Eine Veranstaltung des Bildungswerk Stanislaw Hantz :
Das Ghetto Lodz- Im Spiegel der Ghettochronik

60 Jahre lang verstaubten die Aufzeichnungen über das Leben und Sterben von über 250.000 Juden und Jüdinnen, die zwischen 1940 und 1944 im Lodzer Ghetto zusammengepfercht waren, in verschiedenen Archiven und wurden kaum beachtet, jetzt wird die Lodzer Ghetto Chronik von der Arbeitsstelle Holocaust Literatur der Universität Gießen in Zusammenarbeit mit KollegInnen aus dem Lodzer Staatsarchiv erstmals komplett auf deutsch und polnisch herausgegeben. ...

Tanja Kinzel - tacheles reden


Das Ghetto, das Oskar Rosenfeld, einer der leitenden Chronisten des Ghettos, den „Krepierwinkel Europas“ genannt hat, wie Sascha Feuchert stellvertretender Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur auf seinem Vortrag im Berliner Anne Frank Zentrum berichtete, lag lange Zeit am Rande des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses. Als Gründe hierfür führte Sascha Feuchert an, dass im Ghetto von Lodz einerseits große symbolische Widerstandshandlungen gefehlt hätten, andererseits Mordechai Chaim Rumkowski, der Vorsitzende des von den Deutschen eingesetzten Lodzer Judenrates - „Chaim der 1.“, wie Hanna Arendt ihn in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem genannt hat - zu einer der umstrittensten Persönlichkeiten in der Geschichte der Judenräte gehört.

Erst in den letzten 10 Jahren habe sich das Interesse an der Geschichte des Ghettos von Lodz langsam verändert. Dieses Jahr werden zum 60. Jahrestag der Liquidierung des Ghettos im August öffentliche Gedenkfeierlichkeiten stattfinden, im Oktober gibt es zum ersten Mal einen wissenschaftlichen Kongress vor Ort. Aber im Bewusstsein der lokalen Bevölkerung tauche das Ghetto nicht auf, berichtete Feuchert. Kaum Hinweise und nur wenige Tafeln verweisen auf die vier Quadratkilometer qualvolle Enge in der tausende von Jüdinnen und Juden vier Jahre lang eingesperrt waren. Die Holzhäuser, in denen die GhettobewohnerInnen lebten, stehen zwar nicht mehr, aber das Spital, das Kripogebäude und das Gebäude gegenüber der Kirche, in dem das Archiv untergebracht war, sind noch vorhanden. Die Frage sei, was mit dem passiere, was noch erhalten sei, so zum Beispiel auch mit dem Bahnhof Radegast, von dem aus die Deportationszüge losgefahren seien. Seit Jahren soll dort etwas gemacht werden. Lodz sei ein Stiefkind, ein Niemandsland, wiederholte Feuchert, dieses Jahr werde allerdings entschieden, wie mit der Geschichte weiter umgegangen wird.


Die Zerstörung jüdischen Lebens

Vor dem zweiten Weltkrieg war Lodz einer der wichtigsten Standorte der Textilindustrie Polens und nach Warschau das zweitgrößte Zentrum jüdischen Lebens. 1939 waren 34,7% der EinwohnerInnen, 233 000 Menschen, jüdischen Glaubens. Der Charakter der jüdischen Gemeinde war von der jüdischen ArbeiterInnenschaft geprägt, über fünzig Prozent der jüdischen Bevölkerung war in der Industrie tätig. Viele der Lodzer Jüdinnen und Juden beteiligten sich aktiv am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben der Stadt. Es gab zahlreiche jüdische Parteien, deren Vertreter in der Stadtverwaltung saßen, jüdische Presseorgane und Bildungseinrichtungen, Theater und Sportvereine. Neben den kulturellen Errungenschaften waren Fürsorgeeinrichtungen wie Hospitäler und Waisenhäuser von besonderer Bedeutung. 

Eine Woche nach dem deutschen Überfall auf Polen, am 8. September 1939, wurde Lodz besetzt und im November dem Deutschen Reich als Teil des „Reichsgau Wartheland“  einverleibt. Am 11. April 1940 erhielt die Stadt den Namen „Litzmannstadt“, benannt nach dem deutschen General und bekennenden Nazi Karl Litzmann (1850-1936), dessen Division im Ersten Weltkrieg siegreich aus der Kesselschlacht bei Lodz hervorgegangen war. „Bereits wenige Tagen nach der Besetzung erfolgten die ersten antijüdischen Maßnahmen“, betonte Feuchert. Die jüdische Bevölkerung wurde völlig entrechtet und unterlag ab November der Kennzeichnungspflicht. Unter dem Vorwand der Waffensuche wurden in den folgenden Monaten jüdische Wohnungen und Häuser geplündert, Synagogen wurden in Brand gesteckt. Für die Verfolgung der Juden und Jüdinnen war das Einsatzkommando II unter SS Sturmbannführer Fritz Lipphardt verantwortlich, das Unterstützung von einer „Selbstschutz-Einheit“ von 15000 ortsansässigen „Voksdeutschen“ erhielt. Der Abtransport zur Zwangsarbeit, die Ausschreitungen und Schikanen führten schon bald zum Zusammenbruch des wirtschaftlichen und sozialen Lebens der Lodzer Juden und Jüdinnen.

Am 12. November 1939 begannen die Deportationen, „Umsiedlungsprogramme“ genannt. Da die ins Reich eingegliederte Stadt, nach Vorstellung der Deutschen „volksdeutsch“ und „judenfrei“ werden sollte, war der Plan 30 000 Juden und Jüdinnen und ebenso viele nichtjüdische Polen/innen aus der Stadt zu deportieren. Die jüdische Bevölkerung wurde nach Ostpolen, ins Generalgouvernement verschleppt, auch viele nichtjüdische Polen/innen wurden ausgewiesen und Deutsche siedelten sich in der Stadt an. Als sich Generalgouverneur Hans Frank, Verwaltungschef für die gesamte zivile Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete, gegen die „Umsiedlungspolitik“ wehrte, weil auch er ein „judenfreies“ Generalgouvernement haben wollte, erließ Friedrich Übelhör, der verantwortliche Gouverneur für den Kalisz-Lodz Distrikt einen Geheimbefehl zur Errichtung eines Ghettos. Er ging davon aus, dass es sich dabei nur um eine Übergangslösung auf dem Weg  zur  - so wörtlich - „Ausbrennung der Pestbeule“ handele, erzählte Feuchert. Am 8. Februar 1940 wurde das jüdische Armenviertel Baluty und die Vorstadt Marysin, im nördlichen Stadtgebiet von Lodz, offiziell zum Ghetto erklärt und die jüdische Bevölkerung dorthin getrieben. Am 30. April 1940 wurde das Ghetto hermetisch abgeriegelt, die 164 000 verbleibenden Jüdinnen und Juden aus Lodz waren auf vier Quadratkilometern in Holzhäusern ohne Kanalisation und meist ohne Wasserleitungen eingesperrt.

Im Inneren des Ghettos

Für die jüdische Bevölkerung gab es nach der hermetischen Abriegelung des Ghettos meist keine Möglichkeiten mehr dort hinein- oder herauszukommen. Die fehlende Kanalisation und die hohe Präsenz volksdeutscher Bevölkerung außerhalb des Ghettos machte Kontakte zu Außenwelt nahezu unmöglich und habe auch die Beschaffung von Nahrungsmitteln erschwert, so Feuchert. Ab 1940 wurde auch der Postverkehr auf ein Minimum beschränkt, später wurde er völlig verboten. Damit war das Ghetto fast völlig isoliert. Zu den  Lodzer Juden und Jüdinnen kamen 1941 und 1942 jüdische Deportierte aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Luxemburg, sowie aus den Provinzstädten des Wartegaus hinzu. Neben der Überfüllung, der unzureichenden sanitären Ausstattung, Epidemien und Kälte, gehörte der Hunger zu den größten Problemen im Ghetto. „Was essen jetzt die Menschen?“ fragte Oskar Singer, ab 1942 Leiter des Projektes der Lodzer Ghettochronik, im Sommer 1942 in seinen Aufzeichnungen und meinte damit nicht die Größe der Rationen. „Überall in Europa essen jetzt die Menschen frisches Gemüse, das zu dieser Zeit immer schon in ausreichenden Mengen vorhanden ist. Das Ghetto hat nichts“ (1). Gegessen und im Preis hoch gehandelt wurde Unkraut und damit das, was bisher „im besten Falle zur Viehfütterung verwendet wurde“ (2), hält er fest.

Bereits Ende des Jahres 1940 waren alle Nahrungsmittel rationiert, so dass ohne Nahrungsmittelkarten keine Lebensmittel mehr erhältlich waren. Die Überlebenschancen im Ghetto waren allein von den Arbeitsmöglichkeiten abhängig, die gesamte Bevölkerung zwischen 10 und 65 Jahren wurde einer faktischen Arbeitspflicht unterworfen. Waren 1940 in 18 Betrieben fast 7 000 Menschen beschäftigt, waren es 1943 verteilt auf 93 Ressorts bereits 70 000, zu diesem Zeitpunkt 85% der GhettobewohnerInnen. Nahezu die gesamte Ghetto-Bevölkerung war in den Zwangsarbeitsprozess eingegliedert worden. In drei Schichten Tag und Nacht mussten die GhettobewohnerInnen nahezu alle textilen Ausrüstungsgegenstände für deutsche Soldaten und für viele private Firmen und Textilhändler des Deutschen Reichs (u.a. Neckermann, Karstadt, Leineweber) herstellen. So rühre beispielsweise der Reichtum von Neckermann noch aus dieser Zeit, hielt Feuchert fest. Die Anzahl der Todesfälle im Ghetto war in Folge der Ausbeutung bei völlig unzureichender Verpflegung und aufgrund von mangelnder medizinischer Versorgung sehr hoch, in der gesamten Zeit des Bestehens starben ungefähr 23% der dort Eingesperrten.

Die Organisationsstruktur des Ghettos bestand aus der deutschen Ghettoverwaltung unter der Leitung des Bremer Kaufmannes Hans Biebow, deutscher Polizeiaufsicht und der sog. jüdischen Selbstverwaltung, der Mordechai Chaim Rumkowski vorstand. Von den Deutschen bereits im Oktober 1939 zum „Ältesten der Juden“ ernannt, oblag Rumkowski faktisch die alleinige Aufsicht, Verwaltung und Verantwortung über das Ghetto. Im Bereich der inneren Aufsicht konnte er zwar uneingeschränkte Macht ausüben, zugleich war er jedoch die einzige Verbindungsperson zu den deutschen Behörden und stand damit in deren Verantwortung, berichtete Feuchert. Seine beständig ausgebaute Ghettoverwaltung mit zahlreichen Behörden umfasste neben der Verteilung des von den Deutschen zugeteilten Essens, die Verwaltung der Wohnungen, ein Schulsystem mit 54 Grund- und zwei weiterführenden Schulen, fünf Krankenhäuser, sowie eine eigene Gerichtsbarkeit und ein Gefängnis.

 Mit Biebow und Rumkowski ergab sich eine Konstellation, die dazu führte, dass das Lodzer Ghetto zu einem der am längsten existierenden Ghettos wurde. Biebows Interesse das Ghetto auszupressen, entsprach die Entscheidung Rumkowskis, das Heil des Ghettos in der Arbeit zu suchen.

„Der einzige Weg ist die Arbeit“

„Es gibt Bestrebungen aus Biebow einen zweiten Schindler zu machen, aber dafür gibt es zu viele Widersprüche“, betonte Sascha Feuchert in seinem Vortrag. So habe es von Anfang an den Plan gegeben die Juden und Jüdinnen zu exekutieren, Biebows Ziel sei gewesen ihre Arbeitskraft bis dahin restlos auszupressen. „Biebow hat für seine Arbeit keine Besoldung verlangt“, so Feuchert, „und er wusste warum er das machte“. Denn den Mitgliedern der deutschen Ghettoverwaltung entstanden aus ihrer Tätigkeit zahlreiche Vorteile. Neben der Möglichkeit Karriere zu machen und sich zu bereichen, blieben sie, solange sie in der Ghettoverwaltung arbeiteten, von der Front verschont. Ab Mai 1940 ordnete Biebow die Errichtung von Fabriken an, in denen die GhettobewohnerInnen aller anderen Einkunftsmöglichkeiten beraubt, gezwungen waren, für ein Stück Brot und einen Teller Suppe am Tag zu arbeiten.

Rumkowski trug diese Politik mit, die die Arbeitsunfähigen, Alten und Kranken dem Hungertod freigab. „Unser einziger Weg  ist die Arbeit“, so lautete seine berühmte Parole, mit der er die Anforderungen der Deutschen zum Programm machte, um das Ghetto am Leben zu erhalten. Seine Person ist bis heute umstritten. Viele Überlebende und auch WissenschaftlerInnen beurteilen ihn als einen engen Kollaborateur der Nazis, der für die Umgestaltung des Ghettos zu einem Ort, an dem nur noch „Arbeitsfähige“ ein Existenzrecht hatten mitverantwortlich war, berichtete Feuchert. „Rumkowski war ein rationalistischer Ökonom, der eine autokratische Regierung aufgebaut hatte“, ist seine Einschätzung. Er habe auch Leute, die mit seinem Kurs nicht einverstanden waren, abgesetzt und dem Tod preisgegeben. Andere hingegen beurteilen seine Politik der ständigen Erweiterung der Beschäftigung und Steigerung der Arbeitsleistung als richtigen Weg zur Rettung großer Teile der Bevölkerung. Trotz der katastrophalen Lage versuchte er immer mehr Arbeitsleistung aus den GhettobewohnerInnen herauszupressen, um die Deutschen zu beschwichtigen. „Der Arbeiter muss das letzte an Kräften hergeben. Ist das geschehen, so mag er zugrunde gehen. Das Ghetto hat für Kranke nur Platz - in Marysin!“ (3), notierte Singer 1942. 

„Nach heutigem Forschungsstand wusste Rumkowski ab Mitte 1942, wohin die Deportationen gingen“, erzählte Feuchert. Während der „Allgemeinen Gehsperre“ vom 5.-12. September 1942, die das Verlassen der Häuser untersagte, forderte Rumkowski die GhettobewohnerInnen auf, alle Kinder unter zehn Jahren und die Alten über fünfundsechzig zur Deportation auszuliefern, um die „Arbeitsfähigen“ zu erhalten. 20 000 Menschen hatten die Deutschen gefordert. Auf den Strassen spielten sich dramatische Szenen ab: Viele Eltern weigerten sich ihre Kinder dem Tod preiszugeben. Am 16. September 1942 schreibt Oskar Singer in seinen Aufzeichnungen: „Jede Mutter wirft sich auf den Polizisten, mit einem Messer, einer Axt in der Hand. Sie lässt sich eher umbringen, als ihr Kind zu opfern. Sie halten die Kinder mit letzter Mühe, schlagen mit den Fäusten die Polizisten, `gebt eure eigenen Sprösslinge in den Tod, ich gebe meine nicht weg`“ (4).  Dem jüdischen Ordnungsdienst kam schließlich die Gestapo zu Hilfe, die Kinder, Alten und Kranken wurden in das Vernichtungslager Chelmno deportiert. 

Deportationen und die Liquidierung des Ghettos

Ende 1941 wurde das Vernichtungslager Chelmno/Kulmhof, als erstes nationalsozialistisches Vernichtungslager 70 Kilometer westlich von Lodz errichtet. In einem von dem im Warthegau stationierten SS Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner verfassten Brief an den SS- Obersturmbannführer Adolf Eichmann im Juli 1941 wird erstmals darauf hingewiesen, dass angesichts der „Gefahr“, dass die Juden nicht mehr ernährt werden können, diese „durch ein schnell wirksames Gift zu erledigen“ (5) seien. Das „Sonderkommando Lange“ das von SS-Hauptsturmführer Lange befehligt wurde, war für den Bau des zweiteiligen Vernichtungslagers zuständig. Der erste Teil war der Sammelplatz für die Opfer und der Ort der Ermordung in Lastwagen, einer Spezialanfertigung zur Tötung durch Giftgas, vier km davon entfernt im Wald wurden die Leichen vergraben. Im Lager waren jüdische Zwangsarbeiter untergebracht, die die Leichen verbrennen mussten.

Die Besatzer veranlassten Rumkowski die Deportationslisten zu erstellen und Sammelplätze am Rand des Ghettos bereitzustellen. Im Dezember 1941 wurden die Gaswagen zum ersten Mal zur Ermordung eingesetzt. Zu den ersten in Chelmno Ermordeten gehörten neben Juden und Jüdinnen aus der Umgebung von Lodz auch 5 000 Roma, die im Herbst desselben Jahres ins Ghetto deportiert worden waren und auf Anweisung Rumkowskis in einem separaten Teil des Ghettos untergebracht waren. „Das Ghetto hat seine Dynamik. Das Elend dieser Menschen hat seine Gesetze. Für diese Unglücklichen gibt es keine Atempause“ (6), schrieb Oskar Singer am 14. Mai 1942 angesichts der fortwährenden „Aussiedlung“, der eben erst neu Eingesiedelten in seinen Aufzeichnungen.

Nach der Deportation der Kinder, Alten und Kranken bestand das Ghetto nur noch aus ArbeiterInnen, die v.a. für die Rüstungsindustrie ausgebeutet wurden. Die Deportationen wurden eingestellt. Das Ghetto glich einem riesigen Zwangsarbeitslager, nahezu 90% der Ghettobewohner waren in Fabriken beschäftigt. Am 10. Juni 1944 ordnete Heinrich Himmler die Liquidierung des Ghettos an. Trotz Einspruchs von Seiten der Rüstungsindustrie, insbesondere Albert Speers, wurde das Ghetto geräumt. Unter dem Vorwand des Transportes zur Zwangsarbeit nach Deutschland wurden die verbleibenden GhettobewohnerInnen nach Chelmno deportiert und ermordet. Die Deportationen wurde Mitte Juli unterbrochen und gingen dann ab August - angesichts der näher rückenden Roten Armee - direkt nach Auschwitz. Chelmno wurde dem Erboden gleichgemacht. Da die Aufrufe der deutschen Behörden zur „freiwilligen Ausreise“ erfolglos blieben, wurden von der Gestapo Razzien durchgeführt. Chaim Rumkowski, der zu den letzten Deportierten gehörte, wurde kurz nach seiner Ankunft in Auschwitz unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet. Nur ein „Aufräumkommando“ von 600 Juden und Jüdinnen ließen die Deutschen zurück, zu denen später noch ungefähr 230 Versteckte stießen.

Wege der Ghettochronik

Der Briefträger Nachman Zonnabend, der zu den von den deutschen Behörden zwecks Aufräumarbeiten Zurückgelassenen gehörte, fand die vor der Ghettobevölkerung geheimgehaltene Ghettochronik zusammen mit anderen Dokumenten im Archiv, zu dem er als Briefträger zutritt hatte. Während die SS die Wohnungen plünderte, packte er die Dokumente in einem großen Sack und versteckte sie in einem stillgelegten Brunnen. Nachdem er durch glückliche Umstände die Befreiung erlebte, kam er nach dem Krieg zurück und verteilte die Dokumente in den folgenden Jahren auf die ihm am wichtigsten erscheinenden  Institutionen: einen Teil gab er an das New Yorker YIVO, einen Teil nach Yad Vaschem und die Chronik an das Warschauer Staatsarchiv. Von dort aus wurde sie während der antisemitischen Kampagne in Polen in den 60er Jahren nach Lodz gebracht und dort auf dem Dachboden versteckt. Sascha Feuchert spricht in diesem Zusammenhang von einem Versagen der Archivare. In Lodz lag die Chronik auf dem Dachboden, wo es sogar hineingeregnet habe. 60 Jahre lang habe sich niemand darum gekümmert.

Teile der 2000 Seiten umfassenden Chronik wurden zwar in den 60er Jahren in Polen veröffentlicht, eine umfangreiche Auswahl wurde ins Englische übersetzt und in den 80er Jahren in den USA publiziert und auch auf Hebräisch ist ein Teil der Chronik bereits in Israel erschienen. Eine deutsche Edition oder eine umfangreichere polnische Ausgabe gibt es jedoch bislang nicht. Das müsse man sich einmal vorstellen, betonte Feuchert, diese Chronik, die im Ghetto geheimgehalten und also nur mit Blick auf einen möglichen „Leser der Zukunft“ geschrieben wurde und nur durch den Mut eines Einzelnen und Glück nicht in die Hände der Deutschen gefallen sei, die die meisten Dokumente verbrannt hätten, sei so lange völlig ignoriert worden. Vor 20 Jahren hätte man noch mit dem berühmtesten Liedermacher des Ghettos reden können, jetzt sei es zu spät, bedauerte er. Und dabei seien die Seiten der Chronik schon im Entstehen ein Triumph des jüdischen Überlebenswillens gewesen. Gleichzeitig seien sie ein Testament, da die Chronisten 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. „Es wird Zeit“, betonte er, „dass die Chronik entsprechend gewürdigt wird“.

Schreiben als Widerstand

Im Ghetto gab es zahlreiche Widerstandsformen im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich. So setzen die verschiedenen politischen Parteien und Jugendorganisationen auch im Ghetto ihre Aktivitäten und Treffen fort, richteten Suppenküchen und Fürsorgeeinrichtungen ein und organisierten ein engagiertes Kulturangebot, um den Lebensmut der GhettobewohnerInnen zu stärken. Es gab Seminare, Vorlesungen und Untergrundbüchereien. Von großer Bedeutung war eine Gruppe, die ausländische Rundfunkmeldungen abhörte, da das die einzige Möglichkeit war, an Informationen über die weltpolitische Lage zu gelangen. Und es gab die Suppenstreiks, dieser Ausdruck kaum vorstellbaren Widerstandswillens, als die Menschen, die ohnehin schon hungerten, die Aufnahme der Suppe verweigerten, um Rumkowski zu einer gerechteren Verteilung der Lebensmittel zu bewegen. Diese Streiks und Demonstrationen wurden von Rumkowski mit Hilfe von deutschen Polizeitruppen brutal niedergeschlagen.  

Der Hauptwiderstand fand Feucherts Einschätzung zufolge jedoch schreibend statt, in Tagebüchern, in der Ghetto Chronik. Er erinnerte an die Worte Hanna Kralls: Wenn die Toten schon keinen Grabstein haben, sollen sie wenigstens in einem Buch stehen. Schreiben also als Signal an die Nachwelt, als Form des Widerstandes.  „Es ist richtig, dass das Ghetto eine lernaeische Schlange ist. Aber es ist organisiert. Es ist geleitet von Menschen, die trotz allen menschlichen Unzulänglichkeiten doch ein einziges großes Ziel vor sich sehen: diese Gemeinschaft in eine bessere Zeit hinüberzuretten. Dieser Wille ist ehrlich und stark. Wird er stark genug sein?“ (7), fragte Oskar Singer am 15. Mai 1942 in seinen Aufzeichnungen. Und im Winter 1942/43 in seinem Text Mieten auf! richtet er sich an den Leser der Zukunft: „Weisst Du Leser der Zukunft, der du vielleicht diese Zeilen mit vielen anderen ebenfalls verborgenen mit Schaudern und Gänsehaut lesen wirst, was dieses Signal bedeutet hat im Winter 1943, im vierten Ghettojahr, im dritten Ghettowinter? Mieten auf! Das bedeutet Kartoffeln, gesunde Kartoffeln und Gemüse für die Küchen und die kargen Rationen. Und Kartoffeln sind das Leben des Ghettos, in des Wortes buchstäblicher Bedeutung“ (8).

Die Ghettochronik wurde im Januar 1941 von den Archivaren des Judenrats initiiert und bis zum 30. Juli 1944 fortgeführt. Das Archiv, die sogenannte Statistische Abteilung, hatte die Aufgabe Quellen bereitzustellen “für zukünftige Gelehrte, die das Leben einer Jüdischen Gemeinschaft  in einer ihrer schwersten Zeiten studieren“ (9), wie es Henryk Neftalin, der Gründer des Archivs formulierte. Die Lodzer Ghettochronik unterlag im Unterschied zu anderen geheimen Archiven, wie etwa dem der Oneg Schabbat Gruppe um Emanuel Ringelblum in Warschau, allerdings der Zensur, erläuterte Feuchert. Die Mitglieder waren offizielle Beamte des Judenrats und von Rumkowski abhängig. „Das hat auch die Textproduktion eingeschränkt“, so Feuchert. Eingeschränkt wurde sie zusätzlich durch den Hunger, die Kälte und die Todesfälle, die es auch im Archiv gab. Zudem waren die Nachrichtenlieferanten die Chronisten selber. Sie selbst seien durch die Gassen des Ghettos gegangen und hätten die Informationen gesammelt, es gebe also keine Möglichkeit der Überprüfung. Die Geheimhaltung der Ghettochronik innerhalb des Ghettos, so berichtete er weiter, sei wahrscheinlich auf die Angst Rumkowskis vor den Deutschen zurückzuführen, ob zumindest Einzelne, zum Beispiel Biebow von der Chronik wussten sei allerdings unklar. Klar ist, dass die Chronik an der Angst vor den Deutschen insofern ausgerichtet war, als diese im Text schlicht nicht vorkommen. Deutsche werden in der Chronik nicht erwähnt, sie waren ja auch im Ghetto kaum anwesend, betonte Feuchert.

Die Ghettochronik und ihre ChronistInnen

Unter Julian Cuckier, dem ehemaligen in Polen populären „Republika“- Journalisten und ersten Leiter des Projektes, wurde die Chronik auf polnisch geführt. Festgehalten wurden der Bevölkerungsstand, die Versorgungslage, das Wetter und vieles mehr. Als Cukier aufgrund des Hungers und der Kälte 1942, wie so viele andere erkrankte und schließlich starb, wurde sie zunächst auf deutsch und polnisch weitergeführt bis Dr. Oskar Singer Ende 1942 zusammen mit Dr. Oskar Rosenfeld die Leitung der Chronik übernahm.

Singer gehörte vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges in Prag zu den führenden Journalisten, der u.a. für die Zeitungen „Prager Tagblatt“, „Montag“ und „Selbstwehr“ arbeitete und war mit seinem Theaterstück „Herren der Welt. Zeitstück in drei Akten.“ schon früh als weitsichtiger Gegner der Nationalsozialisten hervorgetreten, so Feuchert. Er war dem linken Spektrum des Zionismus zuzurechnen und wurde 1939 Chefredakteur des „Jüdischen Nachrichtenblattes“ - Organ der jüdischen Gemeinde und der zionistischen Organisationen. 1941 wurde er zusammen mit seiner Familie nach Lodz deportiert. Auch Rosenfeld (1885 – 1944) war vor dem Krieg als Journalist und Romancier zionistischer Prägung tätig. Er schrieb in Wien für verschiedene jüdische Zeitungen und war Mitbegründer des ersten jüdischen Theaters in Wien. Ab 1920 wurde er im Kontext des wachsenden Antisemitismus in Wien zum radikalen Zionisten, der die Besetzung Palästinas auch mit Waffengewalt forderte, wie Feuchert erzählte. 1938 floh er mit seiner Frau nach Prag, wo er für den Londoner „Jewish Chronicle“ als Korrespondent tätig war. Zwei Tage vor seiner geplanten Reise nach England, fiel er den Deutschen in die Hände und wurde nach Lodz deportiert. Dort wurde er entsprechend seiner Tätigkeit als Feuilleton Redakteur in der Wiener Zeit, Leiter des kulturellen Teils der Chronik. Zu den ChrinistInnen gehörten außerdem u.a. Alice Chana de Buton, Dr. Bernard Heilig und Dr. Peter Wertheimer.

Unter der Ägide von Singer und Rosenfeld habe sich nicht nur die Sprache der Chronik zum Deutschen geändert, sondern auch der Stil der Chronik habe sich verändert, so Feuchert. Singer habe die Chronik im Stil einer Zeitung aufgebaut, was teilweise auch im Text sichtbar sei. Es wurden zahlreiche feuilletonistische Elemente, etwa die Rubrik „Der kleine Ghettospiegel“ oder ab 1943 die Kolumne „Man hört, man spricht“ in die Chronik aufgenommen. Letztere griff vor allem die Rolle des Gerüchts in der geschlossenen Ghettogesellschaft auf, in der es kaum Möglichkeiten gab an Informationen heranzukommen. Die Gerüchte drückten zugleich Hoffnung aus, sie seien meistens positiver Art gewesen, erzählte Feuchert, und handelten etwa von der näher rückenden Front, von Lebensmitteln die ins Ghetto kommen sollten und von dem Ziel der sog. Aussiedlungen. Außerdem flossen Humoresken, Fortsetzungsgeschichten und die Schilderung einzelner Ghettoschicksale in den Text ein. Fortsetzungsgeschichten ohne LeserInnen - denn vor den GhettobeohnerInnen wurde die Chronik weiterhin geheim gehalten.

Auch Singer vollzog die Materialsammlung in aller Stille, nach dem Wunsch Rumkowkis, erläuterte Feuchert. Immer wieder wird deutlich wie sehr sich der Text an den  „Leser der Zukunft“ richtet. „Konnten sie davon ausgehen, dass die Falschenpost uns erreicht?“, fragte Feuchert. „Die überlebende Welt wird kaum eine plastische Vorstellung haben vom Leben und Sterben in Litzmannstadt-Ghetto. Schon jetzt hört man immer wieder die dumpfe Frage: Wird je ein Mensch der Nachwelt sagen können, wie wir hier gelebt haben und gestorben sind?“ (10), notiert Singer am 27. Juli 1942. 

Die Chronik soll bis 2006 komplett herausgegeben werden.


Eine Veranstaltung des Bildungswerk Stanislaw Hantz. Aktuelle Veranstaltungen und Bildungsreisen siehe auch www.bildungswerk-ks.de/.

Weitere Informationen über die Arbeitsstelle Holocaustliteratur siehe http://www.holocaustliteratur.de/.

Literatur:
*Oskar Singer: "Im Eilschritt durch den Gettotag". Reportagen und Essays aus dem Getto Lodz, 1942-1944. Berlin: Philo 2002. (herausgegeben von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke, Julian Baranowski, Krystyna Radziszewska, Krzysztof Wozniak)
* Loewy, Hanno; Schoenberner, Gerhard (Hg.): Unser einziger Weg ist Arbeit [Unzer eyntsiger veg iz arbayt]: Das Ghetto in Lodz 1940 – 1944: eine Ausstellung des Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Wien: Löcker, 1990.

Literaturangaben:

(1)  Singer, Oskar: Im Eilschritt durch den Ghettoalltag, Berlin/Wien 2002, 77
(2)  Ebenda, 78
(3)  Ebenda, 80
(4)  Ebenda, 137
(5)  Loewy, Hanno; Schoenberner, Gerhard: Unser einziger Weg ist Arbeit,  Wien 1990, 169
(6)  Singer, Oskar: Im Eilschritt durch den Ghettoalltag, Berlin/Wien 2002, 45
(7)  Ebenda, 47
(8)  Ebenda, 157
(9)  Feuchert, Sascha, in: ebenda, 30
(10) Singer, Oskar: „Im Eilschritt durch den Ghettoalltag“, Berlin/Wien 2002, 81

 

gs / tacheles-reden.de / 2004-07-13