Braune Musik und tödliche "Notwehr":
Spendenaufruf für Prozesskosten der Angehörigen des getöteten Helmut Sackers

Am 31. August 2004 beginnt vor dem Landgericht Halle der Revisionsprozess um den Tod des 60jährigen Helmut Sackers, der am 29. April 2000 in Halberstadt erstochen wurde. ... Im Folgenden veröffentlichen wir den Spendenaufruf und einen Artikel aus der Frankfurter Rundschau vom 25. April 2001, um den Vorfall noch einmal ins Gedächtnis zu rufen...


Spendenaufruf für Prozesskosten der Angehörigen des getöteten Helmut Sackers

Revisionsverfahren vor dem Landgericht Halle am 31. August 2004

Am 31. August 2004 beginnt vor dem Landgericht Halle der Revisionsprozess um den Tod des 60jährigen Helmut Sackers. Der Rentner war am 29. April 2000 in Halberstadt von einem rechtsextremen Skinhead erstochen worden. Helmut Sackers hatte an diesem Abend über Notruf die Polizei verständigt: „Bei uns im Haus werden Nazilieder gespielt, Horst -Wessel-Lied, ganz laut.“ Die Polizeibeamten, die sich daraufhin zu der besagten Wohnung begaben, ermahnten den Wohnungsinhaber, während Helmut Sackers dem damals 29jährigen Skinhead für den Wiederholungsfall mit einer Anzeige drohte. Eine Stunde später war der Kaufmann aus Kleve tot, verblutet an vier Messerstichen im Treppenhaus des Plattenbaus, in dem er mit seiner Lebensgefährtin wohnte.

Vor dem Landgericht Magdeburg endete der erste Prozess gegen Andreas S. im November 2000 mit einem Freispruch, nachdem S. behauptet hatte, er habe in Notwehr zugestochen. Eine rechtsextreme Motivation für die Tat wurde im damaligen Prozess ausgeblendet, obwohl die Polizei bei einer Durchsuchung der Wohnung von Andreas S. über 90 rechtsextreme CDs, aktuelles Propagandamaterial
der verbotenen Organisation Blood & Honour sowie Videos mit Mordaufrufen gegen politische Gegner gefunden hatte.

Im Juli 2001 hob der Bundesgerichtshof den Freispruch wegen offensichtlicher Verfahrensfehler auf, nachdem Verwandte von Helmut Sackers als Nebenkläger Revision eingelegt hatten. Nun wird der Tod von Helmut Sackers vor dem Landgericht Halle erneut verhandelt. Die Anklage lautet auf „Körperverletzung mit Todesfolge“.

Heide Dannenberg, der Lebensgefährtin des getöteten Rentners, geht es in erster Linie nicht mehr um das Strafmass. Nur „ganz umsonst“ soll der Tod von Helmut Sackers nicht gewesen sein. Er tat das, „wovon alle immer sprechen“, er handelte mit Zivilcourage und schritt gegen rechte Umtriebe ein. Dafür musste er mit dem Leben bezahlen.

Sollte im Revisionsverfahren die Konstruktion von der Notwehr des damals 29jährigen Andreas S. aufrecht erhalten und der Täter erneut freigesprochen werden, würden die Angehörigen von Helmut Sackers die Kosten des Hauptverfahrens (bis zu 20.000 €) tragen müssen.

Zur Unterstützung der Angehörigen von Helmut Sackers in ihrem Bemühen um Gerechtigkeit bitten wir Sie um Spenden. Ist das Revisionsverfahren erfolgreich und der Täter wird verurteilt oder gehen mehr Spenden ein, als zur Begleichung der Prozesskosten notwendig sind, werden diese Gelder dem Fonds für Opfer rechtsextremer und fremdenfeindlicher Gewalt in Sachsen- Anhalt zur Verfügung gestellt, um andere Betroffene von rassistischer, antisemitischer oder minderheitenfeindlicher Gewalt zu unterstützen.

Spendeneinzahlungen oder –überweisungen richten Sie bitte an das Konto:
Miteinander e.V., Konto-Nr.: 53 53 53 – Kennwort: „Opferfonds / Revision Halberstadt“
Bank für Sozialwirtschaft Magdeburg – BLZ 810 205 00

ErstunterzeichnerInnen:
Dr. h.c. Hans Koschnick, Ehrenmitglied des Vorstands „Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.“, Berlin
Hans-Jochen Tschiche, Vorstandsvorsitzender Miteinander e.V., Magdeburg
Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende Amadeu-Antonio-Stiftung, Berlin
Prof. Roland Roth, Hochschule Magdeburg-Stendal
Prof. Jochen Fuchs, Hochschule Magdeburg-Stendal
Prof. Micha Brumlik, Direktor des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt/ Main
Prof. Hajo Funke, Freie Universität Berlin
Dr. Christian Staffa, Geschäftsführer Aktion Sühnezeichen Friedendienste e.V., Berlin
Prof. Wolf-Dieter Narr, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Berlin

Über den Eingang Ihrer Spenden erhalten Sie auf Wunsch gerne eine Spendenbescheinigung. Ein Urteil beim Landgericht Halle wird im Dezember 2004 erwartet. Während des Prozesses informiert die Mobile Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt in Sachsen-Anhalt regelmäßig über den Fortgang der Hauptverhandlung. Auf Wunsch senden wir Ihnen die Prozessinformationen und unseren Newsletter direkt zu.
Kontakt: Mobile Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt, c/o Miteinander e.V., Erich-Weinert-Str. 30, 39104 Magdeburg, Tel. 0391-5446710, Fax: 0391-5446711, mobil: 0170-2925361,
http://www.mobile-opferberatung.de

 

Frankfurter Rundschau, 25. April 2001
Braune Musik und tödliche "Notwehr"

Ein Rentner wollte das Horst-Wessel-Lied nicht hören und musste sterben – der Täter bekam einen Freispruch.

Heike Kleffner

Eins, eins, null. Drei Tasten auf dem Telefon, in wenigen Sekunden gewählt. Sie versprechen Hilfe und Einsatzbereitschaft. Genau die wünscht sich Helmut Sackers,
als er am 29. April 2000 zum Hörer greift und den Notruf der Halberstädter Polizei anklingelt. Um 22 Uhr wird das Gespräch dort automatisch aufgezeichnet: "Bei uns im Haus werden Nazilieder gespielt, Horst-Wessel-Lied, ganz laut." Nach dem
Versprechen "Wir gucken uns das mal an" legt Helmut Sackers auf.
Eine Stunde später ist der 60-jährige Kaufmann aus Kleve tot. Verblutet an vier Messerstichen im Treppenhaus eines Plattenbaus, in dem seine Lebensgefährtin wohnte.

"Nachbar nach Streit um laute Musik erstochen", schrieben die Regionalzeitungen damals. So hatte das Polizeipräsidium Halberstadt den Tod gemeldet. Geht es nach Polizeipräsident Andreas Schomaker und Staatsanwältin Heidi Pötzsch, soll es dabei bleiben. Zumal im November drei Richter am Landgericht Magdeburg geurteilt haben, Helmut Sackers sei in "Notwehr" getötet worden und der Täter - der 29-jährige Skinhead Andreas P. - freizusprechen. Ein rechtsextremer Hintergrund? Den gebe es nicht, sagen übereinstimmend der Polizeipräsident und die Staatsanwältin.

Die Staatsanwältin referiert den Fall: Nach Sackers Notruf fuhren zwei Streifenpolizisten zum Plattenbau am Stadtrand. Die Beamten gaben später zu Protokoll, die Musik dort sei zwar laut, die Texte seien aber nicht verständlich gewesen. Während eines sachlichen Gesprächs mit dem Wohnungsinhaber Andreas P. habe Helmut Sackers erregt dabeigestanden und sich eingemischt: "Spielst Du noch einmal Nazilieder, erstatte ich Anzeige!" Danach sei der ältere Mann in die Wohnung seiner Lebensgefährtin Heide Dannenberg zurückgekehrt, die Ruhe im Haus wiederhergestellt und der Einsatz für die Beamten beendet gewesen.

Frau Dannenberg erinnert sich anders: Es blieb laut - und braun. Um Krach allein hätte sich das Paar nicht weiter gekümmert. Sackers sei es um den Inhalt der Musik
gegangen: "Der war eindeutig rechtsextrem." Das möge so gewesen sein, sagt die Staatsanwältin, doch werde daraus noch lange kein politischer Hintergrund. Fest stehe lediglich, dass der Skinhead und der Rentner an jenem Abend nach dem Polizeieinsatz noch zweimal im Treppenhaus des hellhörigen Plattenbaus aufeinander trafen. Für die erste Begegnung gibt es einen Zeugen. Ein Freund von Andreas P. berichtet von einem lautstarken Wortwechsel, in dessen Verlauf sich der junge Mann über den Polizeieinsatz beschwert und Sackers gefragt habe, ob er Kommunist sei. Bei der zweiten Begegnung bleibt es nicht bei Worten. Andreas P. beobachtet vom Balkon aus, wie Sackers von einem Gang mit seinem Hund zum Hauseingang zurückkehrt. Andreas P. läuft daraufhin die sechs Stockwerke zum Eingang herunter. Warum? "Um seinen Freund zu verabschieden", der noch draußen auf dem Gehweg gestanden habe, sagt die Staatsanwältin. Und warum muss man dazu ein Messer mit einer 17 Zentimeter langen Klinge mitnehmen? Das habe Andreas P. "zum Selbstschutz" immer bei sich getragen, seit ihm 1991 ein Unbekannter in Magdeburg schwere Stichverletzungen zufügte.

Auch für die anschließende tödliche Auseinandersetzung gibt es laut Pötzsch einen Zeugen. Andreas P.s Verlobte sei dabei gewesen, als Helmut Sackers den Skinhead im Hauseingang erst beleidigt, dann den Hund auf das Pärchen gehetzt und schließlich den 30 Jahre Jüngeren gepackt habe, um ihn die Kellertreppe hinunterzustoßen. "In Todesangst" habe Andreas P. - fest im Klammergriff des Rentners - zum Messer gegriffen und zugestochen: in die Wade, in den Magen, in die Brust und unterhalb der Achsel. Jawohl, sagt Heidi Pötzsch, die Notwehrsituation sei vom Täter und seiner Freundin im Prozess glaubhaft geschildert worden. Hatte die Verlobte zunächst nicht das Gegenteil ausgesagt? Dass sie zum Tatzeitpunkt in der Wohnung gewesen sei? Hier hebt Staatsanwältin Pötzsch die Stimme: "Die Zeugin war glaubwürdig."

"Die Freundin hat gelogen", meint dagegen der Reporter einer Magdeburger Zeitung, das sei im Gerichtssaal jedermann klar gewesen. Und Heide Dannenberg bestätigt: Ihr Lebensgefährte sei ein Mann der Worte gewesen, einer, der viel diskutiert und als Sozialdemokrat an Toleranz und Demokratie geglaubt habe. Sicherlich, ihr Freund habe mit seiner Meinung nicht hinterm Berg gehalten. Aber zuschlagen, noch dazu bei jemandem, dem der lungenkranke ältere Mann körperlich unterlegen war? "Selbst bei unseren Disputen war ich die Lautere."

Eine letzte Frage an die Staatsanwältin. Warum kam im Prozess nicht zur Sprache, dass die Ermittler der Mordkommission bei Andreas P. über 80 CDs mit
rechtsextremen Kampfliedern, Dutzende von Kassetten und Videos sowie 90 aktuelle Hefte mit Neonazi-Propaganda fanden? Für verfassungsfeindliche Propaganda sei ein anderes Dezernat der Staatsanwaltschaft zuständig, sagt Heidi Pötzsch. Sie kennt die Bands nicht, die sich "Landser", "Blue Eyed Devils" und "Freikorps" nennen. Es sei Sache des Kollegen, dass auf dem "Kriegsberichter"-Video, das Andreas P. von einem Versand namens "NS 88" aus Schweden bezogen hatte, offen zum Mord an "Roten" aufgerufen wird. Mit dem Tod von Sackers habe das gar nichts zu tun. Andreas P. habe die Musik nur zum Privatgebrauch gehört, "einschlägig rechtsextrem" aufgefallen sei er nicht.

Die rechte Szene wurde in Halberstadt bis 1996 in einem staatlich geförderten Projekt betreut. Nur ungern erinnern sich ehemalige Sozialarbeiter, dass Andreas P. als Mitläufer zu der Clique gehörte, die durch die Gegend fuhr und zuschlug. Mal traf es Linke in Quedlinburg, mal Ausländer in Magdeburg. Als der Schienenfahrzeugmechaniker P. 1991 nach einem dieser Ausflüge mit Messerverletzungen im Krankenhaus landete, spotteten die Kollegen: Da habe sich eines der Opfer wohl gewehrt.

Andreas P. habe sich längst aus der rechten Szene gelöst, behauptet sein Verteidiger. Bernd Wagner, Rechtsextremismus-Experte und Leiter des Zentrums Demokratische Kultur in Berlin, ist skeptisch: Wer "nicht nur indizierte rechtsextreme Tonträger, sondern auch neuestes Propagandamaterial von Neonazigruppen wie Blood & Honour und dem Hamburger Sturm in dutzendfachen Ausführungen" besitzt, müsse über gute Kontakte zur Szene verfügen.

Dies herauszufinden, ist die Aufgabe von Staatsanwaltschaft und Polizei, sagt der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, den die Angehörigen von Helmut Sackers nach dem Urteil eingeschaltet haben. Von entsprechenden Ermittlungen findet sich jedoch in den Akten keine Spur. Kalecks Fazit: Das Gericht habe die Notwehrsituation nur konstruieren können, weil die politischen Hintergründe ausgeklammert blieben. Im Prozess sei das Opfer zum Täter, ein rechtsextremer Skinhead zum "netten Jungen von nebenan" geworden. Anders lautende Passagen
eines Gutachtens zur Persönlichkeit von Andreas P. blieben unbeachtet. Ob die Bedenken ausreichen für einen neuen Prozess, muss jetzt der Bundesgerichtshof entscheiden.

Heide Dannenberg geht es nicht mehr um Strafe. Nur ganz umsonst soll der Tod ihres Lebensgefährten nicht gewesen sein. Das denkt sie oft, wenn wieder mal ein Prominenter zu Zivilcourage gegen rechts aufruft. Sackers habe getan, "wovon alle immer sprechen". Der Anwalt von Andreas P. sagt: Hätte der Rentner sich "zivilisiert verhalten", könnte er noch leben. Einiges sei unglücklich gelaufen in diesem Fall, heißt es bei der Polizei. Pech für Sackers.

Glück für das Land Sachsen-Anhalt, dessen Statistik fürs vergangene Jahr "nur" ein Tötungsdelikt mit rechtsextremem Hintergrund verzeichnet. Die bürokratische Registratur verweigert Helmut Sackers die Anerkennung als Opfer brauner Gewalt und Bürger, der den Mut hatte, dagegen anzugehen. In den Akten ist er beerdigt als ein Mann, dem die Musik zu laut war.


 

gs / tacheles-reden.de / 2004-07-20