt hat, auf das Element der
Intoleranz, das ein Universalismus enthält, der in den Schemata der Wahl,
der Menschwerdung und der Vorherbestimmung wurzelt. Wir sind weit davon
entfernt, dem zu entkommen, denn es ist zugleich die Sprache unserer Öffnung
zur Welt wie auch die, die es uns erlaubt, aus ihr den Sinn einer
emanzipatorischen Mission zu beziehen, deren Träger wir sein werden.
Dieses theologische Element würde jedoch keine unüberwindliche populäre und
institutionelle Feindseligkeit speisen, wenn es nicht durch sozio-politische
Bedingungen überdeterminiert wäre. Damit sich als Negativ der nationalen
Gemeinschaft die Figur der Bevölkerungsgruppen herausbildet, die als nicht
assimilierbar eingeschätzt werden und gleichwohl so in Ökonomie, Kultur und
Staatsbürgertum integriert sind, dass sie von diesen unabtrennbar
erscheinen, müssen die Diskriminierungen und die Differenzen vor dem
Hintergrund einer Krise Sinn machen, die die Unmöglichkeit oder die
Unnatürlichkeit dieser Gemeinschaft beschwört. Das war der Fall im Moment,
als sich in Europa zum Schaden der traditionellen gesellschaftlichen Ordnung
die bürgerlichen Nationalstaaten herausbildeten. Das ist wahrscheinlich der
Fall in dem Moment, wo deren Funktion und Zukunft auf brutale Weise neu
infrage gestellt werden durch die Globalisierung. Die imaginäre Gemeinschaft
wird umso mehr fetischisiert, je beschränkter und unsicherer ihre
Souveränität erscheint.
Nun kommt ein drittes, im eigentlichen Sinne phantasmatisches Element hinzu:
Das Szenario der Verschwörung. Hier knüpft der Komplex des Judenhasses und
des Araberhasses am stärksten an. Man weiß, dass die Juden unablässig als
die Anstifter eines weltweiten Unternehmens der Subversion durch das
Verbrechen und die Macht des Geldes dargestellt worden sind (das Protokoll
der Weisen von Zion, eine berühmte Fälschung, die heute immer noch in
Gebrauch ist, war davon zugleich das Symptom wie auch Instrument). Diese
Darstellung ist nicht verschwunden, aber sie hat sich durch eine
symmetrische Darstellung verdoppelt, die den Islam und die Araber betrifft,
die unter der Regie einer okkulten Macht im planetarischen Maßstab die
Öl-Reichtümer, die fundamentalistische Missionierung und den Terrorismus
(Dschihad) manipulierten und deren Ziel über die Juden hinaus das Herz der
freien Welt sei.
In beiden Fällen gibt es Tatsachen: Der Einfluss der zionistischen Lobby in
den USA, die Unternehmungen der Al Qaida oder dessen, was man sich unter
diesem Namen vorstellt . . . Aber das Verschwörungs-Phantasma geht über
diese Elemente hinaus und führt sie auf einen Kern in einem unsichtbaren und
monströsen Ding zurück, von dem, wie man annimmt, die jüdischen oder
arabischen Völker nur die Instrumente oder Agenten sind.
Moralische Fallen
Judenhass und Araberhass dergestalt im selben antisemitischen Komplex zu
umfassen, beinhaltet ohne Zweifel intellektuelle und moralische Fallen. Ich
bin mir dessen bewusst. Diese Hypothese erscheint mir indessen als die
einzige, die in der Lage ist, die Kristallisierung der Vorurteile in der
aktuellen Situation zu erklären, besonders in Europa. Sie bezeichnet eine
furchtbare Maschine der geistigen Gefangennahme, der zu widerstehen umso
lebenswichtiger ist, als sie in der Lage ist, die bestehenden Fronten des
Antirassismus zu verändern (Le Pen hat, wie man weiß, keine Schwierigkeit
damit, sich als Bewunderer von Saddam Hussein und Ariel Scharon zu
bezeichnen). Und, was noch schwerer wiegt, sie ist in der Lage, im tiefsten
Inneren eines jeden von uns das Gefühl der Gerechtigkeit und der Solidarität
auszubeuten, das zum Engagement für Fälle führt, in denen die historischen
Rollen der Opfer und der Täter sich vertauschen oder sich verkehren. Hannah
Arendt forderte deshalb zu Recht, dass sich der Antirassismus auf eine
aktive, sich verändernde, selbstkritische Konzeption des Feindes stützen
müsse, den er bekämpft, statt bei der Denunziation des Übels und bei der
Identifikation mit den Verfolgten stehen zu bleiben. Dies ist heute, in der
Stunde der Gefahr, unsere Aufgabe.
Aus dem Französischen von Nikolaus
Müller-Schöll.
Der Text des französischen Philosophen Etienne Balibar ist die
Zusammenfassung eines Vortrags, den er am Collège International de
Philosophie zum Thema "Die Philosophie im Angesicht des Risikos des
Rassismus" Ende Mai gehalten hat.
Erstveröffentlichung (d)
http://www.fr-aktuell.de
Copyright ©
Frankfurter Rundschau 2002, Erscheinungsdatum 25.06.2002
hagalil.com
25-06-2002
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