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Antisemitismus im Katholizismus:
Moral und Geschichte

Hierzulande scheint es besonders schwer zu sein, offen über moralische Fragen von Schuld und Sühne zu sprechen. Das zeigen die jüngsten Reaktionen auf Daniel Jonah Goldhagens Buch über die Verstrickung der katholischen Kirche in die Verbrechen des Holocaust und die Problematik einer moralischen Wiedergutmachung.

Vor etwa drei Jahren bat Martin Peretz, Herausgeber der amerikanischen Zeitschrift The New Republic, Daniel Goldhagen um eine ausführliche Besprechung einiger Neuerscheinungen zu Papst Pius XII. Die Arbeit nahm überraschende Ausmaße an und führte Goldhagen, wie er selbst zu Beginn seines Buches erklärt "in eine gänzliche unerwartete Richtung (...), die nicht nur einen längeren Artikel erforderte, sondern auch eine Untersuchung und Abhandlung in Buchlänge, um unsere Frage zu beantworten: Was muss eine Religion der Liebe und Güte tun, um sich ihrer von Hass und Unrecht geprägten Vergangenheit zu stellen und Wiedergutmachung zu leisten?" (S.47)
Der Artikel erschien zunächst in The New Republic vom 21. Januar 2002, das entsprechende Buch, Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, kam in Deutschland am 27. September dieses Jahres in den Handel – oder auch nicht, doch davon später. Als Daniel Goldhagen im Oktober nach Deutschland kam, um sein Buch vorzustellen, stand er sogleich im Zentrum erhitzter Debatten, denn es ging um weit mehr als nur die katholische Kirche. Es ging um so moralisch belastete Begriffe wie Schuld und Sühne, und mit Moral, gar moralischen Urteilen, tun wir uns schwer in der heutigen Zeit, vor allem in Deutschland: "Ein Politikwissenschaftler, ein Historiker, der Moral treibt, der sich hier als Sittenwächter aufspielt, verfehlt sein Fach. Das würde in Deutschland nicht möglich sein." So der Kirchenhistoriker Georg Denzler in einer vom Südwestdeutschen Fernsehen am 10. Oktober übertragenen Podiumsdiskussion mit Goldhagen. Die Historiker, zumal Kirchenhistoriker, hadern wieder einmal gewaltig mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler. Goldhagen, so der Generalvorwurf, habe keine Primärquellen studiert, habe aus zweiter Hand und fehlerhaft zitiert, seine Aussagen seien erstens nicht neu und zweitens vom aktuellen Forschungsstand längst überholt (kurioserweise wird in diesem Zusammenhang von kaum einem Kritiker etwas aktuelleres angeführt als Rolf Hochhuths vor fast 40 Jahren uraufgeführtes Theaterstück "Der Stellvertreter"). Das Buch sei ein Pamphlet, eine Katastrophe und voller Fehler.
Manche dieser Äußerungen erinnern an die Debatten über Goldhagens vor sechs Jahren erschienenes Buch Hitlers willige Vollstrecker. Welche Einwände auch immer gegen Goldhagens Thesen bestanden oder bestehen mögen, Stil und Vehemenz der Abwehr irritieren.

Im Vorwort zu Hitlers willige Vollstrecker schrieb Goldhagen: "Ich möchte mit meiner Beweisführung und Interpretation der Quellen deutlich machen, warum und wie der Holocaust geschah, ja warum er überhaupt möglich werden konnte. Es geht mir dabei um historische Erklärung, nicht um moralische Beurteilung."
Dennoch, so Goldhagen in der Einführung seines aktuellen Buchs: "Hitlers willige Vollstrecker hatte ungewollt einen moralischen Aufruhr ausgelöst und war ständig von einem moralischen Subtext umgeben, der die ausgiebige schriftliche und mündliche Diskussion teilweise entgleisen ließ. (...) Dies alles machte zwar unausgesprochen, aber doch nachdrücklich die bislang weithin gemiedene Frage unausweichlich: Wer ist schuldig in welchem Sinne und wofür?
(...) Sollte Hitlers willige Vollstrecker dazu beitragen, die Umrisse und Ursachen des Holocaust zu erklären und vor allem die Menschen wieder als Akteure dabei zu begreifen, so soll dieses Buch helfen, die moralische Schuld zu klären, die Akteure zu beurteilen und darüber nachzudenken, wie sie das von ihnen begangene Unrecht am besten sühnen können." (S. 11ff)

Mit dieser moralischen Überprüfung der Institution Kirche, speziell der katholischen Kirche, sowie ihrer Vertreter und deren Handlungen angesichts der Judenverfolgung, will Goldhagen keine historische Gesamtdarstellung liefern, sondern vielmehr über den exemplarischen Fall hinaus allgemeingültige Lösungsvorschläge und Denkmodelle für aktuelle und zukünftige Auseinandersetzungen über Verantwortung und Wiedergutmachung entwickeln.

Es beginnt mit der Frage, wie das Verhalten Eugenio Pacellis, des späteren Papst Pius XII. vor und während der NS-Zeit zu verstehen ist. Da Pius XII. zwar ein wichtiger, aber eben doch nur ein kleiner Teil der Institution Kirche ist, dehnt Goldhagen seine Analyse auch auf Papst Pius XI. sowie die nationalen Kirchen, Bischöfe und Priester aus und kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: "Der Antisemitismus war ein fester Bestandteil der katholischen Kirche" (S. 54). Die Belege, die Goldhagen für diese Aussage anführt, stammen zum größten Teil aus eben jenen Büchern, die er für The New Republic besprochen hatte, und auch ein großer Teil seiner Rezension selbst hat in diesen ersten Teil seines Buches Eingang gefunden. Goldhagen macht daraus durchaus kein Geheimnis, sondern verweist absolut korrekt auf den Ursprung seiner Arbeit ebenso wie auf die Quellen – primäre wie sekundäre. Der gelegentlich unterschwellig anklingende Vorwurf, er habe sich quasi unrechtmäßig die Arbeit anderer Wissenschaftler angeeignet, ist ebenso abwegig, wie der Hinweis darauf, dass er nur altbekanntes wiederhole, denn den Anspruch mit diesem Buch als erster unbekannte Fakten ans Tageslicht befördert zu haben, erhebt Goldhagen gar nicht. Ob diese Fakten allerdings einer breiteren Öffentlichkeit außerhalb der akademischen Zirkel bekannt sind, ist zu bezweifeln.

In jedem Fall birgt Goldhagens Art der Beweisführung aus zweiter Hand gewisse Risiken, die der Kritik eine breite Angriffsfläche bieten. Ein Beispiel, das bereits häufiger zur Sprache kam, ist ein vertraulicher Brief, den Pacelli im April 1919 während eines Aufenthaltes in München schrieb. Für Goldhagen ist dieses Schreiben ein Beweis für die antisemitische Einstellung Pacellis, denn es enthält eine Beschreibung russischer Revolutionäre, in der nicht nur "irgendeine Bemerkung" fällt, sondern die "vielmehr einem Trommelfeuer von antisemitischen Stereotypen und Vorwürfen gleicht" (S.63). Goldhagen zitiert diesen Brief nach John Cornwell und dessen Buch: Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat, und das war wohl ein Fehler.
In der erwähnten Diskussionsrunde des Südwestdeutschen Fernsehens führte der Münchner Historiker Thomas Brechenmacher aus, dass sowohl Cornwell als auch Goldhagen auf eine falsche Übersetzung zurückgegriffen hätten. Brechenbachers korrigierende Wiedergabe vereinzelter Formulierungen aus einem längeren Schreiben kann zwar auch nicht jeden Zweifel ausräumen, was den übrigen Inhalt des Briefes angeht, doch ist eines nicht von der Hand zu weisen: Eine moralische Prüfung und erst recht ein moralisches Urteil erfordern zu allererst eine sorgfältige Beweisführung. Indem Goldhagen sich überwiegend auf die Beschreibungen anderer verlässt, deren subjektive Einschätzungen oder Fehleinschätzungen übernimmt, zusätzliche möglicherweise erklärende Faktoren nicht selbst auslotet, bietet er seinen Kritikern eine höchst willkommene Gelegenheit, die dringend nötige Diskussion über die Beteiligung der Kirchen an der Shoah in einen Buchstabierwettbewerb zu verwandeln. Eine Gelegenheit, die, wie es scheint, umso leidenschaftlicher genutzt wird, als man dadurch der eigentlichen Problematik, die Goldhagen in seinem Buch zu Recht formuliert, elegant aus dem Weg gehen kann.
Trotz mancher Fehler im Detail hat allerdings kein Kritiker ernsthaft behauptet, dass das Gesamtbild, das Goldhagen von der Kirche, insbesondere von den katholischen Kirchen, während der NS-Zeit zeichnet, völlig unzutreffend sei. Selbst innerhalb der katholischen Kirche hört man seit geraumer Zeit das vage Eingeständnis einer Mitschuld an der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Vage insofern, als die offiziellen Erklärungen der Kirche, in ihrer Wortwahl erstaunlich weich ausfallen, verglichen mit den sehr viel pointierteren Verlautbarungen zu Themen wie Biotechnologie oder Abtreibung. Im pontifikalen Schuldbekenntnis und der damit verbundenen Vergebungsbitte vom März 2000 hieß es:
"Gott unserer Väter,
du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt,
deinen Namen zu den Völkern zu tragen:
Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller,
die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen.
Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen,
dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes."

"Leiden lassen" ist eine bemerkenswert unpräzise Umschreibung für Verfolgung und Massenmord. Fast genau zwei Jahre zuvor, im März 1998 wurde in einer Erklärung der Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden "Wir Erinnern. Eine Reflexion über die Shoah" zwar vorsichtig eingeräumt, dass die nationalsozialistische Verfolgung der Juden "durch die antijüdischen Vorurteile in den Köpfen und Herzen einiger Christen begünstigt wurde" und dass "vielleicht das antijüdische Ressentiment die Christen weniger sensibel oder sogar gleichgültig" machte gegenüber dem Schicksal der Juden, doch zugleich steht für diese Kommission fest:
"Die Shoah war das Werk eines typischen modernen neuheidnischen Regimes. Sein Antisemitismus hatte seine Wurzeln außerhalb des Christentums (...)"

"Antijudaismus" und Antisemitismus

Diese strikte Unterscheidung zwischen 'antijüdischen Ressentiments', oder Antijudaismus, wie die Vertreter der Kirche es nennen, und 'modernem neuheidnischen Antisemitismus' läßt Goldhagen nicht gelten und verweist unter anderem auf diverse Ausgaben der Jesuiten Zeitung Civiltà cattolica, die, gegründet 1850, gewissermaßen als das Sprachrohr des heiligen Stuhls galt. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber auch unmittelbar vor und nach Hitlers Machtergreifung finden sich in dieser Publikation antisemitische Formulierungen, die von denen eines Julius Streicher in seinem Hetzblatt Der Stürmer kaum zu unterscheiden sind, wie einige Artikel belegen, die Goldhagen in Auszügen zitiert:
"1922 hieß es zum Beispiel: 'Die Welt ist krank [...] Überall werden Völker von unerklärlichen Krämpfen geschüttelt [...]' Wer ist daran schuld? 'Die Synagoge.' 'Jüdische Eindringlinge' steckten hinter Russland und der Kommunistischen Internationale, der größten Gefahr für die Weltordnung. 1936 – die Nürnberger Gesetze waren erlassen, und die Juden in Deutschland standen seit Jahren unter Beschuss – griff Civiltà cattolica auf gängige antisemitische Floskeln der NS-Propaganda zurück und warf den Juden vor, sie seien 'einzig und allein mit den Eigenschaften von Parasiten und Zerstörern versehen' und zögen im Kapitalismus wie im Kommunismus die Fäden, um durch einen Zangengriff die Weltherrschaft an sich zu reißen. 1938 erinnerte sie an 'die anhaltenden Verfolgungen der Christen, insbesondere der katholischen Kirche, durch die Juden und an ihre Allianz mit den Freimaurern, den Sozialisten und anderen antichristlichen Parteien.' (...)
Außerdem schlug sie eine noch extremere Lösung der vermeintlichen Judenfrage vor, in eigenen Worten: 'drastisch feindselig' durch 'Vernichtung' " (S. 111f)

Selbst wenn man unterstellt, diese Artikel seien extreme Ausnahmen, fällt es schwer dem Kirchenhistoriker Georg Denzler zu folgen, der es Goldhagen wiederholt als "Kardinalfehler" ankreidete, nicht zwischen kirchlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus unterschieden zu haben, weil der Antisemitismus, so Denzler wörtlich "bei der Kirche nie als Lehre vertreten ist. Sie müssen mir ein Dokument bringen, wo ein Papst oder ein Konzil die Aufforderung erhebt: 'Schlagt die Juden tot! Wir freuen uns, wenn Ihr die Juden totschlagt.' (...) und da sehe ich den Grundfehler des Buches, dass man hier nicht differenziert, dass man die Judenfeindschaft gleich mit Judenvernichtung identifiziert."
Diese Aussagen verdienen Aufmerksamkeit in zweifacher Hinsicht:
Erstens: Goldhagen lehnt zwar Begriffe wie "traditionelle Judenfeindschaft" oder "Antijudaismus" als verschleiernd bzw. als Selbstentlastungsversuch der Kirchen ab, doch eine Gleichsetzung des kirchlichen Antisemitismus mit Judenvernichtung, wie Denzler sie unterstellt, vollzieht er keineswegs:
"Der allgemeine Ausdruck 'eliminatorisch' sollte daher (...) nicht Töten bedeuten, sondern den Wunsch oder das Bestreben ausdrücken, ein Gebiet auf diese oder jene Weise von Juden und ihrem wirklichen oder eingebildeten Einfluss frei zu machen (...).
Der Antisemitismus, den die Kirche unausgesprochen oder gar offen verbreitet hatte, verlangte, die Juden aus der christlichen Gesellschaft zu eliminieren, beispielsweise durch Zwangstaufe oder Ausweisung, doch ihre massenhafte Ermordung forderten die Kirche und ihre Bischöfe nie, und oft ermahnten sie ihre Gläubigen, keine Gewalttaten zu begehen." (S. 38, Hervorhebung im Original)
An anderer Stelle heißt es: "Bedeuten die Bemerkungen Pius' XII., dass der Charakter seines Antisemitismus derselbe war wie der Hitlers? Natürlich nicht. Es gibt viele Spielarten des Antisemitismus, und sie unterscheiden sich erheblich, was ihre Grundlagen, die Natur der gegen Juden erhobenen Vorwürfe und die Intensität angeht. Bedeutet der Antisemitismus Pius' XII., dass er notwendigerweise jeden Aspekt der Verfolgung der Juden durch die Deutschen billigte? Natürlich nicht." (S. 66)

Zweitens: Die Erklärung, die Kirche habe nie verlangt "Schlagt die Juden tot!" erinnert frappierend an jene zumal im Nachkriegs-Deutschland weit verbreitete Beschwörung "Das haben wir nicht gewollt!" - besonders oft zu hören, nachdem gewöhnliche Deutsche, was auch immer sie zuvor gewußt oder geahnt haben mochten, durch die sogenannten Wochenschauen im Kino oder, auf Druck der Alliierten Besatzung, durch eigene Anschauung gezwungen wurden, das wahre Ausmaß der Verbrechen an den Juden zur Kenntnis zu nehmen.
"Das haben wir nicht gewollt!" - Die Betonung lag fast immer auf dem ersten Wort. - Die Juden totschlagen, Männer, Frauen und Kinder auf so bestialische Art und Weise ermorden, das hat man also nicht gewollt, aber was heißt das schon? Über der Monstrosität des Massenmords in den Vernichtungslagern, dieser tödlichen Endstufe des eliminatorischen Antisemitismus, werden seine alltäglichen Vorläufer gerne bagatellisiert, als hätte die seit 1933 immer weiter fortschreitende publizistische, berufliche und soziale Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft und nicht zuletzt die stillschweigende Billigung wenn nicht gar Unterstützung dieser Maßnahmen durch die Mehrheit der Deutschen, nichts oder doch nur wenig mit den ultimativen Verbrechen des Holocaust zu tun.
Wer wollte das heute noch ernsthaft behaupten? Goldhagen jedenfalls nicht und mit dieser Haltung steht er keineswegs allein. Namentlich genannt seien an dieser Stelle zum Beispiel der Historiker Olaf Blaschke und der Theologe Stefan Moritz. Wie Goldhagen verwies auch Blaschke 1997 in einer brillanten und auf breiter Quellengrundlage basierenden Gesamtdarstellung über Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich auf die apologetische Absicht hinter der Trennung von Antijudaismus und Antisemitismus: "(...) man verschleierte, Antisemit zu sein, während man es doch war." (Blaschke: S. 31)
Goldhagens Einschätzung, " (...) dass der Antisemitismus für die kirchliche Lehre und Theologie ebenso wie für ihre geschichtliche Entwicklung insgesamt zentral war" (S. 253), würde Blaschke nach seiner Untersuchung zwar nicht unterstützen, auch spricht er sich gegen die Kontinuitätsbehauptung eines isolierten 'Auslöschungsantisemitismus' losgelöst vom Kontext des katholischen Diskurses und seiner Motive aus, doch der Schlußsatz seiner Studie läßt aufhorchen:
"Und gegen die aufrichtigen Selbstbezichtiger, die auf die 'Mitschuld' der Christen hinweisen, weil sie gegen ihre Maxime, etwa die Nächstenliebe verstoßen hätten und die Juden aufgrund eines Defizites an christlicher Gesinnung verachtet hätten, steht zuletzt das Resumee: Die Katholiken teilten stabile und auch moderne antisemitische Einstellungen, nicht obwohl sie Christen waren, auch nicht weil sie sich als bloß charakterlose Christen oder als schlechte Katholiken erwiesen. Vielmehr waren Katholiken antisemitisch, gerade weil sie gute Katholiken sein wollten." (Blaschke: S. 337)

Ebenfalls im Herbst 2002 erschien das Buch des Österreichers Stefan Moritz mit dem Titel Grüß Gott und Heil Hitler. Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich. Moritz hat in verschiedenen Staats- und Diözesanarchiven zahlreiche Primärquellen ausgewertet, darunter Hirtenbriefe, Pfarr- und Gemeindeblätter sowie viele weitere offizielle katholische Kirchenpublikationen und er kommt zu dem Ergebnis, dass die katholische Kirche Österreichs sich nach dem sogenannten Wiederanschluss nicht nur notgedrungen irgendwie mit den Nationalsozialisten arrangierte, sondern dieses neue Regime in vielen Fällen durchaus freiwillig unterstützte. Genau wie Goldhagen und Blaschke erkennt auch Moritz in der künstlichen Abgrenzung von Antijudaismus gegen Antisemitismus die Tendenz zur Verharmlosung. Er plädiert für den Begriff des 'katholischen Antisemitismus' und belegt anhand zahlreicher Beispiele dessen untrennbare Verknüpfung mit der modernen Rassenideologie der Nazis, so im Fall des Pfarrers Franz Hlawaty und seiner Gemeinde in Erdberg im Sommer 1938:
"(...) tausende Menschen waren durch die Einführung der Rassengesetze gezwungen, in der Pfarre den Nachweis ihrer Herkunft zu erkunden. Der 'Ariernachweis' war ein lebensnotwendiges Dokument. Für Pfarrer Franz Hlawaty war die 'Mithilfe an der Familienforschung' nicht bloß eine lästige Pflicht oder ein bürokratischer Aufwand, sondern in erster Linie eine wichtige 'Seelsorgearbeit', die dem 'großen Werk des blut- und artgemäßen Aufbaues' der 'Volksgemeinschaft' diente. (...)
Wohl wissend, dass es für die Betroffenen um Leben oder Tod ging, behielt die Kirche diese Praxis auch in den Kriegsjahren bei. Im September 1939 schloss das Erzbischöfliche Ordinariat Wien eine Vereinbarung mit der 'Arbeitsgemeinschaft für Sippenforschung und Sippenpflege' ab. (...) Die Präambel zu dieser Vereinbarung erläuterte den Sinn dieses Vorhabens: 'In der Erkenntnis, dass eine planmäßige Bearbeitung der Kirchenbücher durch Verkartung und Auswertung ihrer Eintragungen den Bluts und Sippengedanken im Deutschen Volke wieder belebt und stärkt und zur Schonung und Erhaltung der Kirchenbücher beiträgt ...' "(Moritz: S. 200; der Autor zitiert nach Ausgaben des Erdberger Pfarrblatts und des Wiener Diözesanblatts aus den Jahren 1938 und 1939)

Die moralische Schuld

Obwohl Stefan Moritz' fundierte Untersuchung der österreichischen katholischen Kirche eine Menge Zündstoff für Debatten – auch in Deutschland – enthält, werden Buch und Autor bis jetzt bei weitem nicht so heftig attackiert wie Daniel Goldhagen. Das ist leicht zu verstehen, denn während Moritz moralische Fragen nach Schuld und Wiedergutmachung in seiner Darstellung weitgehend ausklammert, geht Goldhagen den entscheidenden Schritt weiter. Er holt die Moral aus ihrem gewohnten Versteck zwischen den Zeilen heraus und nennt Schuld und Schuldige beim Namen. In klarer unmissverständlicher Sprache beschreibt er das moralische Versagen einer großen Mehrheit der Kirchenvertreter und ebenso deutlich fällt auch sein Urteil aus:
"Mit Sicherheit können wir sagen, dass eine beträchtliche Zahl von Bischöfen und Priestern willentlich zur Vernichtung der Juden beigetragen hat. Mit Sicherheit können wir ebenfalls sagen, dass der niederschmetternde Mangel an Mitleid mit den Juden, den der Papst und der Klerus bekundeten, ihre Beihilfe zu wichtigen verbrecherischen Akten, ihre Unterstützung für viele weitere Taten und die Tragweite ihrer politischen Verantwortung und Schuld die katholische Kirche eindeutig in die Verbrechen verwickeln, die von Deutschen, Kroaten, Litauern, Slowaken und anderen an den Juden begangen wurden." (S. 221)

Keine Frage, Goldhagens Sprache musste auf den Blätterwald der neblig formulierten Publikationen katholischer Provenienz wie ein Herbststurm wirken. Entsprechend verschnupft reagierten denn auch folgerichtig und lautstark die Vertreter der Kirchen. Immer wieder wird hervorgehoben, wie sehr sie selbst Opfer nationalsozialistischer Verfolgung waren, wie viele Priester von der Gestapo verhaftet worden seien, und selten fehlt der Hinweis auf vereinzelte Lichtgestalten wie jenen Berliner Domprobst Bernhard Lichtenberg, der, nachdem er in seiner Kirche für Juden gebetet hatte, 1941 nach Dachau geschickt wurde, wo er unter ungeklärten Umständen umkam.
Muss hier wirklich noch einmal betont werden, dass Goldhagen keinen Kollektivschuld-Vorwurf gegen alle Katholiken erhebt?
Unbestritten waren die Nazis auch der Kirche gegenüber extrem feindlich eingestellt, doch erstens kann diese Bedrohung wohl kaum auf eine Stufe gestellt werden mit der weitaus tödlicheren Gefahr, in der sich die Juden befanden und zweitens galt gerade für letztere in dieser Zeit mehr denn je die alte Binsenweisheit: Der Feind meines Feindes ist nicht notwendigerweise mein Freund.
Wie groß auch immer die Bedrängnis der katholischen Kirche unter der Nazi-Diktatur gewesen sein mag, sie führte nicht zu einer Solidarisierung mit den Juden oder auch nur zu einem verstärkten Engagement für jüdische Mitbürger, geschweige denn zu einem offenen Protest gegen ihre Verfolgung. Wie Moritz' und Goldhagens Untersuchungen belegen, trat in vielen Fällen eher das Gegenteil ein. Die lobenswerten Ausnahmen, jene christlichen Helfer der verfolgten Juden, die Goldhagen sehr wohl und mit größter Anerkennung erwähnt, handelten fast ausnahmslos auf eigene Initiative und ohne jeglichen Rückhalt in ihrer Kirche.

Die moralische Wiedergutmachung

Vielleicht wäre der Aufschrei der kirchlichen Kritiker etwas leiser ausgefallen, hätte Goldhagen über den Schuldspruch hinaus nicht auch noch verschiedene Formen der Wiedergutmachung diskutiert und dies ausgerechnet unter Anwendung der moralischen Grundsätze, die die katholische Kirche selbst in ihrem Katechismus formuliert:
"Viele Sünden fügen dem Nächsten Schaden zu. Man muss diesen, soweit möglich, wieder gutmachen (zum Beispiel Gestohlenes zurückgeben, den Ruf dessen, den man verleumdet hat, wiederherstellen, für Beleidigungen Genugtuung leisten). Allein schon die Gerechtigkeit verlangt dies."
(Katechismus der katholischen Kirche, Teil II, Abschnitt 2, Kapitel 2, Artikel 4.7, § 1459; siehe auch
www.vatican.va, wo der vollständige Text des Katechismus in englisch, italienisch, lateinisch und spanisch nachzulesen ist)

Für Goldhagen ist jegliche Wiedergutmachung "eine moralische, weil man mit diesem Wort die Verpflichtung benennt, einen moralischen Schaden zu beheben" (S. 283) Dazu gehört neben einer materiellen vor allem eine politische und eben jene rein moralische Wiedergutmachung, die für die katholische Kirche darin bestehen müßte, sich aufrichtig zu ihrer Vergangenheit zu bekennen, sie ehrlich zu bereuen, den Antisemitismus als Ursache des Übels auszumerzen und dafür zu sorgen dass die Institution Kirche "nie wieder Anlass zur Verfolgung von Juden geben wird." (S. 296)

Die von der Kirche ausdrücklich formulierte Pflicht, das "muss" einer Wiedergutmachung wird heute in der Regel von niemandem mehr bestritten, nur über Ausmaß und Durchführung der Sühne gehen die Meinungen auseinander und dies wohl am weitesten, was die rein moralische Wiedergutmachung angeht, die Goldhagen hier diskutiert.
Voller Empörung wirft man ihm vor, dass er die vielen positiven Entwicklungen, nicht zuletzt nach dem zweiten vatikanischen Konzil von 1962, hartnäckig ignoriere. Dazu ist zu sagen: Goldhagen ignoriert diese Veränderungen nicht (siehe S. 296 ff und 352f), doch er bezeichnet sie mehrheitlich als unzureichend. Das ist erstens nicht dasselbe und entspricht zweitens einer Einschätzung, die auch von einigen Katholiken geteilt wird (siehe
www.jcrelations.net). Nach wie vor hält der Vatikan in seinen Archiven eine Fülle von Akten unter Verschluss. Nicht einmal jene katholisch-jüdische Historikerkommission, die eigens vom Vatikan eingesetzt worden war, um dessen Rolle während der Nazi-Zeit zu untersuchen, erhielt uneingeschränkten Zugang zu allen Dokumenten. Angeblich, so heißt es, wolle oder müsse man die Persönlichkeitsrechte noch Lebender schützen. Denkt innerhalb dieser Kirche auch jemand an die Persönlichkeitsrechte der immer kleiner werdenden Zahl der Überlebenden, an ihr Recht, die Wahrheit zu erfahren?
Wie leichtfertig selbst hohe Kirchenvertreter gelegentlich ihre Vergangenheit schönreden, belegen auch die jüngsten Äußerungen Kardinal Lehmanns, der in einem Interview mit der Illustrierten Stern ohne weitere Nachprüfung oder Beweise erklärte, dass "von den etwa 900.000 Juden, die im deutschen Machtbereich überlebt haben, 70 bis 80 Prozent ihre Rettung den verschiedenen päpstlichen Maßnahmen und dem Einsatz der Nuntien verdanken." (Stern Nr. 40 v. 26.09.2002) Dieser Behauptung haben einige Historiker, darunter Raul Hilberg, David Bankier und Sergio Minerbi (der selbst als Kind in einem katholischen Kloster in Rom versteckt wurde und überlebte) prompt und heftig widersprochen. Die Zahlen seien massiv überzogen und nicht zu belegen.
Goldhagen liefert noch eine Reihe anderer Beispiele für die fortbestehende Tendenz der katholischen Kirche, sich durch verschleiernde Formulierungen oder die Überbewertung der eigenen Opferrolle zu entlasten, statt sich ihrer Vergangenheit mit der gebotenen Aufrichtigkeit und Reue zu stellen.
Alleine was diese zuletztgenannten Aspekte moralischer Wiedergutmachung angeht, hätte die Kirche noch einen weiten Weg vor sich, doch um den Antisemitismus auszumerzen und zu gewährleisten, dass die Kirche nie wieder Anlass zu einer Verfolgung der Juden bietet, müsse sie, laut Goldhagen, sowohl ihre religiösen Schriften als auch ihr theologisches Selbstverständnis und ihre politisch-institutionelle Struktur einer kritischen Revision unterziehen.
In der Phantasie einiger Kritiker mutierte Goldhagen damit endgültig zum Katholikenfresser. Entsprechend irrational fielen denn auch manche Kommentare aus, wonach Goldhagen angeblich verlange, die Bibel umzuschreiben, den Vatikan aufzulösen und alles aufzugeben, was den katholischen Glauben ausmache. Den peinlichen Höhepunkt dieser künstlichen Hysterie lieferte Prof. Hans Maier, ehemaliger bayerischer Kultusminister, der bei einer Podiumsdiskussion in München allen Ernstes fragte. "Müssen wir jetzt alle Juden werden?"
Das geht nun allerdings so weit an Goldhagens Aussagen vorbei, dass man sich fragt, ob von der jüngst diagnostizierten Leseschwäche unter deutschen Schulkindern nicht noch ganz andere Altersgruppen betroffen sind.
Nicht die Abschaffung der katholischen Kirche oder Lehre wird verlangt, sondern Reformen. Nicht die Aufgabe des katholischen Glaubens wird gefordert, sondern seine Erweiterung in der Toleranz gegenüber anderen Religionen. Und was die Bibel angeht, sagt Goldhagen: "Um nicht missverstanden zu werden: Ich sage nicht, dass die katholische Kirche ihre Bibel verändern muss." (S. 363)

Das Bibelproblem

Goldhagen ist keineswegs so naiv, dass er sich anmaßt einen annähernd 2000 Jahre alten heiligen Text mal eben korrigieren zu können wie einen schlechten Schulaufsatz, doch er verweist zu Recht auf ein nach wie vor bestehendes Problem: Es gibt im Neuen Testament eine Vielzahl explizit antisemitischer Passagen und Formulierungen, die dem christlichen Europa über Jahrhunderte den Vorwand geliefert haben, Juden als Gottesmörder, Schlangenbrut oder Kinder des Satans zu stigmatisieren, auszugrenzen, zu verfolgen und zu ermorden. Auch heute noch sind diese Begrifflichkeiten geeignet, Argwohn und Vorurteile gegenüber Juden zu fördern (Wer das nicht glauben will, den könnte eine Recherche auf rechtsextremistischen Internetseiten schnell eines besseren belehren).
Die aus der katholischen Lehre selbst ableitbaren Forderungen bezüglich moralischer Wiedergutmachung (den Ruf dessen, den man verleumdet hat, wiederherstellen, für Beleidigungen Genugtuung leisten) besagen, "dass man es nicht zulassen darf, dass das Übel des Antisemitismus, zu dem unbedingt auch der in der christlichen Bibel enthaltene und sie beseelende Antisemitismus zu zählen ist, im Herzen eines Menschen Wurzeln schlägt. Doch die christliche Bibel ist ein heiliger Text, in den man, da er Gottes Wort ist, nach Überzeugung von Katholiken und anderen Christen nicht eingreifen darf. Was soll man tun? Was kann man tun?" (S. 355)
Goldhagen diskutiert verschiedene Lösungsmöglichkeiten von einer Neu-Kommentierung bis zu einer konsequenten Entfernung aller explizit antisemitischen Formulierungen und Passagen des Neuen Testaments. So radikal und verstörend vor allem letztgenannte Überlegung klingen mag, Goldhagen ist nicht so anmaßend zu behaupten, er habe die Lösung bereits gefunden. Vielmehr erklärt er:
"Bei unseren Überlegungen müssen (...) drei Dinge bedacht werden: (1) Es gibt keine offenkundige und einfache Lösung für dieses Problem; (2) sich den problematischen Aspekten der christlichen Bibel zuzuwenden, ist nicht einmal ausschließlich Sache der katholischen Kirche, weil der Text auch von anderen christlichen Kirchen und Christen für heilig erachtet wird; und (3) die Lösung muss, jedenfalls für Katholiken, am Ende aus dem Inneren der Kirche selbst kommen." (S. 364)

Was Goldhagen hier nahe legt, ist eine Art erweitertes vatikanisches Konzil unter Beteiligung aller Christen, sowie Vertretern der jüdischen Religion, mit dem Ziel, gemeinsam zu einer für alle akzeptablen Übereinkunft zu kommen, wie die christliche Bibel zu ergänzen, neu zu kommentieren bzw. zu interpretieren sei, damit sie keine antisemitischen Ressentiments mehr produziert oder fördert.
Ginge es nach den Kirchenvertretern, besteht in dieser Hinsicht allerdings wenig Handlungsbedarf. Immer wieder wird Goldhagen vorgehalten, die jüngste Entwicklung in der Erörterung dieser theologischen Probleme nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Die geforderten Veränderungen in Sachen Bibelauslegung seien längst gängige Praxis.

Gewiss, es gibt gute theologische Bücher und der katholische Religionsunterricht wird heute von einer Reihe progressiver Pädagogen und mit modernen Lehrmitteln gestaltet. Dennoch fragt man sich, warum die in Deutschland derzeit aktuelle Schulbibel, eine explizit "für den Schulgebrauch zugelassene" Einheitsübersetzung des Alten und Neuen Testaments, erschienen im Herder Verlag, noch aus dem Jahr 1979 [!] stammt und seitdem, abgesehen von einer neuen Einbandgestaltung, nicht verändert wurde. Und wie zur Bestätigung Goldhagens findet man ebenda im Evangelium nach Matthäus unter 27,24-26 jene Stelle, an der Pilatus seine Hände in Unschuld wäscht, und das ganze jüdische Volk ruft: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Damit war laut Matthäus Jesus Todesurteil besiegelt. Der auf der selben Seite mitgelieferte Kommentar dazu lautet: "Das Volk gibt durch die Selbstverwünschung indirekt seine Verantwortung zu." – Was liegt nach dieser Erläuterung näher als die Annahme: 'Irgendwie sind also doch die Juden schuld!'? Auch zu anderen antisemitischen Passagen, von denen Goldhagen einige in seinem Buch zitiert, findet sich in dieser Schulbibel kein erhellender Kommentar. Kann oder besser darf man sich allein darauf verlassen, dass progressive Religionslehrer diese unhistorischen Falschdarstellungen eines ganzen Volkes durch eigene Kommentare oder Sekundärliteratur korrigieren? Diese Schulbibeln – zugelassen 17 Jahre nach dem zweiten vatikanischen Konzil und seit mehr als 20 Jahren nicht überarbeitet – werden bis heute an allen deutschen Schulen benutzt; angesichts dieser Tatsache kann man sich nur wundern, woher einige der Kirchenvertreter die Selbstgewissheit nehmen, Goldhagen vorzuwerfen, er sei nicht auf dem neusten Stand. Ist es nicht überaus berechtigt, auf die schwerwiegende Problematik dieser tatsächlich verleumderischen Bibelstellen hinzuweisen? Oder gelten die Regeln des katholischen Katechismus – den Ruf dessen wiederherstellen, den man verleumdet hat – nur dann, wenn die Geschädigten Katholiken sind?

Erinnert sei zum Beispiel an das Foto mit der falschen Bildunterschrift. Der hohe katholische Würdenträger, der auf besagtem Bild durch ein Spalier von SA-Leuten schreitet, ist nicht Kardinal Faulhaber, wie es in der Bildlegende zunächst hieß, und so erwirkte das erzbischöfliche Ordinariat München umgehend eine gerichtliche Verfügung, die den Vertrieb des Goldhagen-Buches solange unterbinden sollte, bis die strittige Zeile korrigiert wäre. Kardinal Lehmann erklärte in einem kurzen Fernseh-Statement: "(...) es ist natürlich misslich, wenn so etwas dann ausgerechnet einem Mann wie dem Kardinal Faulhaber angelastet wird, der einer der mutigsten Leute war in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus." (12.10.2002, 3sat, Kulturzeit extra) – Über die Rolle Kardinal Faulhabers während der NS-Zeit gehen die Meinungen weit auseinander, aber nehmen wir zu seinen Gunsten einmal das beste an und sagen, er wäre tatsächlich der mutige Mann gewesen, den Kardinal Lehmann in ihm sieht.
Dass sich in Bildlegenden mitunter Fehler einschleichen, ist nicht neu und menschlich verständlich. Ebenso verständlich ist andererseits, dass die Kirche einen vermeintlich aufrichtigen Kardinal nicht in die Nähe der Nazis gerückt sehen will. Dies, so die Kirche, sei eine Verleumdung und damit eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts, das auch noch für Verstorbene gelte. Wie gesagt: ein solcher Einwand ist grundsätzlich berechtigt und verständlich. – Dennoch, mit Blick auf die erwähnten Schulbibeln erscheint die zur Schau getragene Empörung, mit der das Münchner Erzbistum sein Recht einklagte, reichlich scheinheilig, und es drängt sich mit Matthäus 7,3 die Frage auf: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem [eigenen] Auge bemerkst Du nicht?"

Warum tritt die Kirche für das Persönlichkeitsrecht der Juden, für deren unbestreitbares Recht, in der christlichen Bibel nicht länger falsch und verleumderisch dargestellt zu werden, nicht mindestens mit dem selben Engagement ein, wie andererseits für das Persönlichkeitsrecht ihrer eigenen Glaubensbrüder?

Die Bildunterschrift in Daniel Goldhagens Buch wurde korrigiert. Das ist ein relativ einfacher Vorgang bei einem herkömmlichen Buch. Schließlich ist es nicht das Wort Gottes – Allerdings: das war das Neue Testament seinem Ursprung nach auch nicht. Die Autoren dieser Schriften waren Menschen, und wie alle Menschen waren sie nicht frei von Fehlern und Irrtümern. Dies zuzugeben und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, ist nur für die ein Problem, die unbeirrbar an ihrer eigenen Unfehlbarkeit festhalten, und das trifft insbesondere auf die katholische Kirche und ihr traditionelles Selbstverständnis zu.

So gesehen erscheint die eingangs erwähnte Vehemenz, mit der vor allem katholische Kirchenvertreter und Historiker Autor und Buch attackieren, zumindest psychologisch nachvollziehbar. Die interessierte Öffentlichkeit steht dieser Art von Kritik jedoch eher skeptisch gegenüber, und in Erinnerung an ähnliche Töne in den Debatten über Hitlers willige Vollstrecker dürfte sich mancher sagen: Selber lesen wäre auch eine Möglichkeit. Selbst wenn die eine oder andere Detailkritik berechtigt sein mag, und auch wenn man Goldhagens Überlegungen nicht in jeder Hinsicht folgen will oder kann, bleibt festzuhalten, dass die überaus berechtigten Fragen nach Schuld und moralischer Wiedergutmachung bisher wohl selten so deutlich und radikal formuliert wurden wie von Daniel Goldhagen. Die Antworten, besonders jene der katholischen Kirche, stehen in vielen Fällen noch aus.

[Bestellen]
Goldhagen, Daniel Jonah: Die Katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne. Berlin, 2002: Siedler Verlag.

Franziska Werners – haGalil 03.11.2002

Weitere Literatur zum Thema


[Bestellen]
Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Göttingen (1997) 1999²: Vandenhoeck & Rupprecht (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 122).

"Blaschke ist nicht der erste, der das starke antisemitische Element im deutschen Katholizismus zur Sprache bringt. Aber noch nie ist dieses Thema auf so breiter Quellengrundlage und so schonungslos abgehandelt worden wie in dieser Studie. ...

Blaschke ordnet beides, Tradition und Traditionsbruch, in große Zusammenhänge ein. Er sieht den deutschen Fall nicht isoliert, vergleicht vielmehr den katholischen Antisemitismus des Kaiserreiches mit dem Antsemitismus der Katholiken in Österreich, der Schweiz, Frankreich und den Vereinigten Staaten. ...

Sein Buch ist ... in einer auch für historische Laien verständlichen Sprache geschrieben. Hoffentlich findet es Leser auch unter jenen, von denen es handelt: den deutschen Katholiken"

Heinrich August Winkler, DIE ZEIT
 


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Cornwell, John: Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat. München 2001: List Verlag.

(Titel der englischen Originalausgabe: Hitler's Pope. The secret history of Pius XII. London 1999: Penguin)

Er lebte wie ein Heiliger und herrschte wie ein Diktator. John Cornwell schildert Leben und Pontifikat des Papstes Pius XII. Dieser führte das Papsttum auf eine seit dem Mittelalter nicht mehr erreichte Höhe der Macht und des moralischen Ansehens. Innerhalb der Kirche bekämpfte er jeden Widerspruch. Zwar lehnte er Hitler ab, aber zur Verfolgung und Vernichtung europäischer Juden schwieg der Stellvertreter Christi auf Erden. Selbst die Deportation römischer Juden nahm er widerspruchslos hin. Während sich Europa auf den Zweiten Weltkrieg zubewegt, wird im März 1939 in Rom ein neuer Papst gewählt. Die Wahl des Konklaves fällt auf Eugenio Pacelli. Der Kardinal, der sich fortan Pius XII. nennt, blickt auf eine steile Karriere als Kirchenmann zurück. Bereits das Konkordat mit dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933 trägt seine Handschrift. Es verschaffte dem NS-Regime wertvolle innen- und außenpolitische Anerkennung. Während des Krieges steuert Pius XII. einen Kurs strikter Neutralität, selbst dann noch, als sich die Niederlage der Achsenmächte abzeichnet. Er vermeidet jede klare Verurteilung der Judenverfolgung, über deren Ausmaß er weitgehend unterrichtet ist.

John Cornwell erzählt die Geschichte eines Papstes, der sich im Konflikt zwischen Macht und Moral für das Schweigen entschieden hat und damit für das Einvernehmen mit der Tyrannei - und letztlich mit der Gewalt.
 


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Groß, Alexander: Gehorsame Kirche – Ungehorsame Christen. Mainz 2000: Matthias-Grünewald Verlag.

Der Widerstand katholischer Christen und Christinnen gegen das NS-Regime entsprang einer Gewissensentscheidung, die in der Regel im bewußten Gegensatz zur Haltung und zu den Anordnungen der Kirchenleitung stand, die auf Einvernehmen mit dem Regime und den Behörden bedacht war. Bei ihrem mutigen Engagement konnten diese Christen deshalb nicht mit dem Rückhalt ihrer Kirche rechnen.

Alexander Groß, geboren 1931, Sohn des von der NS-Diktatur ermordeten christlichen Widerstandskämpfers Nikolaus Groß, arbeitet dieses dunkle Kapitel auf. Er befaßt sich eingehend mit der realpolitischen Wirkung kirchlichen Verhaltens auf die Außenpolitik Hitlers, auf den zweiten Weltkrieg sowie auf die Judenverfolgung und –ermordung, stellt ferner die Distanz zwischen den Zielen der Kirchenleitung und denen der widerständigen Christen dar und behandelt den Umgang der Kirche mit diesem Teil der Geschichte nach der Befreiung vom NS-Regime.

Entschieden wendet sich Groß gegen den Versuch der Kirchenleitung, die katholischen NS-Opfer für die Kirche zu vereinnahmen und aus ihrem Glaubenszeugnis im nachhinein einen "kirchlichen Widerstand" zu konstruieren.
 


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Moritz, Stefan: Grüß Gott und Heil Hitler. Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich. Wien, 2002: Picus Verlag.

Während die katholische Kirche Österreichs in der geschichtlichen Betrachtung der NS-Vergangenheit gern ihre Opferrolle in den Vordergrund rückt, geht Stefan Moritz der Frage nach, wie sich die Amtskirche tatsächlich gegenüber dem nationalsozialistischen Regime verhielt. Er zeigt, wie Bischöfe und Priester zu Erfüllungsgehilfen des Terrorregimes wurden, wie sie dessen Aufstieg und Festigung förderten und ihren Einfluss nahezu ausschließlich zur Sicherung der eigenen Stellung nutzten.
 


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Passelecq, Georges / Bernard Suchecky: Die unterschlagene Enzyklika. Der Vatikan und die Judenverfolgung. München, Wien 1997: Hanser Verlag.

(Titel der französischen Originalausgabe: L'encyclique cachée de Pie XI. Une occasion manquée de l'Église face à l'antisemitisme. Paris 1995: Édition La Découverte)

Im Sommer 1938 gibt Papst Pius XI. den Entwurf einer Enzyklika über die Einheit des Menschengeschlechts in Auftrag. Sie soll gegen Rassismus und Antisemitismus protestieren. doch Pius XI. stirbt. Unter seinem Nachfolger Pius XII. wird die Enzyklika nicht fertiggestellt, statt dessen: Stillschweigen angesichts der Judenverfolgung. Bis heute weigert sich der Vatikan, den Enzyklikaentwurf zu veröffentlichen. Georges Passelecq und Bernard Suchecky haben in einem amerikanischen Archiv eine Fassung des Entwurfs entdeckt: Ihr Buch ist ein Stück Aufklärung zum schwer belasteten Verhältnis zwischen Christen und Juden.

hagalil.com 05-11-02

 


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