Ausstellung für Jugendliche:
"Die Schulfibel" - Kinder im Lager Majdanek

Majdanek unterschied sich von anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern durch eine relativ hohe Inhaftierung von Kindern. Familien mit Kindern kamen im Zuge von drei großen Deportationen nach Majdanek: aus verschiedenen Ghettos im Generalgouvernement, aus dem Raum Zamo?? und nach Vertreibungen aus weißrussischen Dörfern. Auf dem Gelände des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek ist eine neue Ausstellung eröffnet, die dem Leben von Kindern im Lager gewidmet ist. ...

Gudrun Schroeter

"1939 brach der zweite Weltkrieg aus. Die Geschichte dieses Krieges ist auch die Geschichte von Kindern, die zur Zwangsarbeit gezwungen, von ihren Eltern gerissen und in den Konzentrationslagern zu Tode gefoltert wurden. Das Leben der belorussischen, polnischen und jüdischen Kinder ist verbunden mit dem Lager. Viele von ihnen waren in dem Alter, in dem sie mit ihrer Fibel in der Schultasche zur Schule gingen.
Es ist "die Schulfibel", die Kinder darauf hinführt, die Welt zu organisieren und zu beschreiben. In ihr finden sie die einfachsten sozialen Kategorien, die die Grundlagen der Beziehung zwischen Mensch und der äußeren Welt formen. Eine Hauptcharakteristik der Fibel ist es, dass sie die Welt ohne Grausamkeit und Böses präsentiert. Die Kinder wurden aus dieser einfachen und naiven Welt der Fibel herausgerissen und in die Lagerwelt geworfen. Es war eine Welt mit einer grundsätzlich verschiedenen Fibel – der Schulfibel des Todeslagers." (The Primer – Children in Majdanek, Lublin, Majdanek, Barrack No. 53 – Lublin 2003, englischsprachiger Begleitkatalog zur Ausstellung)

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek

Zwischen Herbst 1941 und Sommer 1944 wurden etwa 300.000 Menschen nach Majdanek deportiert. 1941 wurde das Lager von der Wehrmacht als Gefangenenlager für Angehörige der sowjetischen Armee betrieben, dann von der SS übernommen und war von Beginn an eine der 15 Stätten der Vernichtung im Raum Lublin. Die Mehrheit der Deportierten waren polnische Juden aus der Region Lublin, den Ghettos in Warschau und Bialystok, sowie aus der Slowakei, der tschechischen Republik, Deutschland, Österreich, Frankreich, Holland, Belgien und Griechenland. Mit sehr wenigen Ausnahmen war das Lager für diese Menschen ein Todeslager. Kinder wurden in Majdanek wie Erwachsene behandelt – Appell, Zwangsarbeit, Folter und Hunger. Im Sommer 1943 führten die Deutschen drei so genannte "Kinderaktionen" durch: jüdische Kinder aus Warschau, Rejowiec und Bialystok starben in den Gaskammern.

Die zweitgrößte Gruppe waren polnische Gefangene, die wegen nicht – oder angeblich nicht – erfüllter Abgabesolls und Zwangsabgaben gefangen genommen wurden oder wegen des Verdachts der Partisanentätigkeit. Im Januar 1943 etwa gab der SS-Brigadeführer und Generalmajor Odilo Globocnik, der SS-Verantwortliche für die Region, dem das Lager direkt unterstellt war, eine Verordnung heraus, dass, wenn Täter von Sabotageaktionen am Eisenbahnsystem nicht gefasst werden, 20 Personen aus der nächsten Umgebung zu verhaften seien. In dem meisten Fällen wurden diese Häftlinge zur Zwangsarbeit geschickt, häufig mit dem Ziel Deutschland, wenige kamen frei. Andere Gefangene wurden aus Dörfern in der Ukraine und Belorussland hierher verschleppt und auch sie nach Deutschland gebracht.

Die Ausstellung, die in einer der Baracken zu sehen ist, vermittelt für Jugendliche ab 14 Jahren grundsätzliche Informationen über das Leben der Kinder im Lager Majdanek. Sie orientiert sich an vier individuellen Kinderschicksalen – den beiden jüdischen Kindern, Halina Birenbaum und Henryk (Henio) Zytomirski, Piotr Kiryszczenko aus Belorussland und Janina Buczek-Rozanska aus Polen. Im ersten Teil gibt die Ausstellung einen Einblick in die "Fibelwelt" der Kinder – Kindheit und Schule vor dem Lager, in die Begriffe des Lagers, im zweiten zeigt sie die "Lagerwelt". Deutlich werden auch die Unterschiede, die die Nationalität für das Leben und Überleben bedeutete, Henio überlebte das Lager nicht.

Kindheitswelten

Martha Grudzinska, eine der MitarbeiterInnen an Konzeption und Realisierung der Ausstellung erklärt, dass vor Betreten der Ausstellung die Jugendlichen die Aufgabe bekommen, sich eine der Biographien genauer anzuschauen, um diese später den anderen zu erzählen. Und bei allen Führungen sei es so, dass alle Teilnehmenden unbedingt möglichst viel über die anderen Biographien hören wollen. Sie betont, dass es wichtig ist, den Jugendlichen auch einen Teil der Welt vor dem Krieg zu zeigen, aus der die Kinder in das Lager kamen. Die ersten beiden Räume, die einander gegenüberliegen: in einem werden die beiden jüdischen Kinder, Halina und Henio, vorgestellt, in dem anderen die nichtjüdischen Piotr und Janina. Eine erste Installation zeigt die Vorkriegswelt: durch Gucklöcher in Kinderaugenhöhe sind Fotos von Kindern projiziert, beleuchtet durch das Licht außerhalb der Baracke. Nur zwei der Bilder jüdischer Kinder können mit Namen identifiziert werden. Sie wurden nach der Befreiung der Region 1944 in Büchern von jüdischen Gefangenen im Lager gefunden. In diesen ersten beiden Räumen, die eingerichtet sind wie ein Archiv und schnell eine Stimmung von Recherche aufkommen lassen, werden die Informationen gegeben, die für eine Annäherung an das Lager und die "Lagerfibel" wichtig sind. In kleinen Schränken können in beiden Räumen auf Museumskarten Fragmente der Biographien der Kinder rekonstruiert werden: Wo lebten sie vorher? Welche Stationen hatte es für sie jeweils gegeben?

Mit dem nächsten Regal führen die Schritte in das Lager: kurze Berichte von Gefangenen, geschrieben auf Archivkarten, die die Wege in das Lager und das Leben in Majdanek beschreiben. Informationen über den Alltag können auf weiteren Karten recherchiert werden: Was besaßen die Kinder im Lager, welche Orte und Objekte der sie nun umgebenden Welt hatten Bedeutung. Und mit diesen Beschreibungen beginnen sich die vorgezeichneten Schicksale zu trennen: der Davidstern, die Gepäckmarke fehlen bei den nichtjüdischen Kindern, und für die jüdischen Kinder war die Tötungsmaschinerie, Gaskammer, Zyklon B, zusätzlich bestimmende Faktoren. In jedem der beiden Räumen steht eine kleine Box mit einem animierten Filmstreifen: ein Augenkino, Bilder die der Gefangene Andrzej Janiszek für Krysia, die Tochter eines anderen Gefangenen zeichnete.

Eine Musikbox stellt die Verbindung zum nächsten Raum, ein Klassenzimmer der Vorkriegszeit, her, ein kleiner Koffer, aus dem beim Heben des Deckels ein vor dem Krieg populäres polnisches Kinderlied erklingt: "Es war einmal eine Prinzessin"

Ein Flimmern blinkt von Voytus
von einem Feuerplatz,
komm her, ich werde dir eine Geschichte erzählen,
die Geschichte ist lang.

Es war einmal eine Hexe,
sie hatte ein Butterhaus.
Man fragt sich, was geschah in diesem Haus,
ups, das Flimmern ist verschwunden.

Es war einmal eine Prinzessin,
sie fiel herein auf einen Musikanten,
der König gab ein Hochzeitsfest,
und das ist das Ende der Geschichte.

Der nächste Raum – das Schulzimmer, Kinderstimmen in der Pause füllen den Raum – Schulfibeln: polnische, russische, jiddische Schulfibeln, eine Schultafel mit den Namen der vier Kinder.

Lagerwelten

Der Raum der Lagerwelt ist groß und dunkel, keine abgetrennten kleinen Räume, nur die Exponate der Demonstration sind leicht angestrahlt. In einer symbolischen Lagerfibel am Rande der Baracke sind die für das Lager wichtigen Begriffe der Lagerwelt noch einmal beschrieben: Appell, Baracke, Gaskammer, Nummer, Transport … Alle Erklärungen werden in den Worten der Erinnerungen der überlebenden Kinder auf Tafeln geschrieben, das auch, wie Martha Grudzinska erklärt, um in den nachfolgenden Gesprächen mit den Kindern die Wichtigkeit und Bedeutung der Zeugnisse betonen zu können. Eine Tafel ist ohne Zeugnis – sein Name auf der Tafel lässt bewusst werden, dass Henio kein Zeugnis mehr geben konnte.

Im Zentrum des Raumes Lagerwelt steht das zehn Meter lange, metallene Gerüst eines Bahnwaggons, ein weißer Stoff mit den Namen von Kindern, die in Majdanek waren, überzieht den Boden und verdeutlicht, dass die vier Biographien, die durch die Ausstellung führen, stellvertretend für viele andere Kinder stehen. Tiefer im Raum, nur leicht erhellt ragen fünf Betonröhren, die bis zur Erde unter der Baracke reichen, wie kleine Brunnenschachte, und die das Leben der vier Kinder symbolisieren. Lehnt man sich über den Rand und beugt den Kopf in den Tunnel, sind die Stimmen der Erwachsenen zu hören, die die Geschichte ihrer Kinderzeit in Majdanek erzählen. In einem Schacht gibt es keine Geschichte, Stille und der leichte Geruch der Erde. Es ist das Leben Henios.

Der fünfte Schacht steht nicht in einer biographischen Chronologie. Vor dem Schacht steht die gleiche Musikbox wie in den ersten Räumen und beim Öffnen des Deckels erklingt die Melodie des polnischen Kinderlieds "Es war einmal eine Prinzessin" aus dem Schacht, doch der Text dieses Liedes kommt aus Majdanek:

Es war einmal Elzunia,
sie starb ganz allein.
In Majdanek war ihr Vater,
in Auschwitz ihre Mutter.

Diese Zeilen sind das einzige, was von Elzunia bekannt ist. Der Zettel mit dem Text wurde in einem Schuh in Majdanek gefunden. Außerdem schrieb Elzunia, dass sie neun Jahre alt sei und das Lied auf die Melodie des Kinderliedes sang. Kleine Gucklöcher hinter diesem Schacht in der Barackenwand geben den Blick frei auf das Gelände des Lagers, heute Wiesen, eine Baracke, in der Ferne Wald …

Pädagogische Arbeit in Majdanek

Nach dem Besuch der Ausstellung versammeln sich die Jugendlichen unter einem Baum in der Nähe der Baracke, berichten sich von den Biographien und beginnen ihre eigenen Schulfibeln zur Ausstellung zu erstellen. Hier gibt es auch die Möglichkeit direkt über die eigenen Erlebnisse mit dem Gesehenen und Gehörten zu sprechen: Was bedeutet für uns Angst? Was machte am meisten Angst und wie gehen wir damit um? Hier werden die ersten "Ergebnisse" der biographischen Recherche besprochen: die Unterschiede in der Behandlung der jüdischen Kinder und der nichtjüdischen herausgearbeitet – die Geschichte von Henio steht stellvertretend für fast alle jüdischen Kinder.

Martha Grudzinska und Robert Kuwalek, Mitarbeiter des Staatlichen Museums Majdanek, heben hervor, dass mit dieser ersten Nachbereitung die Auseinandersetzung nicht beendet ist, denn das Nachdenken über die Erlebnisse ist nicht abgeschlossen und auch die Fibeln sind noch nicht fertig. Die Jugendlichen werden aufgefordert, ihre Gedanken und Gefühle weiter aufzuschreiben und sie dem Museum Majdanek zuzuschicken. In Kürze wird ein erstes Buch erscheinen, in dem die Briefe, Gedichte und Aufsätze – die Fibelbeiträge – gesammelt sind.

Lublin, 6. Juni 2003
Mein Name ist Ela und ich bin in der zweiten Klasse einer Lubliner Sekundarschule. Ich schreibe diesen Brief, um meine Gefühle auszudrücken, die mich seit einer Weile begleiten. (…)
Ich erinnere noch den speziellen Geruch der Baracke, das Zwielicht und die Kinderstimmen um mich herum. Das alles erschreckte mich, aber meine Neugierde überwog. Als ich die Tafeln las, die Beschreibungen von Majdanek, gesehen aus den Augen der Kinder, die hier eingesperrt waren, verstand ich die schrecklichen Dinge, die sie erleben mussten. (…)
„Elzunias Lied“, wie es von den OrganisatorInnen in der Ausstellung genannt wird, hat mich tief bewegt, wie es aus dem Schacht herausklang. (…)
Ich glaube, euch geht es gut, wo immer ihr seid, sicherlich besser als damals auf der Erde. Ich wünsche mir und allen Menschen auf dieser Welt, dass sie nie das durchmachen müssen, was ihr musstet als Opfer eines sinnlosen Krieges.
Beste Grüße
Elzbieta (in: The Primer - Chrildren in Majdanek, Lublin 2003)

Die Realisierung des Ausstellungsprojektes, das ermöglicht wurde durch Finanzierungen der Europäischen Kommission, des "Brama Grodzka – Teatr NN" Centre und das staatliche Museum Majdanek, bedeutete ein Jahr Arbeit des Katalogisierens, der Auswahl des Materials und der Erstellung des pädagogischen Programms. Die Eröffnung der Ausstellung wurde begleitet von einer Konferenz, die sich an LehrerInnen und MultiplikatorInnen richtete. Laufende Fortbildungen und Vorbereitungen für PädagogInnen sind fester Bestandteil der Ausstellung.

Und wir danken Martha Grudzinska und Robert Kuwalek für die Begleitung durch die Ausstellung und die intensiven Gespräche, die auch für Erwachsene nach dem Besuch der sehr sensibel konzipierten Ausstellung wichtig sind.

DG / tacheles-reden.de / 2004-09-03