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Das Bild bleibt erschütternd und
unvergeßlich. Ich habe es dreimal im Fernsehen gesehen, und meine Augen
werden immer wieder feucht. Ein schwerverletzter Reserveoffizier der
israelischen Armee, der sein Augenlicht im 73er Krieg verlor, steht
neben seiner inzwischen erwachsenen Tochter und stößt voller
Verzweiflung und Schmerz seine Bitte an Gott aus: "Bitte, laß mich nur
einmal meine Tochter sehen, nur eine Sekunde lang; meine Tochter, die
ich nie erblicken konnte, und von deren Schönheit alle sprechen. Bitte
nur eine Sekunde und dann verspreche ich dir, für immer zu schweigen und
dankend in die Welt der Dunkelheit zu versinken!"
Es sind diese Szenen, die uns verstummen
lassen. Es sind diese Bilder, die uns erst den Sinn des Lebens wirklich
deutlich machen. Im Angesicht solchen Schicksals, das mit etwas weniger
Glück auch unser eigenes sein könnte, begreifen wir erst den wahren
Urgrund allen Seins, und verstehen, wie klein und nichtig die
Alltagsbagatellen sind, die uns ständig so sehr beschäftigen.
Einmal im Jahr, immer unmittelbar vor den
Feierlichkeiten für den Unabhängigkeitstag, identifizieren wir uns mit
dem Schicksal der Kriegsopfer und deren Familien. Ähnlich dem Jom Kippur,
dem höchsten jüdischen Feiertag, der eine religiöse Botschaft umfaßt,
steht dieser Tag eindeutig im Zeichen der heutigen israelischen Lage und
des gegenwärtigen Schicksals. Er ist kein Tag der Synagogen, sondern
einer der Gräber.
Jahr für Jahr besuchen wir die Grabsteine
der ewig Junggebliebenen. Immer am Vorabend des Unabhängigkeitstages, an
dem wir scharenweise in die Stadtzentren strömen, um die Staatsgründung
zu feiern, versinkt das Land zuerst in tiefe Trauer. Dieser sensible,
jedoch abrupte Übergang von Trauer zur Freude, war schon immer
Gegenstand zahlreicher Diskussionen in Israel.
Viele vermissen die fehlende
"Abkühlungsphase". Dieser sprunghafte Wechsel erscheint vielen als
unnatürlich, unangebracht und nicht nachvollziehbar. Trotz des
"steigenden Pegels" der Normalität in der israelischen Gesellschaft und
trotz deutlicher Signale verstärkter gesellschaftlicher Indifferenz in
der Frage des Trauerns blieb die Sensibilität hoch. Es scheint, als
würden wir eher dem Trauern als dem Feiern zuneigen. In Anbetracht der
jüdischen Vergangenheit und der Lebensrealität des Staates Israel seit
seiner Gründung, sicher keine besonders überraschende Feststellung. In
diesem kleinen Staat, der immer mit der jüdischen Geschichte verbunden
und ständig mit Krieg und Terror konfrontiert ist, scheint die Trauer
allgegenwärtig.
Meine gefallenen Freunde und Kameraden
besuche ich in unregelmäßigem Turnus. Es ist eher eine Sache des
Zufalls, des Gefühls, als der Planung. Die offizielle Zeremonien am
Gedenktag mied ich bis heute weitgehend; denn sie geben mir zu sehr das
Gefühl einer von oben verordneten Maßnahme. Meine Empfindungen für die
Menschen, mit denen ich mich so verbunden fühlte, wollte ich nicht
kollektivieren.
Doch im Jahre '98, am Vorabend der
Jubiläumsfeierlichkeiten, verspürte ich zum ersten Mal den
unerklärlichen Drang, bei der städtischen Zeremonie dabei zu sein. Alle
sprachen vom 50. Jahrestag vom Jubiläums-Jom haAzma'ut.
Gerade deswegen wollte ich mich
vergewissern, daß man das Andenken an diejenigen, die nicht mehr
mitfeiern konnten, und denen wir alle so viel verdanken, auch würdig
gestaltet.
Es war beeindruckend. Es gab keine langen
Reden, aber viele eindringliche Botschaften des Mitgefühls mit den
betroffenen Familien. In der Schlichtheit, der Einfachheit, mit der
diese Gedenkzeremonie abgehalten wurde, lag ihre Stärke. Für einige
Minuten waren wir wieder eine große Familie, eine des gemeinsamen
Schicksals.
Die "Schuld" des Überlebens
ist erdrückend
Viele Jahre sind inzwischen vergangen, die
Erinnerungen blieben aber frisch. Gegenwärtig waren immer noch die
Gesichter der jungen Freunde, mit denen wir zusammen die Schulbank
drückten, und die mit uns gemeinsam kämpften. Die Eltern der Gefallenen
sind sehr alt geworden. Die Last der Tragik war ihnen deutlich
anzusehen. Wir drückten uns gegenseitig die Hand und vermieden
weitgehend den Blickkontakt. Die "Schuld" des Überlebens ist erdrückend.
Wir sind dem Schicksal entronnen, deren Söhne jedoch nicht.
Die Fragen nach dem gegenwärtigen Befinden
beantwortet man kurz, als wäre man in Verlegenheit. Besonders unangenehm
sind die Fragen nach den Kindern. Wo es zu plötzlichem, unerwartetem Tod
gekommen ist, spricht man nur äußerst ungern von Fortpflanzung und
Zukunft. Für diese Eltern und Familienmitglieder gab es jedenfalls nur
Vergangenheit und Erinnerung. Es ist das Leben mit einer Wunde, die
nicht zu heilen ist. Es gibt keinen Trost und auch keine passenden
Worte.
Die Hoffnung
Zum Abschluß sangen wir alle die
Nationalhymne "haTikvah"
(die Hoffnung). Ich habe selten ein Lied gehört, das so viel von
Hoffnung und Zukunft spricht und gleich zeitig Vergangenheit und Tragik
ausdrückt.
Israels Hymne, die jüdische
Hymne, scheint geschaffen für traurige, tiefgehende Anlässe.
Im Vergleich zu vielen anderen
Nationalhymnen, die mehr wie militärische Märsche voller Pathos klingen,
strahlt unsere eine leise, bescheidene Erinnerung an den Leidensweg des
Volkes wie auch eine Mahnung für die Zukunft aus. Neben der ständigen
Botschaft vom jüdischen Leiden war auch der Überlebenswille einer
Schicksalsgemeinschaft deutlich fühlbar.
Allein, auf dem Weg nach Hause, begegnete
ich den ersten Kindern, die sich nun auf den Weg zu den Festzentren
machten. Sie waren noch zu jung, um in der Statistik des Staates Israel
mitgezählt zu werden: Jede Generation im jüdischen Staat hat bis heute
mindesten einen aktiven Krieg miterlebt. Meine Generation hat bereits
drei bestreiten müssen. Ja, Israel war 50 Jahre alt, und es gab viele
Gründe zu feiern, und doch war mir nicht danach zumute, in freudige
Stimmung zu verfallen. Im Freuen hatten wir anscheinend noch zu wenig
Übung. Die erdrückende Vergangenheit und eine Gegenwart voller
Belastungen hatten das Entstehen ungetrübter Fröhlichkeit gehemmt.
An fehlender Investition der Stadtverwaltung
lag es dieses Mal nicht. Im Gegenteil, als ich die vielen Bühnen
entdeckte und das erste von zehn Feuerwerken sah, dachte ich zuerst an
meine Steuergelder, die in prachtvollen Farben über meinem Kopf
verpufften. Die Straße waren voller Leute, die sich durch die Massen
drängten, um weiter unbekannte Attraktionen aufzusuchen. Die üblichen
Plastikhämmer, mit denen die streunenden Kinder mit Vorliebe die
Erwachsenen belästigten, nahmen dieses Jahr eine bedrohliche Dimension
an. In der Regel sah man zuerst den Hammer und erst dann den jungen
Träger.
Die Krönung der Muntermacher waren in diesem
Jahr die Spraydosen. "Scheleg, Scheleg", "Schnee, Schnee", schrieen die
herbeieilenden Kinder und sprühten ihre chemischen Spaghetti an alles,
was sich zu bewegen wagte. Nach einer halben Stunde sahen wir bereits
aus wie ein Yeti. Die klebrige Masse hinterließ zwar keine Flecken, war
aber nicht leicht zu beseitigen. Meine sechsjährige Tochter Keren sah
auf einmal müde aus.
Der Rummel, auf den sie sich so gefreut
hatte, war anscheinend zu anstrengend. Um 22 Uhr, nach einer kurzen,
aber recht intensiven Begegnung mit den Jubiläumsfeiern, landeten wir
erschöpft zu Hause. Keren war erst kurz zuvor eingeschlafen, als meine
Frau und ich uns trotz des feierlichen Programms im israelischen
Fernsehen leise und dankbar anschlossen.
Aus dem Kap.:
MEINE 50-JAHRE-ISRAEL GEBURTSTAGSFEIER
aus dem Buch
Ist der Traum ausgeträumt?
Israels Gesellschaft an der Schwelle zum Jahr 2000
von Dr. Amnon Neustadt.
Dr. Amnon
Neustadt (hebr. Noy), ist 1950 in Kfar Saba/Israel geboren. Er hat am
Zermürbungskrieg in Israel von 1969—70 und am Yom-Kippur-Krieg 1973
teilgenommen. Nach dem Studium der Politwissenschaften in Bonn
(1975—1983) war er an den Universitäten Tel Aviv und Haifa als Dozent,
ab 1987 als Leiter der Internationalen Abteilung des Dachverbandes der
israelischen Gewerkschaften tätig.
Von 1992 bis 1997 war er Botschaftsrat für Soziales und Leiter der Presse-
und Informationsabteilung. Seit 1998 lebt er mit seiner Familie in
Berlin im Auftrag der Ben-Gurion Universität des Negew .
In seinem
politischen Essay beleuchtet Amnon Neustadt süffisant und mit viel
Selbstironie die unterschiedlichen Facetten der heutigen israelischen
Gesellschaft. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht dabei die jüdische
Bevölkerung des Staates Israel. Neustadt spricht Israels "heilige Kuh"
Sicherheit und den tobenden Kulturkampf zwischen Orthodoxen und
Säkularen ebenso an wie Konsumfreudigkeit, Handy-Manie und
Verkehrs-Chaos auf den Straßen. Dem Beruf des Shiputzniks, des
Allround-Handwerkers und Renovierungszauberers, widmet der Autor mit dem
gleichen Scharfsinn seine Aufmerksamkeit wie der
50-Jahre-Israel-Geburtstagsfeier und dem Bedeutungswandel des Begriffs
der "Chuzpe".
[Gedenktag
für die Gefallenen]
jiskor am
jisrael sikharon.ram
haGalil onLine
08-05-2000
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