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Jom haSikaron:
Für immer Junggeblieben

Zum Gedenktag für die Gefallenen 
der Verteidigungsgänge und der 
Opfer des Terrors


Amnon Neustadt, Ist der Traum ausgeträumt?
Israels Gesellschaft an der Schwelle zum Jahr 2000
Hirzel, Stuttgart 1998
Euro 18,40

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Das Bild bleibt erschütternd und unvergeßlich. Ich habe es dreimal im Fernsehen gesehen, und meine Augen werden immer wieder feucht. Ein schwerverletzter Reserveoffizier der israelischen Armee, der sein Augenlicht im 73er Krieg verlor, steht neben seiner inzwischen erwachsenen Tochter und stößt voller Verzweiflung und Schmerz seine Bitte an Gott aus: "Bitte, laß mich nur einmal meine Tochter sehen, nur eine Sekunde lang; meine Tochter, die ich nie erblicken konnte, und von deren Schönheit alle sprechen. Bitte nur eine Sekunde und dann verspreche ich dir, für immer zu schweigen und dankend in die Welt der Dunkelheit zu versinken!"

Es sind diese Szenen, die uns verstummen lassen. Es sind diese Bilder, die uns erst den Sinn des Lebens wirklich deutlich machen. Im Angesicht solchen Schicksals, das mit etwas weniger Glück auch unser eigenes sein könnte, begreifen wir erst den wahren Urgrund allen Seins, und verstehen, wie klein und nichtig die Alltagsbagatellen sind, die uns ständig so sehr beschäftigen.

Einmal im Jahr, immer unmittelbar vor den Feierlichkeiten für den Unabhängigkeitstag, identifizieren wir uns mit dem Schicksal der Kriegsopfer und deren Familien. Ähnlich dem Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, der eine religiöse Botschaft umfaßt, steht dieser Tag eindeutig im Zeichen der heutigen israelischen Lage und des gegenwärtigen Schicksals. Er ist kein Tag der Synagogen, sondern einer der Gräber.

Jahr für Jahr besuchen wir die Grabsteine der ewig Junggebliebenen. Immer am Vorabend des Unabhängigkeitstages, an dem wir scharenweise in die Stadtzentren strömen, um die Staatsgründung zu feiern, versinkt das Land zuerst in tiefe Trauer. Dieser sensible, jedoch abrupte Übergang von Trauer zur Freude, war schon immer Gegenstand zahlreicher Diskussionen in Israel.

Viele vermissen die fehlende "Abkühlungsphase". Dieser sprunghafte Wechsel erscheint vielen als unnatürlich, unangebracht und nicht nachvollziehbar. Trotz des "steigenden Pegels" der Normalität in der israelischen Gesellschaft und trotz deutlicher Signale verstärkter gesellschaftlicher Indifferenz in der Frage des Trauerns blieb die Sensibilität hoch. Es scheint, als würden wir eher dem Trauern als dem Feiern zuneigen. In Anbetracht der jüdischen Vergangenheit und der Lebensrealität des Staates Israel seit seiner Gründung, sicher keine besonders überraschende Feststellung. In diesem kleinen Staat, der immer mit der jüdischen Geschichte verbunden und ständig mit Krieg und Terror konfrontiert ist, scheint die Trauer allgegenwärtig.

Meine gefallenen Freunde und Kameraden besuche ich in unregelmäßigem Turnus. Es ist eher eine Sache des Zufalls, des Gefühls, als der Planung. Die offizielle Zeremonien am Gedenktag mied ich bis heute weitgehend; denn sie geben mir zu sehr das Gefühl einer von oben verordneten Maßnahme. Meine Empfindungen für die Menschen, mit denen ich mich so verbunden fühlte, wollte ich nicht kollektivieren. 

Doch im Jahre '98, am Vorabend der Jubiläumsfeierlichkeiten, verspürte ich zum ersten Mal den unerklärlichen Drang, bei der städtischen Zeremonie dabei zu sein. Alle sprachen vom 50. Jahrestag vom Jubiläums-Jom haAzma'ut. 

Gerade deswegen wollte ich mich vergewissern, daß man das Andenken an diejenigen, die nicht mehr mitfeiern konnten, und denen wir alle so viel verdanken, auch würdig gestaltet. 

Es war beeindruckend. Es gab keine langen Reden, aber viele eindringliche Botschaften des Mitgefühls mit den betroffenen Familien. In der Schlichtheit, der Einfachheit, mit der diese Gedenkzeremonie abgehalten wurde, lag ihre Stärke. Für einige Minuten waren wir wieder eine große Familie, eine des gemeinsamen Schicksals.

Die "Schuld" des Überlebens 
ist erdrückend

Viele Jahre sind inzwischen vergangen, die Erinnerungen blieben aber frisch. Gegenwärtig waren immer noch die Gesichter der jungen Freunde, mit denen wir zusammen die Schulbank drückten, und die mit uns gemeinsam kämpften. Die Eltern der Gefallenen sind sehr alt geworden. Die Last der Tragik war ihnen deutlich anzusehen. Wir drückten uns gegenseitig die Hand und vermieden weitgehend den Blickkontakt. Die "Schuld" des Überlebens ist erdrückend. Wir sind dem Schicksal entronnen, deren Söhne jedoch nicht.

Die Fragen nach dem gegenwärtigen Befinden beantwortet man kurz, als wäre man in Verlegenheit. Besonders unangenehm sind die Fragen nach den Kindern. Wo es zu plötzlichem, unerwartetem Tod gekommen ist, spricht man nur äußerst ungern von Fortpflanzung und Zukunft. Für diese Eltern und Familienmitglieder gab es jedenfalls nur Vergangenheit und Erinnerung. Es ist das Leben mit einer Wunde, die nicht zu heilen ist. Es gibt keinen Trost und auch keine passenden Worte.

Die Hoffnung

Zum Abschluß sangen wir alle die Nationalhymne "haTikvah" (die Hoffnung). Ich habe selten ein Lied gehört, das so viel von Hoffnung und Zukunft spricht und gleich zeitig Vergangenheit und Tragik ausdrückt. Israels Hymne, die jüdische Hymne, scheint geschaffen für traurige, tiefgehende Anlässe. 

Im Vergleich zu vielen anderen Nationalhymnen, die mehr wie militärische Märsche voller Pathos klingen, strahlt unsere eine leise, bescheidene Erinnerung an den Leidensweg des Volkes wie auch eine Mahnung für die Zukunft aus. Neben der ständigen Botschaft vom jüdischen Leiden war auch der Überlebenswille einer Schicksalsgemeinschaft deutlich fühlbar.

Allein, auf dem Weg nach Hause, begegnete ich den ersten Kindern, die sich nun auf den Weg zu den Festzentren machten. Sie waren noch zu jung, um in der Statistik des Staates Israel mitgezählt zu werden: Jede Generation im jüdischen Staat hat bis heute mindesten einen aktiven Krieg miterlebt. Meine Generation hat bereits drei bestreiten müssen. Ja, Israel war 50 Jahre alt, und es gab viele Gründe zu feiern, und doch war mir nicht danach zumute, in freudige Stimmung zu verfallen. Im Freuen hatten wir anscheinend noch zu wenig Übung. Die erdrückende Vergangenheit und eine Gegenwart voller Belastungen hatten das Entstehen ungetrübter Fröhlichkeit gehemmt.

An fehlender Investition der Stadtverwaltung lag es dieses Mal nicht. Im Gegenteil, als ich die vielen Bühnen entdeckte und das erste von zehn Feuerwerken sah, dachte ich zuerst an meine Steuergelder, die in prachtvollen Farben über meinem Kopf verpufften. Die Straße waren voller Leute, die sich durch die Massen drängten, um weiter unbekannte Attraktionen aufzusuchen. Die üblichen Plastikhämmer, mit denen die streunenden Kinder mit Vorliebe die Erwachsenen belästigten, nahmen dieses Jahr eine bedrohliche Dimension an. In der Regel sah man zuerst den Hammer und erst dann den jungen Träger.

Die Krönung der Muntermacher waren in diesem Jahr die Spraydosen. "Scheleg, Scheleg", "Schnee, Schnee", schrieen die herbeieilenden Kinder und sprühten ihre chemischen Spaghetti an alles, was sich zu bewegen wagte. Nach einer halben Stunde sahen wir bereits aus wie ein Yeti. Die klebrige Masse hinterließ zwar keine Flecken, war aber nicht leicht zu beseitigen. Meine sechsjährige Tochter Keren sah auf einmal müde aus. 

Der Rummel, auf den sie sich so gefreut hatte, war anscheinend zu anstrengend. Um 22 Uhr, nach einer kurzen, aber recht intensiven Begegnung mit den Jubiläumsfeiern, landeten wir erschöpft zu Hause. Keren war erst kurz zuvor eingeschlafen, als meine Frau und ich uns trotz des feierlichen Programms im israelischen Fernsehen leise und dankbar anschlossen.

Aus dem Kap.: MEINE 50-JAHRE-ISRAEL GEBURTSTAGSFEIER
aus dem Buch

Ist der Traum ausgeträumt?
Israels Gesellschaft an der Schwelle zum Jahr 2000
von Dr. Amnon Neustadt.

Dr. Amnon Neustadt (hebr. Noy), ist 1950 in Kfar Saba/Israel geboren. Er hat am Zermürbungskrieg in Israel von 1969—70 und am Yom-Kippur-Krieg 1973 teilgenommen.  Nach dem Studium der Politwissenschaften in Bonn (1975—1983) war er an den Universitäten Tel Aviv und Haifa als Dozent, ab 1987 als Leiter der Internationalen Abteilung des Dachverbandes der israelischen Gewerkschaften tätig.
Von 1992 bis 1997 war er Botschaftsrat für Soziales und Leiter der Presse- und Informationsabteilung. Seit 1998 lebt er mit seiner Familie in Berlin im Auftrag der Ben-Gurion Universität des Negew
.

In seinem politischen Essay beleuchtet Amnon Neustadt süffisant und mit viel Selbstironie die unterschiedlichen Facetten der heutigen israelischen Gesellschaft. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht dabei die jüdische Bevölkerung des Staates Israel. Neustadt spricht Israels "heilige Kuh" Sicherheit und den tobenden Kulturkampf zwischen Orthodoxen und Säkularen ebenso an wie Konsumfreudigkeit, Handy-Manie und Verkehrs-Chaos auf den Straßen. Dem Beruf des Shiputzniks, des Allround-Handwerkers und Renovierungszauberers, widmet der Autor mit dem gleichen Scharfsinn seine Aufmerksamkeit wie der 50-Jahre-Israel-Geburtstagsfeier und dem Bedeutungswandel des Begriffs der "Chuzpe".

[Gedenktag für die Gefallenen]
jiskor am jisrael  sikharon.ram

haGalil onLine 08-05-2000

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