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GOLEM

Ruth Fruchtman (Berlin)
Ich heiße Maria Schmidt und bin schizophren

Wer ist Jude, wer ist Deutscher, frage ich mich jetzt, vor dem ausgehenden Jahrhundert und dem dritten Jahrtausend. Alles ist möglich geworden, man kann sein Geschlecht ändern, Menschen klonen, seinen Nachwuchs bestellen, die Schöpfung ist kein göttliches Geheimnis mehr, sondern bloß eine Frage der Technik. Es müßte also möglich sein, sich eine Shoa-freie europäisch-jüdische Identität zu fabrizieren. Wir müssen nicht so ernst nehmen, was gegenwärtig läuft: das zähe Feilschen um die nur fünfzig Jahre verspätete Entschädigung für die Zwangsarbeiter in deutschen Firmen, das Gezerre um das Denkmal, das doch zum Nachdenken anregen soll (kein Wunder, die Besorgnis). Neulich wurde eine Freundin von mir mit dem Gejohle „Judenschwein" begrüßt; drei rechtsradikale Parteien kandidierten in den Berliner Kommunalwahlen, von den neuesten Wahlergebnissen in Österreich und der Schweiz ganz zu schweigen. Alles kein Grund zur Beunruhigung, denken wir an die Zukunft.

Ich heiße Maria Schmidt, ich wohne in Berlin, der Stadt der Fassaden. Die Wahrheit schreit uns zwar entgegen, aus den Wänden der von Juden einst bewohnten Häuser, aber wir wollen lieber die Fassaden renovieren und aufhören, uns damit zu quälen. Sonst gerate ich womöglich in die Gefahr, rassistisch oder gar faschistisch genannt zu werden, was ich mir selbstverständlich nicht so gern zuziehen möchte. Also schweigen und weitermachen anstatt mich zu fragen, was ich eigentlich hier tue oder wer ich bin. Jüdisch, Halachisch- oder sonstwie jüdisch, gläubig, atheistisch, bolschewistisch - wie auch immer, Schizophrenie ist ohnehin mein Zustand, hier bin ich am richtigen Ort. Wir Juden grübeln gern nach, und quälen uns, nicht ohne Selbstgefälligkeit. Was ist ein Jude, wieso, warum, Zion, kein Zion, sind wir ein Volk oder nur eine Religion, oder auch eine Schicksalsgemeinschaft. Auch die Jüdischen Gemeinden (die orthodoxen wie die reformierten) grübeln nach, stellen akribische Forderungen auf den Nachweis einer jüdischen Mutter, bevor sie einen als Jude absegnen. Kann man lediglich einen jüdischen Vater vorweisen, muß man zum Judentum übertreten, wie es so schön heißt.

Die dabei am besten wegkommen, sind die Deutschen, die sich vom Judentum angezogen fühlen. Sie quälen sich nicht mit solch spitzfindigen Fragen, sie haben keine jüdischen Vorfahren vorzuweisen, höchstens irgendwo im achtzehnten Jahrhundert und sorgfältig im Stammbaum versteckt. Deutsch ist schlicht deutsch, Jude einfach Jude. Sie möchten etwas gutmachen, Tikkun üben, vielleicht, die Welt heilen (am deutschen Wesen ...). Wir müssen ihre guten Absichten würdigen, uns freuen, daß sie zu uns kommen wollen, notfalls um uns, die geborenen Juden, noch ein wenig aufzuklären und uns beizubringen, wie wir es besser machen können, mit der Zeit kennen sie sich doch erheblich besser aus als wir. Ich schäme mich richtig mit meinem schlampigen Kindheitsjudentum, nicht so richtig gelernt, keine Bat Mizwa und kein einziges Mal in der Mikwa! Wer weiß, womöglich würde ich heute eine ordentliche Prüfung gar nicht bestehen; könnte ich mich nicht auf die Halacha berufen, auf meine jüdische Mutter, die eine entfernte Nachfahrin des Gaon von Wilna war, noch dazu aus einer Nebenlinie, ich wüßte nicht, was aus mir würde. Daher habe ich mich entschieden, meinen Namen noch einmal zu ändern, auf Maria Schmidt. So falle ich weniger auf. Wer die Wahl denn hat, der quält sich nicht unbedingt. Die unerklärliche Beklemmung, die mich früher unversehens überfiel, wenn ich mich aufgefordert fühlte, in nicht-jüdischen Kreisen zu sagen: Ich bin Jüdin - die neuen, deutschen Juden empfinden sie anscheinend nicht. Sie sind eher stolz auf sich, fühlen sich bei uns zu Hause, suchen vielleicht eine Nestwärme, die mir – der ewig Undankbaren – meist wie ein klebriger Schwamm vorkommt, leicht erstickend. Der neuen, deutschen Juden nimmt man sich, so scheint‘s, eher an als jener Juden, die nur jüdische Väter haben. Eines Tages wird ein frisch übergetretener Rabbiner mir helfen, die Lücken in meinen jüdischen Kenntnissen zu füllen, mir erklären, was Halacha und Talmud wirklich bedeuten. Es wird sich gelohnt haben, wir werden neue europäische Juden haben, um das alte erschöpfte jüdische Volk und seinen Glauben aufzufrischen, sie zu beleben, und daß Opa oder Uropa Otto einst in der Waffen-SS war – daran wird sich dann kaum noch einer stören.

Zumal weil wir alle so scheußlich zu den Deutschen gewesen sind, oder wie es schon dazumal Noel Coward formulierte: Don’t let’s be beastly to the Germans! Glücklicherweise hat sich die Welt gebessert, es ist nur eine Frage der Zeit, und in fast allen Büchern und Texten, ja sogar in den Rundfunkkommentaren, die sich immer noch - aus rein wissenschaftlichen Gründen! – mit der unglücklichen Zeit 1933 – 1945 befassen müssen, lesen und hören wir schon lange, zu unserer Erleichterung, daß es im Osten wie im Westen Europas gar keine deutsche Besatzung gab, sondern lediglich eine Nazibesatzung, also gar nichts Anstößiges, was den Deutschen an sich zuzurechnen wäre, bloß irgendeine kleine garstige Clique. Die Nazis, nicht die Deutschen. Selbst der Überfall auf Polen war Hitlers persönliche Angelegenheit, der Hitlerüberfall heißt er neuerdings, wobei man sich allerdings wundert, daß ein einziger Mensch, ganz allein, das anrichten konnte. So etwas nennt man wohl Charisma. Durch einen Film, erfuhr ich kürzlich, daß selbst Himmler kein eingefleischter Antisemit gewesen sei, ein Verbrecher zwar, aber vor allem ein fleißiger Organisator. Der einzige Deutsche (Entschuldigung, er war ein Österreicher!), der die Juden vernichten wollte, war ein gewisser A.H. Ich denke, wir kennen seinen Namen, ich brauche ihn nicht zu wiederholen. Das gibt uns Grund zur Hoffnung – in dem auf uns zukommenden, europäischen Jahrtausend.





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