Psychologie des Nahostkonflikts: Israel auf der Couch

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Um den Weg verständlich zu machen, den ich hinter mich gebracht habe, bevor ich ein Buch über psychologische Aspekte des Nahostkonflikts schrieb, muß ich den Leser mit einigen wichtigen Wegstrecken vertraut machen, die mein privates Leben mit dem meines Volkes verbanden. Ich wurde 1954 als jüngstes von drei Kindern in Tel Aviv geboren. Mein Vater war 1932 im Alter von 16 Jahren mit seiner Familie von Litauen nach Israel ausgewandert. Meine Mutter war 11 Jahre alt, als sie 1935 mit ihrer Famile aus Berlin nach Israel kam…

Vorwort zur „Psychologie des Nahostkonflikts
von Ofer Grosbard

Mein Vater schloß sich der antibritischen Untergrundorganisation Etzel an und wurde schließlich Mitglied des Hauptkommandos und Kommandeur im Distrikt von Tel Aviv. Sein Gefühlsleben war bis zu seinem Tode untrennbar mit der Herut-Bewegung verbunden ((Rechte Vorläuferbewegung der Likud-Partei, „Herut“ bedeutet „Freiheit“)). Meine Mutter war eine Kinderärztin, und auch sie hatte rechte politische Ansichten. Beide kamen ursprünglich aus religiösen Familien. Ich wurde auf die staatliche religiöse Bilu-Schule geschickt, obwohl wir zu Hause keinen religiösen Lebenswandel pflegten. Wir reisten am Sabbat, und eine Kippah setzte ich nur in der Schule auf. Meine Eltern waren der Meinung, daß eine religiöse Erziehung eine gute Erziehung ist, und daß es für mich wichtig sei, die Verbindung zur Tradition und Religion zu halten.

Als ich zur Oberschule kam, ging ich auf eine säkulare Schule. Zu Hause hörten wir viele Geschichten meines Vaters aus seiner Zeit im Untergrund und wir wuchsen in einer rechten politischen Atmosphäre auf. In diesen frühen Jugendjahren fühlte ich mich aus ganzem Herzen als Rechter. Doch wenn ich heute zurückblicke, dann erkenne ich, daß es schon immer Risse in meiner rechten Weltanschauung gegeben hat. Sie drückten sich durch Rebellion gegen Autoritätspersonen wie Eltern und Lehrer aus, und durch die Schwierigkeiten, mich mit dem zu identifizieren, was diese Weltanschauung mir bot.

Da ich der Jüngste war, wurde von mir allerdings auch nicht mit der gleichen Strenge wie von den älteren Geschwistern erwartet, daß ich mich meinen Eltern anpaßte. Das gewährte mir größere Freiheit. Ich ging voller Überzeugung als Freiwilliger in die Armee zu den Nachal-Fallschirmjägern, mit dem Wunsch, in einer Kampfeinheit zu dienen.
In den Tagen nach dem Jom-Kippur-Krieg – ich war in Ägypten stationiert – wurde in Gesprächen mit meinen Kameraden mein Glauben an die Rechten erschüttert. In den folgenden Jahren wählte ich immer weiter links (ich stimmte für Mosche Dajans Telem), bis ich schließlich keine Hemmungen mehr hatte, die Arbeitspartei zu wählen. Meine Eltern und Geschwister stimmten alle für die Rechten, ich war der einzige, der sich der Linken zuwandte. Die Familie behandelte mich mit Nachsicht, wie ein rebellisches Kind, und hoffte, ich würde schon wieder vernünftig werden.

Meine Eltern hatten mich von klein auf dazu angehalten, mich mit Naturwissenschaften zu beschäftigen, sie achteten sie höher als die Geisteswissenschaften, und so wußte ich seit meiner Kinderzeit, daß ich Ingenieur werden wollte. Nach Beendigung meines Militärdienstes schrieb ich mich an der Technischen Universität in Haifa ein und machte einen Abschluß als Ingenieur für Computertechnik. Während des Studiums erwachte mein Interesse an der Psychologie. Ich wurde mir verstärkt über mich selbst und meine Gefühle klar, das ging soweit, daß ich mich sogar zu einer Therapie wagte. Jahre später erinnerte mich ein Freund daran, daß ich früher einmal gesagt hatte: „Ich soll zu einer Therapie? Bin ich denn etwa verrückt?“ Ich gab den Ingenieurberuf auf und begann Psychologie zu studieren. Während der nächsten Jahre absolvierte ich alle Kurse der klinischen Psychologie, machte meinen Abschluß und absolvierte die Zeit als Assistenzarzt. Ich verspürte ein großes Bedürfnis, mich selbst kennenzulernen und von innen heraus zu verstehen, ein Bedürfnis, das ich nicht unterdrücken konnte. Ich war auf der Suche nach Gefühlen, nach Kontakt mit Menschen, und nicht mit Maschinen, den mir meine Ingenieurausbildung bot. So war meine persönliche Entwicklung, die mit dem Wandel meiner politischen Ansichten begann, von einem beruflichen Wandel begleitet, von den Naturwissenschaften zu den Sozial- und Geisteswissenschaften.

Ich war im Vergleich zu meinen Geschwistern tatsächlich weniger mit der Tradition, der Vergangenheit und vor allem mit meinen Eltern verbunden. Ich rebellierte und suchte meinen eigenen Weg. Einmal drückte meine Rebellion sich darin aus, daß ich mein Studium unterbrach und mit dem Rucksack eine Reise um die Welt machte. Ich habe bei Patienten immer wieder bemerkt, daß sie sich im Verlaufe einer Psychotherapie mehr und mehr in Richtung zur politischen Linken bewegen, und das war auch bei mir der Fall gewesen.
Und dann, Wunder über Wunder, gerade als ich dachte, ich hätte meine endgültige politische Einstellung gefunden, merkte ich, wie ich bis zu einem gewissen Grade wieder nach rechts schwenkte. Ich spürte, daß ich die Rechte verstehen und mich mit ihr identifizieren konnte. Heute kann ich die Extreme ausgewogener betrachten, zwischen denen ich gependelt bin.
Ich erkenne den Wert unserer religiösen und nationalen Vergangenheit. So wie ein Kind, daß voller Zorn gegen seine Eltern rebelliert, und dann, nachdem es seine eigene, neue und unabhängige Identität aufgebaut hat, reif genug geworden ist, versöhnt zu ihnen zurückzukehren, ja, sogar mit Liebe und Wertschätzung für die Dinge, die es von ihnen empfangen hat. Das ist uns ebenfalls aus der therapeutischen Praxis vertraut. Ein rebellischer Jugendlicher, der sich selbst behauptet und seine eigene Identität findet, kann eines Tages wieder zu seinen Eltern zurückkehren und sich mit ihnen aussöhnen. Heute hege ich eine größere Wertschätzung gegenüber der Tradition, der Vergangenheit und den Wurzeln des Judentums, weil sie unsere historische Kontinuität bewahren. Wenn die Vergangenheit eines Volkes ausgelöscht wird, dann führt das zu emotionalen Problemen, genauso wie beim Auslöschen der persönlichen Vergangenheit. Diese Probleme gleichen denen, die uns aus der therapeutischen Praxis vertraut sind, darauf werde ich in diesem Buch eingehen.

Plötzlich verstand ich zum ersten Male den historischen Prozeß, in dem meine Eltern gegen ihre Eltern rebellierten, der Religion entsagten und nicht länger Juden in der Diaspora sein wollten, und ich verstand, was das bedeutete (Gefühle der Schwachheit, geringe Selbstachtung und vieles mehr). Ihre Rebellion machte die Entwicklung von einer Religion zu einem Staat möglich, und unsere Generation führt diese Rebellion fort, in ihrer Suche nach der Art von Staat, die wir haben wollen. Wie viele Heranwachsende sind wir noch immer verwirrt und mühen uns darum, herauszufinden, wer wir sind.

Die Zeiten des Wahlkampfes sind schreckliche Zeiten für mich, denn dann muß ich mich entscheiden, mit wem ich mich mehr identifiziere, mit den Rechten oder den Linken. Es ist fast so, als wählte man zwischen Mutter und Vater. Bei den Wahlen muß ich darauf in schwarzweiß antworten, aber heute bin ich mir über das komplexe Kontinuum von links bis rechts im klaren. Der Rechten fällt es schwer, sich von der Vergangenheit und der Tradition zu lösen und nach vorne zu sehen, während die Linke sich oft von den Quellen ihrer Vergangenheit abschneidet und andere Probleme hat, zum Beispiel Schuldgefühle und unterdrückte Aggressionen in einem Ausmaß, das sie selbst nicht erkennen können.

Wenn ich mich selbst prüfe, wozu wir Therapeuten während unserer Arbeit angehalten sind, um uns über uns selbst und die Beziehung zu unserem Klienten klar zu werden, dann wird mir bewußt, daß ich mehr der Linken zuneige, aber nicht mehr so stark wie einst. Mir wird auch klar, daß es im emotionalen Wachstumsprozeß kein richtig oder falsch gibt. Links und rechts sind verschiedene Aspekte eines Entwicklungs- und Wachstumsprozesses, die einander ergänzen. Wir müssen als Nation versuchen, ein Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen. Wenn ich also in diesem Buch zu sehr als Linker erscheine, dann kann das bedeuten, daß ich in den tiefen Graben gefallen bin, der unsere Nation durchzieht, und daß ich zurückgehen und mich erneut prüfen muß, um näher an die erwünschte Integration heranzukommen, zu der ich in diesem Buch ermutigen möchte. Hier fallen das persönliche und das nationale Erleben zusammen, und von manchen kann erwartet werden, daß sie sich wieder den Werten der Vergangenheit und der Tradition zuwenden, aber dieses Mal in einer ausgewogenen und integrativen Art und Weise, während andere sich der säkularen, westlichen Kultur zuwenden und sich mit ihr identifizieren müssen.
Der tiefe Graben in der israelischen Gesellschaft ist typisch für die Art von Gräben, die sich unter Heranwachsenden auftun, wenn die Gefühle hitzig und stürmisch sind. Einige von uns rebellieren, einige trauen sich nicht zu rebellieren, und andere sind des Rebellierens müde und möchten nach Hause, um sich mit den Eltern auszusöhnen.

Vor „Israel auf der Couch“ habe ich das Buch „Der Araber in uns“ veröffentlicht, an dem ich fünf Jahre lang geschrieben habe. Dieser Roman ermöglichte es mir, die Erfahrungen unseres Volkes so tief zu ergründen, wie es nur literarisch möglich ist: ohne Beschränkungen und ohne Hindernisse, alles ist erlaubt. Genauso ermuntern wir die Klienten in der Therapie alles zu sagen, was ihnen in den Kopf kommt. Erst nach der tiefen Auflösung, die ich durch das literarische Schreiben erfuhr, konnte ich zurückgehen, die einzelnen Teile wieder zusammenfügen und die Werkzeuge des Therapeuten dazu benutzen, den ganzheitlichen Ansatz in diesem Buch zu verwirklichen, der tatsächlich schon seit Jahren in meinem Bewußtsein gärte. Es wäre sogar keine Übertreibung zu sagen: mein ganzes Leben über.

Weitere Hilfe erfuhr ich durch die enge Beziehung zu meinen Töchtern. Der Leser wird in diesem Buch viele Beispiele aus der Eltern-Kind-Beziehung finden. Letztlich sind sich Kindheit und Politik sehr ähnlich. Beide sind so ursprünglich und libidinös, so zerrissen und so in Selbstgerechtigkeit verschanzt. Es schein manchmal, als ob die Politik das einzige Spiel sei, daß sich die Erwachsenen aus der Kindheit bewahrt haben.

Eine andere Integration, die ich auf dem Weg zu diesem Buch bewältigte, ist die Integration der Welt meiner psychologischen Praxis, die ich in all den Jahren meines Studiums und meiner Arbeit als Therapeut verinnerlicht habe, mit meiner lebenslangen Verbundenheit zur Politik. Mein Vater lehrte mich, das Leben unseres Volkes so zu erfahren und mitzuerleben, als sei es mein eigenes. Die Verbindung zwischen Politik und Psychologie lag nicht von Anfang an nah. Dazu mußte ich die Werkzeuge der therapeutischen Praxis nehmen und sie auf einem Gebiet anwenden, das weit entfernt oder gar gegensätzlich scheint – die Welt der Politik. Es ist ein Gebiet, auf dem sich jede Seite sicher ist, daß allein sie im Recht ist, und auf dem man keinerlei Schwäche und Milde zeigen darf. Ich bin von dem Nutzen der Anwendung therapeutischer Methoden auf die Politik fest überzeugt und hoffe inständig, daß wir dadurch als Volk unseren Zielen näher kommen können. An einem bestimmten Punkt spürte ich, daß „der Groschen gefallen war“, und zwei meiner tiefen Bindungen, die praktische Psychologie und die Politik, verdichteten sich zu einer. Mein Leben war stets von Politik erfüllt, und natürlich auch von Psychologie, warum sollte ich also nicht beide verbinden? Das habe ich dann getan.

Als Therapeut fühle ich mich der intersubjektiven Schule zugehörig, die in der klinischen Psychologie und Psychoanalyse noch relativ jung ist. Dieser Ansatz betrachtet Therapeuten und Klienten als Partner in einem emotionalen Prozeß, der sich während der Therapie entwickelt. Die Therapie kann keinen Erfolg haben, solange der Therapeut kein wirklicher und gleichwertiger Partner ist. Ich halte diesen Ansatz zur Analyse von Konflikten zwischen Gruppen und Nationen für sehr geeignet. Wenn man einer bestimmten Gruppe angehört, dann muß man sich seiner selbst und seiner Gefühle bewußt sein und zu verstehen versuchen, wie diese sich auf die andere Gruppe auswirken. Ohne zu prüfen, was wir wirklich der anderen Gruppe gegenüber empfinden, können wir nicht unsere Beziehungen zu ihr überprüfen, denn wir sind gleichwertige Partner in einem Prozeß. Das ist auch der Grund, warum ich diese Einleitung verfaßt und etwas über mich selbst erzählt habe. Ich muß mir während des ganzen Prozesses meiner selbst und meiner Gefühle bewußt sein. Ich bin kein neutraler Beobachter.

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